Nr. 19

Die Gleichheit

Wenn wir uns trotzdem an dieser Stelle mit dem Verband beschäftigen, so geschieht dies, um unsere Leser auf seine Be­strebungen aufmerksam zu machen und zu zeigen, wie weltfremd und bedeutungslos für die Arbeiterinnen solche gutgemeinte Ver suche bürgerlicher Kreise sind, den Pelz zu waschen, ohne ihn naß zu machen. Die kritische Betrachtung der Verbandsziele weist am wirksamsten den mehrfach erhobenen Vorwurf zurück, daß die freien Gewerkschaften für ihre weiblichen Mitglieder nicht genug tun. Bestrebungen wie die des Verbandes für hand­werksmäßige und fachgewerbliche Ausbildung der Frau" werden sie allerdings nie unterstützen. Das Warum haben wir ein­gehend dargelegt. Aus demselben Grunde lehnen auch die sozia­ listischen   Frauen es entschieden ab, sich, wie Fräulein Lisch­newska hofft, an dem sozialreformlerischen Kinderspiel zu be­teiligen. Die Besserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen und Hand in Hand damit auch die höhere soziale Wertung der ganzen Klasse des Proletariats herbeizu­führen, ist Aufgabe der modernen klassenbewußten Arbeiter­bewegung. Und diese wird ihre Mission zu erfüllen wissen.

Vom italienischen Gewerkschaftskongreß.

Keine Rede ist auf dem soeben in Padua   abgehaltenen Kongreß der italienischen Gewerkschaften so feierlich aufgenom­men worden wie die unserer Genossin Maria Goia über die proletarische Frauenorganisation und das allgemeine Wahl­recht, keine Resolution ist so einstimmig zur Annahme gelangt, wie die durch die ausgezeichnete Rede begründete Resolution dazu. Es ist das die Resolution, die Anna Kulischoff dem Mailänder   Parteitag vorgelegt haben würde, wenn die Behand­lung der Wahlrechtsagitation im allgemeinen und die des Frauen­wahlrechts im besonderen nicht bis zum nächsten Kongreß der Sozialisten vertagt worden wäre. Genossin Goias   Rede war ganz vom Geiste des marxistischen, des wissenschaftlichen So­zialismus durchdrungen. Das ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert.

In Italien   gibt es infolge der noch schwach entwickelten fapitalistischen Industrie mehr eine sozialistische Arbeiter bewegung und-partei als eine fozialdemokratische, so daß sich die wenigen Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus zu einer besonderen Gruppe im Gegensatz zur Parteimehrheit zusammengeschlossen haben. Die Parteimehrheit betrachtet den wissenschaftlichen Sozialismus, der sich konsequent auf den hi­storischen Materialismus stützt, als etwas vom Reformismus  " überwundenes, und es fällt im allgemeinen fast niemand ein, den Sozialismus als eine Weltanschauung auszufassen. Genossin Goia gehört nicht zu denen, die dank tiefer theoretischer Stu­dien den Weg zur sozialdemokratischen Auffassung der Frauen frage gefunden haben, aus ihr spricht vielmehr die Erfahrung ciner gewissenhaften Organisatorin. Deshalb find ihre Aus­führungen von großer symptomatischer Bedeutung und wirken in der unklaren Atmosphäre der italienischen Arbeiterbewegung erfrischend. Endlich beginnt man auch hier die Frauenfrage nicht sentimental zu betrachten und zu behandeln; endlich wird vom Frauenwahlrecht nicht mehr als von einem natürlichen" Rechte gesprochen, sondern als von einem sozialen Rechte, das sich aus der Betätigung der Frauen, zumal der Proletarie rinnen, im gesellschaftlichen Produktionsprozeß ergibt. Endlich werden die Genoffen aufgefordert, sich der Organisation des weiblichen Proletariats anzunehmen, nicht aus allgemeinen Ge­fühls- und Gerechtigkeitsgründen, sondern weil es die geschicht liche Einsicht gebietet, weil es die Bedürfnisse des proletarischen Klassenkampfes fordern. Die Bedeutung der Proletarierin als Arbeitskraft, als gewerkschaftliche und politische Klassenkämpferin wird gewertet. Bis jetzt ist dieser Standpunkt in Italien   nur von Genossin Kulischoff und von der Unterzeichneten vertreten worden. Taß sich nun auch geborene italienische Genossinnen auf den Boden dieser Auffassung stellen, ist beachtenswert.

Genossin Goia hob unter anderem auch hervor, wie not wendig es ist, durch Aufklärung der weiblichen werftätigen Be

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völkerung dem klerikalen und christlich- demokratischen Einfluß entgegenzuwirken. Sie bedauerte, daß der allgemeine Bericht des Gewertschaftssekretärs feine statistischen Angaben über die Entwicklung der Frauenarbeit und die Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen in den verschiedenen Erwerbsgebieten enthielt. Sie fügte hinzu, daß dieser Mangel an statistischen Angaben dadurch seine Erklärung findet, daß es so gut wie vollständig an der Organisierung der Proletarierinnen fehlt, nur die Land­arbeiterinnen und die Textilarbeiterinnen sind einigermaßen or­ganisiert.

Die erwähnte Resolution hat folgenden Wortlaut:

,, Angesichts der stets wachsenden Zahl der Frauen, die in der Industrie, der Landwirtschaft, im Handel und in öffentlichen Üm­tern erwerbstätig sind; angesichts der niedrigen Wertung der weib lichen Arbeitskraft, eine Wertung, die zu den wichtigsten Ursachen der niedrigen Löhne des männlichen Proletariats gehört; angesichts der Tatsache, daß ohne die Beteiligung der Millionen erwerbe, tätiger Frauen am Klaffenkampf der Widerstand des männlichen organisierten Proletariats gegen die kapitalistische Ausbeutung durch die Konkurrenz der unorganisierten weiblichen Arbeitsträfte gelähmt wird: erkennt es die Arbeiterfonföderation( Gewerkschaftsbund) als eine hohe Pflicht, die Arbeiterinnen zu organisieren, entweder in

gemischten oder in besonderen Frauenorganisationen, je nachdem es sich um Induſtriezweige handelt, wo Arbeiter und Arbeite­rinnen gemeinschaftlich oder Arbeiterinnen allein erwerbstätig sind. In Erwägung, daß die Großindustrie das soziale Leben um­gestaltet, die Frau dem häuslichen Herde entreißt und zur produk­tiven Arbeiterin macht, deren Tätigkeitsfeld aus dem Heime in die Fabrik verlegt wird; in Grwägung, daß diesem Wandel entsprechend der Frau neue Rechte und neue Pflichten zufallen, die den Rechten und Pflichten gleich sind, die der Klassenkampf dem männlichen Proletariat zuweist; in Erwägung, daß der Klassenkampf zur Ors ganisation des Proletariats als politische Klassenpartei führt, zum Ringen um politische und wirtschaftliche Reformen, die den Weg für die Abschaffung der kapitalistischen   Produktionsweise und die Befreiung der Arbeiterklasse ebnen heljen: betont die Arbeiterkonföde­ration, daß auch die Arbeiterinnen, deren Rechte den Rechten der Arbeiter gleich sind, die Pflicht haben, an den politischen Kämpfen teilzunehmen, anerkennt sie den Anspruch der Frau auf das poli­tische und kommunale Wahlrecht und verpflichtet sich, das Frauen­wahlrecht ebenso energisch wie das Männerwahlrecht zu fordern und die Arbeiterinnen die besonderen Opfer des Kapitalismus

anzuspornen zum Kampfe an der Seite des männlichen Prole­tariats für die gemeinsame Verteidigung ihres Lebens, ihrer Rechte, ihrer Nachkommenschaft!"

Die Annahme dieser Resolution seitens der organisierten Arbeiter scheint selbstverständlich. Gemessen an den winzigen Ansätzen zur Organisierung des weiblichen Proletariats in Italien   und der vorliegenden großen Aufgabe darf zunächst auch nur ein bescheidener praktischer Erfolg erwartet werden. Nichtsdestoweniger muß die Entscheidung des Kongresses von allen klassenbewußten Arbeitern und Arbeiterinnen freudig be­grüßt werden. Handelt es sich doch um eine prinzipielle, flare Stellungnahme, die zwei drohenden Gefahren entgegenwirft. Der Gefahr nämlich, daß die kämpfenden Proletarier das Frauen­wahlrecht für nicht notwendig" halten, und der anderen, daß sich die proletarische Frauenbewegung irgendwie mit der bürger­lichen Frauenrechtelei vermengt, wenn auch nur zeitweilig und in einzelnen Fragen, wie der des Wahlrechts. Wie sich die " Damen  " darauf verstehen, die proletarische Frauenbewegung auszunüßen, hat sich erst in diesen Tagen in Rom   gezeigt. Seit einigen Wochen gelingt es dort einigen Genofsinnen, die Schneide rinnen und die sogenannten Baristinnen( die Angestellten der Bar, das heißt der Caféstehhallen, die in Italien   sehr ver­breitet sind) zu organisieren. Es handelt sich bei den letzteren gewiß nicht um eine Schicht des Proletariats, auf deren aus­dauernde Treue zur Organisation man hoffen kann, vielmehr um eine plöglich ausgebrochene Bewegung, die zu einem kleinen erfolgreichen Lohnkampf geführt hat. In Rom   jedoch, wo es keine proletarische Frauenorganisation gibt, erregt jedoch auch diese Bewegung allgemeines Aufsehen. Das veranlaßte die Frauenrechtlerinnen der Stadt, die sich bis dahin nie um die Existenz oder die Rechte der proletarischen Frauen gefümmert hatten, der neugegründeten Organisation vorzuschlagen, sich mit