Nr. 18

Die Gleichheit

der Sozialdemokratie das bedrohte Werk zu retten. Man bot ihr die Ermäßigung der Pluralstimmen auf eine an. Aber die Sozial­demokratie blieb fest und setzte schließlich das gleiche Wahlrecht durch. Damit war freilich noch lange nicht erfüllt, was die Sozial­demokratie von der Vorlage zu fordern hatte. Sie setzt den Kaiser als Landesherrn ein, während die Sozialdemokratie die republi­tanische Verfassung fordert, sie schafft eine Erste Kammer als Bremsvorrichtung und gibt ihr eine höchst rückständige Zusammen­setzung, unter anderem ernennt der Kaiser einen großen Teil der Mitglieder. Den Frauen bleibt das Wahlrecht vorenthalten und die Arbeiterklasse wird im besonderen durch die Bestimmung geschädigt, daß dreijähriger Wohnsitz im Lande und einjähriger in der Gemeinde Bedingung für die Ausübung des Wahlrechts ist. Angesichts alles dessen ist der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion die endgültige Stellung zur Gesamtvorlage sehr schwer gefallen. Bei der Entscheidung in der dritten Lesung haben denn auch sechs Genossen das Ja nicht ausgesprochen, sondern sind der Abstimmung ferngeblieben. Die Mehrheit der Fraktion aber hat die Vorlage angenommen. Ihr schien, trotz aller Bedenken und aller Fehler der Vorlage, als ent­scheidend die Durchsetzung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts, das, abgesehen von der Wohnklausel, vor dem Reichstagswahlrecht noch Sonntagswahlen und genaue Vorschriften über die Beschaffenheit der Wahlurnen zwecks Sicherung des Wahl­geheimnisses voraus hat. Und zweifellos ist die Gestaltung des Wahlrechts für das Proletariat wichtiger als die meisten Ver­fassungsbestimmungen. Es gibt der Sozialdemokratie eines der besten Mittel, die Bevölkerung politisch aufzurütteln und die Arbeiterklasse zu schulen, mit dem Bewußtsein ihrer Aufgabe und ihres Gegen­satzes zu den anderen Klassen der Bevölkerung zu erfüllen. Diese die Arbeiterklasse stärkende, die politische Entwicklung vorwärts treibende Wirkung macht das allgemeine gleiche Wahlrecht so wichtig, und darum ist der Erfolg in der elsaß  - lothringischen Ver­faffungsvorlage immerhin bedeutsam trotz der mannigfachen Ein­schränkungen, die zu machen sind. Schließlich wird aber bei der Entscheidung der Fraktionsmehrheit die Erwägung mitgespielt haben, daß die Durchsetzung des allgemeinen gleichen Wahlrechts im Reichs­lande ein Schlag gegen die preußischen Junker ist, daß dieser Fort­schritt dem preußischen Wahlrechtstampf neue Anstöße geben und die Position der preußischen Regierung schwächen muß. Ein Reichs­Kanzler, der das gleiche Wahlrecht für die Reichslande schluckte, kann feinen Eindruck mehr machen, wenn er als preußischer Minister­präsident dieses selbe Wahlrecht schlecht macht. Und das ist's, was auch den erbitterten Widerstand der Konservativen erklärt. Der Fortschritt im Reichslande bedroht die Reaktion in Preußen und ganz Deutschland  .

Ganz falsch aber ist es, um dieses einen Erfolges willen eine Wendung in der deutschen   Politik zu erwarten, von einem Sieg der Demokratie und einer entscheidenden Niederlage der Reaktion zu reden und vom Beginn einer Ära freiheitlicher Reformen zu träumen. Der Fall Elsaß- Lothringen   ist durchaus ein Ausnahme­fall, die Regierung befand sich in einer ganz besonderen Zwangs­lage. Ebenso mußten die bürgerlichen Parteien wünschen, die Reichs­lande endlich innerlich Deutschland   anzugliedern, indem man den Elsaß  - Lothringern eine Verfassung gibt, die ihnen das Gefühl der Gleichberechtigung im Reiche gibt, ihnen die Empfindung nimmt, daß sie als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Wo man die Gefahr des nationalen Abfalls nicht fürchtet, wo es sich nicht um die Sicherung der wichtigen Grenzlande handelt, da pfeisen die herrschenden Klassen auf die Gefühle großer Teile der Bevölkerung, da verlassen sie sich auf dte verschiedenen Machtmittel, durch die man die Beherrschten niederhält. Der Widerstand der Junker und Schlotbarone gegen das gleiche Wahlrecht in Preußen wird nun­mehr erst recht stark einsetzen.

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Und ebenso im Reich. Die politische Situation und Partei­gruppierung wird nicht durch den Ausgang der elsaẞ  - lothringischen Verfassungsreform, sondern durch das Ergebnis des Kampfes um die Reichsversicherungsordnung gekennzeichnet. Die dritte Lesung hat das Werk der zweiten vollendet nach einer Beratung, die keine Beratung war, ist die empörende Entrechtung der Arbeiter­schaft zustande gekommen, find die erheblichen Verschlechterungen Gesetz geworden, die durch die elenden Bettelrenten für Hinter­bliebene nicht entfernt aufgewogen werden. Die ganze Größe des Unheils wird sich erst in der nächsten Zeit übersehen lassen. In­zwischen schreiten die herrschenden Parteien im Reichstag   weiter auf dem eingeschlagenen Wege, dessen Ziel eine Zuchthausvorlage ist. In der Petitionskommission des Reichstags wurde eine Unter­nehmerpetition, die für das in Vorbereitung befindliche neue Straf­gesetzbuch Verschärfung der Strafen gegen Streitfünder fordert, der Regierung als Material überwiesen auf Antrag eines Zentrums­

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abgeordneten abgeordneten 1899 half das Zentrum noch die Zuchthausvorlage beseitigen! Das zeigt den deutschen   Proletariern, was die Uhr ge­H. B. schlagen hat!

Gewerkschaftliche Rundschau.

Die soeben veröffentlichte Statistik über die Gewerkschafts­fartelle im Jahre 1910 fann als Gradmesser der Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung im vergangenen Jahre dienen. Vor allem läßt sich auf Grund dieser Veröffentlichung mit Sicherheit annehmen, daß die Zentralverbände am Ende des Jahres 1910 die Zahl von zwei Millionen Mitglieder erreicht hatten. Seit zehn Jahren wird die Statistik der Gewerkschaftskartelle geführt und sie veranschaulicht die kraftvolle Entfaltung der deutschen Gewerk­schaften in diesem Zeitraum. Die Kartelle vermehrten sich in dem Jahrzehnt um 321, die Zahl der den Kartellen angeschlossenen lofalen Gewerkschaftsorganisationen stieg um 4888 und die ihrer Mitglieder um 1474000. Am Schlusse des Berichtsjahres bestanden 684 Kartelle, 30 mehr als im Vorjahr. Den 656 Kartellen, die sich an der Statistik beteiligten, sind 8883 Gewerkschaften mit 1892752 Mitgliedern angeschlossen. 13 Kartelle umschlossen je über 25000 Mitglieder. Die umfangreichen wirtschaftlichen Kämpfe und die etwas gehobene Wirtschaftslage des vergangenen Jahres boten den Kartellen Gelegenheit und Möglichkeit, eine wirksame gewerkschaft­liche Werbearbeit zu entfalten. 2500 allgemeine Versammlungen und 1248 Veranstaltungen für einzelne Berufe dienten der Agitation. Eigene Versammlungsräume hatten im Berichtsjahre 57 Kartelle ( 1909: 48). Die Zahl der lokalen Arbeiterinnenagitations­kommissionen ist zwar von 29 auf 25 zurückgegangen, dagegen hat sich die Zahl der weiblichen gewerkschaftlichen Ver= trauenspersonen bedeutend vermehrt, und zwar von 48 auf 80. Zur Überwachung der Arbeiterschutzbestimmungen bestanden in 139 Orten Beschwerdekommissionen, die den Verkehr mit der Gewerbeinspektion vermittelten, in 228 Orten Bauarbeiterschutz= kommissionen, außerdem gab es in 48 Orten Kommissionen zur Bekämpfung des Kost- und Logiszwanges beim Unter­nehmer. Eine erfreuliche Erscheinung ist es, daß sich die Kartelle die Förderung des Bildungswesens in steigendem Maße an­gelegen sein lassen. 496 Kartelle unterhielten gemeinsame Biblio­theken( 1909: 464), und 71 haben Lesezimmer eingerichtet( 1909: 54). Bildungsausschüsse bestehen in 292 Orten( 1909: 272). Die Zahl der Jugendkommissionen beträgt 293( 1909: 284). Gewerkschaftshäuser sind in 53 Orten vorhanden, davon 38 auf eigenem Grund und Boden, in 18 Orten haben die Gewerk­schaften Räume gemietet oder gepachtet, die dem gleichen Zweck dienen. Herbergen in eigenem Betrieb besitzen 28 Kartelle. Ar­beitersekretariate, die von Kartellen unterhalten werden, be­stehen an 96 Orten, außerdem sind noch von 203 Rartellen Rechts­auskunftsstellen eingerichtet worden. Die Gesamteinnahme der Kartelle betrug 1787000 Mt., die Ausgaben 1700000 Mt.; für die ausgesperrten Bauarbeiter wurden rund 800 000 Mt. gesammelt.- Diese Tatsachen geben das Bild eines regen Lebens der Kartelle, die bestimmt sind, die Kräfte der Gewerkschaften örtlich zu gemein­samer Tätigkeit zusammenzufassen.

Von den vielen Lohnbewegungen im Bädergewerbe bean­spruchen die in Hamburg   und Berlin   allgemeines Interesse. In Hamburg   setzten die Gehilfen durch kurzen Streit die Anerkennung ihrer Forderungen durch. In Berlin   ist die Bewegung noch in vollem Gange. Langwierige Verhandlungen vor dem Einigungsamt des Gewerbegerichts führten zu keinem Vergleich. Das Einigungs­amt fällte einen Schiedsspruch, dem die Gehilfen nach einigem Widerstreben zustimmten. Auch die freie Vereinigung der Bäcker­meister erkannte den Schiedsspruch an, dagegen lehnten ihn die von scharfmacherischem Geiste erfüllten Innungen ab. Daraufhin sind die Gehilfen entschlossen in den Streit getreten. Diese Be­wegung umfaßt über 3000 Bäckereien mit etwa 7000 Gehilfen. In 33 Volksversammlungen wird die arbeitende Bevölkerung Berlins  und der Vororte Stellung in diesem Kampfe nehmen, um ihn durch Boykottbeschluß wirksam zu unterstützen. Und wenn die Berliner  Arbeiterfrauen den Boykott so mustergültig durchführen wie ihre Schwestern in Hamburg  , so muß auch in Berlin   den Gehilfen der Sieg binnen furzem zufallen.

Die Streits im Hamburger Holzgewerbe und im mittel­deutschen Braunkohlenbergbau dauern unverändert fort. Ein Schiedsspruch des Hamburger Einigungsamtes war für die Holz­arbeiter unannehmbar. Und die Vermittlung der Bergbehörde im Braunkohlenarbeiterstreit wurde von den Unternehmerproßen ab= gelehnt; sie hoffen die Streifenden unterzukriegen durch Hilfe der überaus schneidig vorgehenden Polizisten und Gendarmen, wie der