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Die Gleichheit

Unterdes stieg und stieg das Blutmeer, und 1911 beschließt der Entrechtungsblock: Unfallverhütungsvorschriften für die Land­wirtschaft darf das Reichsversicherungsamt nicht erlassen. Das ist der Fortschritt der kapitalistischen Sozialreform"!

Luise Ziez.

Kinderarbeit und Kinderschuh im Großherzogtum Hessen.

Eine schwere Anklage gegen jede Art erwerbstätiger Kinder­arbeit erheben die Tatsachen, welche die Jahresberichte der hef­fischen Gewerbeinspektion für 1909 über die Durchführung des Kinderschutzgesetzes enthalten. Sie erweisen die ganze heuchle­rische Hohlheit des Geredes von der erzieherischen Wirkung der Kinderarbeit, solange diese ausgebeutete Arbeit ist. Die Be­richte lassen feinen Zweifel über die nachteiligen Folgen, die der Erwerbstätigkeit der Kinder für die leibliche und geistige Entwicklung auf dem Fuße folgen.

Der Schaden für Gesundheit, Bildung und Sittlichkeit des heranwachsenden Geschlechts bleibt auch dann nicht aus, wenn Eltern ihre eigenen Kinder als Erwerbstätige ausnutzen, wie dies das Gesetz leider erlaubt. So schreibt ein Lehrer, dessen Schülerin, die Tochter eines Bäckermeisters, an Werktagen von 6 bis 7% Uhr früh, nachmittags von 3% bis 7 Uhr und an Sonn­tagen von 7 bis 8 Uhr früh mit Austragen von Backwaren be­schäftigt wird: Das Kind fommt fast täglich erst nach Beginn des Unterrichts zur Schule. Die Hausaufgaben werden sehr mangelhaft, oft gar nicht ausgeführt. Unaufmerksamkeit und Unruhe während des Unterrichts find täglich, ja stündlich zu rügen. Die angeführten Mängel der Schülerin sind zweifellos die Folge von allzu großen, lang andauernden förperlichen An­strengungen, wie sie aus dem Schleppen von schweren Körben bei schwächlichem Körper sich ergeben." Von einem Mädchen, das für den Vater Zeitungen austragen muß, heißt es im Ve richt: Die Schülerin flagt über Kopfweh und Schwindel, sie hatte auch einmal beim Beginn der ersten Unterrichtsstunde einen Ohnmachtsanfall. Diese Erscheinung ist eine Folge von Unterernährung." Ein Schüler, der in die Familie eines Bäcker­meisters zur Erziehung" gegeben ist, trägt für diesen Back­waren aus, und zwar von 5 bis 7½½ Uhr früh, von 11% bis 12 Uhr mittags und von 4 bis 8 Uhr abends, im ganzen also 7 Stunden im Tage. Die Wirkung dieser Arbeit schätzt der Lehrer wie folgt ein:" Der Schüler leistet in der Schule gar nichts, macht nie eine Schularbeit, fehlt wiederholt im Unterricht, weil er geschäftlich arbeiten muß; sein Anzug ist ver­wahrlost." Ein Lehrer bemerkt zu dem Namen einer neun jährigen Schülerin, die den Eltern beim Zeitungsaustragen hilft: ft in letzter Zeit fauler geworden, deshalb sind die Leistungen minimal; auch hat die Schülerin beim Austragen wiederholt gestohlen." Von einer 14jährigen Schülerin, die für die Eltern Tabak rippt, wird gesagt: Kein gesundes Aussehen, Ungeziefer auf dem Kopfe, Leistungen gleich Null."

Das Bild, das diese trockenen Feststellungen von den Folgen der Erwerbsarbeit eigener Kinder zeichnen, ist düster genug. Seine erschreckenden Züge werden aber durch das übertroffen, was wir über die Verwendung fremder Kinder lesen. Zwei Geschwister, ein Knabe von 10, ein Mädchen von 12 Jahren, trugen vor dem Unterricht Backwaren aus. Der Lehrer machte über diese beiden folgende Eintragungen: Der Knabe leidet an Unterernährung, im Interesse der Gesundheit des Kindes und seiner Leistungen in der Schule wäre es gut, wenn die Arbeit unterbliebe." Das Mädchen wurde durch die Arbeit zur Lüge verleitet: Die Schülerin fehlte an einem Tage, angeblich wegen Krankheit, hatte aber am selbigen Morgen Wecken ausgetragen, ebenso wieder am folgenden Tage." Bei dem Namen eines 12jährigen Knaben, der morgens, mittags und abends je eine Stunde Backwaren austragen muß, heißt cs: Das Austragen am Vormittag geschieht nicht in der ge­sezlich vorgeschriebenen Zeit. Der Knabe ist besonders in den letzten Wochen, seit das Austragen begonnen hat, in seinen Leistungen gänzlich ungenügend."

Nr. 20

Der Bericht enthält noch eine große Anzahl Mitteilungen über die gesundheitschädliche und demoralisierende Wirkung der heutigen Kinderarbeit. Aus ihnen geht hervor, daß vor allem das Kegelaufsetzen und das Austragen von Backwaren und Zeitungen durch Kinder ein Ende haben müßte. Das Eingreifen des Gesetzes brauchte zu diesem Zwecke gar nicht abgewartet werden. Das Publikum selbst könnte dem verderblichen Unfug entgegentreten. Jeder, der Menschenfreund sein will, jeder, der für die Proletarierkinder nur ein klein wenig Mitgefühl besitzt, müßte die Annahme von Backwaren verweigern, wenn sie ihm von Kindern gebracht werden. Jeder Kegelschieber sollte auf das gesunde Spiel verzichten, wenn er sieht, daß die Regel von Kindern aufgesetzt werden, deren Gesundheit des Körpers und der Seele durch die Arbeit und das Anhören der Unterhaltung dauernd Schaden nimmt.

Ein Elendskapitel für sich bildet die Kinderarbeit in der Heimindustrie. In einem Bezirk hatten nur sieben Kinder dem Lehrer angegeben, daß sie beim Abrippen der Tabakblätter be­hilflich sind. Der Berichterstatter veranstaltete jedoch eine Um­frage und ermittelte 98 tabatabstreifende Kinder in Heimarbeits­stätten. Die Ausdehnung der heimindustriellen Kinderarbeit hängt mit der stetigen Zunahme der Heimarbeit der Mütter zusammen, die ihrerseits eine Folge der Arbeitslosigkeit oder des unsicheren und ungenügenden Verdienstes der Männer ist in Verbindung mit der Lebensmittelverteuerung. Es ist eine Eri stenznotwendigkeit für die Familie, daß Frau und Kinder mit erwerben. Wahrlich, eine herrliche, gottgewollte Gesellschafts­ordnung, die den Vater arbeitslos macht und die sorgende Mutter, die schwachen Kinder in das Joch des Kapitals spannt. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so bitter traurig wäre! Die Kinder verdrängen als Schmutzfonkurrenten die Väter vom Arbeitsmarkt, damit der Kapitalist einen höheren Profit ein­sackt, damit dessen Kinder eine sonnige Kindheit, eine gesicherte Zukunft haben, ohne daß ihr Vater vielleicht auch nur den Finger bei der Arbeit trumm macht oder sein Hirn je anstrengt. Es ist nicht möglich, hier alle Schilderungen des Elends wieder­zugeben, das als Frucht von ausgebeuteter Kinderarbeit in den Berichten mit eindringendem sozialen Verständnis aufgezeigt worden ist. Es seien nur noch einige besonders bemerkenswerte Wahrnehmungen wiedergegeben, welche die Gewerbeaufsichts­beamten bei den Revisionen gemacht haben. In den Orten Seligenstadt  , Froschhausen  , Klein- Welzheim  , Mainflingen   und Zellhausen   wird noch immer eine große Zahl Kinder, und zwar ausschließlich Mädchen, in der Posamentenheimindustrie be schäftigt, wenn diese Tatsache auch nur zum Teil zugestanden wird. Zum großen Teil sind diese Kinder noch nicht 12 Jahre alt. Die Arbeit wird von den Eltern für große Geschäfte ( Posamentenfabriken) besorgt; die Kinder arbeiten also für Dritte. Sie müssen demnach, um mithelfen zu dürfen, wenig stens 12 Jahre alt sein. Von den Kindern über 12 Jahre wird wiederum eine Anzahl zuzeiten länger als täglich drei Stunden beschäftigt. Abends bei Licht, namentlich an den langen Winterabenden, wirkt diese Arbeit ganz entschieden schädlich auf die Augen der Kinder ein. Zu kontrollieren ist diese Kinder­beschäftigung in den Wohnungen der Heimarbeiterinnen, na mentlich in den Abend- und Nachtstunden, nicht. Beim Nahen eines Beamten werden die Kinder sofort weggeschickt oder versteckt.

Das Ausrippen von Tabak ist für Kinder an und für sich nicht als schwere Arbeit zu bezeichnen. Wohl aber ist diese Arbeit für Kinder ungesund, und die Behandlung des Tabaks in den Wohnungen zudem ist efelerregend. Vei den meisten Familien, welche in ihren Wohnungen Tabat ausrippen, wird im Winter die Küche als Arbeitsplatz benützt. Der Tabak wird zuvor nach der einen Seite des Tisches hin zusammengeschoben. Auf der dadurch frei werdenden kleinen Fläche wird dann gegessen. Die auf dem Tisch zurückbleibenden Speiserefte( Suppe, Kaffee, Krümel) werden oft nicht fauber entfernt, so daß der Tabat nicht selten mit diesen Stoffen in Berührung kommt. Außerdem lassen manche Heimarbeiterinnen es auch sonst an Sauberkeit fehlen. Dabei sitzen die Kinder ,, anstatt sich in frischer Lust zu tummeln, und müssen nach Möglichkeit helfen.