Nr. 18

Die Gleichheit

In einer überfüllten Versammlung der Eintassierer, Agenten, Mechaniker und Lagerarbeiter der Singer Co. in Berlin   wurde der Beschluß gefaßt, durch einen Appell an die gesamte deutsche Arbeiterschaft es den Partei- und Gewerkschaftsgenossen, und namentlich deren Frauen und Töchter, zur Pflicht zu machen, Fabrikate der Einger Co. nur von den organisierten An­gestellten" der Einger Co. zu kaufen und auch bei dem Abholen der Ratenzahlungen fich nur von organisierten Einkassierern bedienen zu lassen.

In Berlin   besteht eine von der Firma großgezogene Gelbe Vereinigung der Singerangestellten", man lasse sich also nicht täuschen.

Vom Deutschen   Transportarbeiterverband, welchem die Eintassierer angehören, und dem Zentralverband der Hand­lungsgehilfen und Gehilfinnen, dem die Agenten an geschlossen sind, ist zweds Kontrolle der Zugehörigkeit zur modernen Organisation für das Jahr 1911 eine rosa Legitimationstarte herausgegeben worden. Die Mechaniker haben als Ausweis das Mitgliedsbuch des Deutschen   Metallarbeiterverbandes vorzulegen. Wir richten an die gesamte Arbeiterschaft das höfliche Ersuchen, uns bei dem Kampfe gegen die Millionenfirma Singer Co., Nähmaschinenfabrik, durch scharfe Ausübung der Kon trolle zu unterstützen. Hoch die Solidarität!

Zentralverband der Handlungsgehilfen und gehilfinnen. J. A.: Otto Urban  , Berlin  , Neue Königstr. 36. Deutscher   Transportarbeiterverband, Branche der Einkassierer und

Kassenboten.

J. A.: Friedrich Luckow, Berlin  , Fehrbellinerstr. 3. Deutscher   Transportarbeiterverband. Bezirk Groß- Berlin. Eeltion I. J. A.: Der Sektionsleiter: Fritz Wappler.

Wir erinnern im Anschluß an diesen Aufruf an unsere frühere Veröffentlichung über die Arbeitsbedingungen in der Singerfabrik Wittenberge  . Sie rechtfertigt vollauf die eben gegebene Charakteri fierung und unterstreicht für die Genossinnen die Mahnung, eine selbstverständliche Pflicht der Solidarität zu üben.

Genossenschaftliche Rundschau.

Vor einigen Wochen waren es fünfzig Jahre, daß der Gör liger Wareneinkaufsverein gegründet wurde, ein in wei­teren Kreisen bekanntes Unternehmen, das in einer Anzahl großer und mittlerer Städte Mitteldeutschlands  , besonders in Eachsen und Schlesien  , viele Verkaufsstellen unterhält. Ursprünglich eine rein proletarische Genossenschaft, gleich den Arbeiterkonsumvereinen, ist das Unternehmen heute eine gewöhnliche Aktiengesellschaft, die sich von anderen privaten Unternehmungen nicht wesentlich unterscheidet, seit die Genossenschaft von bürgerlichen Elementen in falsches Fahr waffer gelenkt und zu einem fapitalistischen Betrieb umgestaltet worden ist. Diese Entwicklung ist ganz lehrreich, und es sei daher gestattet, einiges darüber mitzuteilen. Die tatsächlichen Angaben entnehmen wir einem zum fünfzigjährigen Geschäftsjubiläum" im ,, Görlitzer Anzeiger" erschienenen Bericht. Angeregt durch einen Vortrag über die Pioniere von Rochdale  " gründeten am 6. April 1861 in der Wohnung des Tuchmachers Jurisch in Görlig elf Ar. beiter einen Verein, um durch regelmäßige wöchentliche Einzahlung von je einem Silbergroschen in den Besitz eines kleinen Kapitals zu gelangen und dann gemeinsam Waren dafür einzukaufen. Nachdem bis 12. Mai 1861 die Mitgliederzahl auf 15 gestiegen und ein Ka­pital von 3 Reichstalern angesammelt war, wurde der erste Ein­fauf gewagt: ein Zehnteltistchen Zigarren, das unter die Mitglieder verteilt wurde und einen überschuß von 3 Silbergroschen 4 Pfennig erbrachte. Am Schlusse des ersten Quartals betrug das Vereins­vermögen 9 Taler 7 Silbergrofchen 11 Pfennig, und es wurde der zweite Einlauf gemacht: 25000 Streichhölzer. Am Schlusse des zweiten Quartals zählte der Verein 32 Mitglieder, und es wurden nun auch Kohlen eingekauft, denen bald Seife, Zucker und Brot folgten. Es meldeten sich neue Mitglieder, Ende 1862 betrug die Mitgliederzahl bereits 149, und daher mußte der Warenvertrieb, der bisher nach Feierabend in der Wohnung von Jurisch statt­gefunden hatte, in ein besonderes Lokal verlegt und einem Ver­täufer übertragen werden. So wurde denn ein kleiner dunkler Raum gemietet, in dem der im selben Hause wohnende Tischlermeister Richter an bestimmten Stunden des Tages den Verkauf gegen eine geringe Vergütung übernahm. Obgleich in den ersten Geschäfts­jahren sämtliche Waren von Kaufleuten und Händlern bezogen wurden und der Betrieb ohne alle kaufmännische Technik geführt wurde, konnte doch schon Ende 1862 jedem Mitglied in seinem Einkaufsbuch eine Dividende von 4 Prozent gutgeschrieben werden.

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Sollte sich aber das Unternehmen gedeihlich weiterentwickeln, fo mußte es den Rahmen einer festen Organisation erhalten. Die Bez arbeitung des Vereinsstatuts wurde am 1. April 1863 zu Ende ge­führt; von diesem Tage an datieren die ersten Sagungen des Wareneinkaufsvereins, in welchen die genossenschaftlichen Prinzipien der Solidarhaft, der Barzahlung beim Einkauf und Verkauf der Waren, der Bildung eines verzinslichen Geschäftsanteils für jedes Mitglied und der Verwendung des Reingewinns als Dividende für die Mitglieder zum Ausdruck kamen.

Bis dahin nahm der Verein also eine ähnliche Entwicklung wie die ersten von Arbeitern gegründeten Konsumvereine. Mit Energie und viel gutem Willen, aber ohne jede theoretische und praktische genossenschaftliche Schulung brachten die Mitglieder unter großen Mühen das Unternehmen langsam vorwärts. Während aber die Arbeiterkonsumvereine ihrem Wesen troz aller Widerstände treu blieben, um später zu großer Blüte zu gelangen und schließlich eine bedeutsame Konsumentenorganisation zu entwickeln, schwenkte der Görlitzer   Wareneinlaufsverein später in gewöhnliche tapitalistische Bahnen. Schon seit 1866 machten sich bürgerlich- kapitalistische Bes strebungen in dem Verein bemerkbar, die namentlich der National­öfonom Dr. Rickert aus Danzig   förderte. Immerhin stellte sich der Verein im Jahre 1867 unter das Genossenschaftsgesetz. Bis Ende 1869 wurden nur an Mitglieder Waren abgegeben. Nachdem aber auf Betreiben der Konkurrenz der Verein von 1870 ab auch zur Gewerbesteuer herangezogen wurde, faßte er den Entschluß, nun auch ein wirklich freies Gewerbe zu betreiben, und betrat das Ge­biet der freien Konkurrenz, das heißt er führte den Verkauf an jedermann ein. Das war unter den obwaltenden Umständen der erste Schritt zur Abkehr von der eigentlichen genossenschaftlichen Betätigung. Am 1. Oktober 1889 trat das neue Genossenschafts­gesetz in Kraft, laut welchem Waren nur noch an die Vereinsmit glieder verkauft werden durften. Der Wareneinkaufsverein, dessen großer Grund- und Gebäudebesitz mit allen seinen Einrichtungen auf den Großverkehr berechnet war, hätte bedeutende Verluste er­litten, wenn er den Verkehr auf seine Mitglieder hätte beschränken müssen. Es blieb ihm daher nichts weiter übrig, als die Form der Genossenschaft aufzugeben und die der Altiengesellschaft anzu­nehmen." So heißt es in dem Bericht. Das ist aber nur eine Ausrede. Denn zahlreiche Genossenschaften befanden sich in ähn licher oder gleicher Lage, ohne die Flinte ins Korn zu werfen. Und in der Folge hat sich gezeigt, daß das Verbot des Verkaufs an Nichtmitglieder die Genossenschaften wohl zunächst etwas schädigen, in ihrer Entwicklung aber um so weniger aufhalten konnte, als auf der anderen Seite der scheinbare geschäftliche Nachteil den Ge­Der nossenschaften doch auch organisatorische Vorteile brachte. letzte Jahresumsatz des Görlitzer   Vereins betrug über 10 Millionen Mart. Der Verein hat eine große Bäckerei und ein umfangreiches Weinlager. Er vermittelt in der Hauptsache die gleichen Waren wie die Konsumvereine, ist aber mit diesen in seiner inneren Dr ganisation nicht zu vergleichen. Auch sind die Lohn- und Arbeits­verhältnisse in seinen Betrieben recht rückständig. Das ganze Unter­nehmen wird eben nach rein fapitalistischen Grundfäßen geleitet. Es besitzt über 60 Verkaufsstellen. Die Käufer der Waren haben nicht den mindesten Einfluß auf den Verein. Sie erhalten 6 Pro­zent Umfaßvergütung, im übrigen tun die Aktionäre, was sie wollen. Die Arbeiter haben also feine Veranlassung, dieses Unternehmen H. F. zu unterstützen.

Notizenteil.

Dienstbotenfrage.

Die Hetze der Braunschweiger   Polizei gegen die Dienst­botenorganisation hat wieder einmal der hohen Löblichen eine Schlappe gebracht. Wie wir in Nr. 9 der Gleichheit" berichteten, hatte das herzogliche Schöffengericht das polizeiliche Strafmandat gegen Genoffin Topfstedt   als Vorsitzende des Dienstbotenvereins wegen Übertretung des Reichsvereinsgesetzes bestätigt. Eine als öffentliche Gewerkschaftsversammlung einberufene Versammlung des Dienstbotenvereins sollte politischer Natur gewesen sein. Natür­lich wurde gegen das Urteil des Schöffengerichts Berufung ein­gelegt. Vor der ersten Straffammer des Landgerichts Braunschweig  verfocht nunmehr Genosse Rechtsanwalt Dr. Jasper diese Be­rufung und legte in überzeugender Weise die Unhaltbarkeit des Urteils dar. Er zeigte, wie das Schöffengericht durch aus dem Zu­sammenhang gerissene Worte des Referenten, wie modernisieren", ,, meistern" usw., gewaltfam die politische Natur der Rede hergeleitet habe. Der Staatsanwalt sah ein, daß die fortschwimmenden Felle nicht mehr zu retten seien, und beantragte kostenlose Freisprechung