Nr. 20
Die Gleichheit
Die Wohnungsverhältnisse der Heimarbeiter sind zumeist sehr dürftig."
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Die Berichte äußern sich durchweg sehr anerkennend über die Mitwirkung der Lehrer bei der Durchführung des Kinderschutzgesetzes, dagegen geht aus ihnen hervor, daß die Ortspolizeibehörden, hauptsächlich in den Landgemeinden, bei den anfallenden Aufgaben versagen. So schreibt der Offenbacher Beamte: In den ländlichen Orten wird von den Ortspolizei behörden fast nichts zur Durchführung des Kinderschutzgesetzes getan." Jm Gießener Bezirk klagen die Ortspolizeibehörden bitter über die Schwierigkeit der Kontrolle der Kinderarbeit und die übergroße Zeitverschwendung, die sie ihnen koste, und die sehr oft in gar keinem Verhältnis zur Bedeutung der Verfehlung stehe. Man hat noch nie davon gehört, daß sich Po lizeibehörden über die Zeitvergeudung bei Überwachung sozial demokratischer Versammlungen bitter beklagen, die jedes polizeilichen Schutzes entbehren können und gern entbehren würden. Der Mißmut der unteren Polizeiorgane, bei Feststellung von Verstößen gegen das Kinderschutzgesetz mitzuwirken, hat hie und da seinen besonderen Grund. Sowohl im Wormser wie im Offenbacher Bezirk beschäftigten Polizeidiener Kinder mit Zeitungsaustragen, weshalb auch einige dieser Beamten in Strafe genommen wurden. Das Auge des Gesetzes wacht!"
Nach den tabellarischen Übersichten der Berichte waren von den 203636 Volksschulkindern des Großherzogtums Hessen 3735 gleich 1,83 Prozent als gewerblich tätig gemeldet. Unter den beschäftigten eigenen Kindern zählte man 396, die 6 bis 10 Jahre alt waren, 561 im Alter von 10 bis 12 Jahren und 1582 über 12 Jahre alte. Fremde Kinder wurden beschäftigt: im Alter von 6 bis 10 Jahren 97, von 10 bis 12 Jahren 199 und über 12 Jahre 900. Seit 1903 liegen amtliche Feststellungen vor, aus denen hervorgeht, daß die Zahl der beschäftigten Kinder in steter Abnahme begriffen ist. So ist sie in Darmstadt von 3,5 Prozent der gewerblich tätigen Voltsschüler auf 2,2 Prozent gesunken, in Offenbach von 3,9 Prozent auf 2,7 Prozent, in Gießen von 1,03 Prozent auf 0,8 Prozent, in Mainz von 4,3 Prozent auf 1,4 Prozent und in Worms von 5,8 Prozent auf 2 Prozent. Kenner der Verhältnisse behaupten dagegen, daß die Kinder ebenso zahlreich wie früher zur Erwerbsarbeit herangezogen werden, und daß lediglich die Zahl der Meldungen erwerbstätiger Kinder abgenommen hat, weil die Eltern bei ihrem schmalen Einkommen auf den Verdienst der Kinder nicht verzichten wollen. Was sich früher, weil nicht verboten, in aller Öffentlichkeit zeigte, das wird jetzt im Schutze der Nacht und hinter verschlossenen Türen geübt. Wird bei Revisionen verbotene oder nicht gemeldete Kinderbeschäftigung angetroffen, so lügen Kinder, Eltern und Arbeitgeber die Beamten an. Von den 3735 als erwerbstätig gemeldeten Kindern wurden mehr als ein Biertel, nämlich 996 oder 26,9 Prozent gegen das Gesetz beschäftigt. Die meisten Gesetzesverlegungen, und zwar 38 Prozent davon, entfallen auf die fromme Zentrumsdomäne Dieburg . Wegen Verstoßes gegen das Kinderschutzgesetz erfolgten Bestrafungen in Darmstadt 84( im Vorjahr 33), Offenbach 25( 21), Gießen 60, Mainz 51 und Worms 25. Der Darm städter Beamte beklagt, daß es nicht an Stimmen gefehlt hat und noch nicht fehlt, die eine Beschränkung oder ein Verbot der angeblich leichten Arbeit des Warenaustragens für über flüssig erklären. Mit welchem Recht der Gesetzgeber bei dem Verbot auch die Begleitumstände dieser Arbeit als gefahrdrohend ins Auge gefaßt hat, beweist ein schwerer Unfall. Ein zehnjähriger Knabe begab sich nach getaner Arbeit des Austragens von Backwaren am frühen Morgen in die mit mechanischem Betrieb ausgestattete Bäckerci, wahrscheinlich zur Abrechnung. Im spielerischen Drange machte er sich an einer Knetmaschine zu schaffen, geriet in die Knetflügel und wurde an zwei Fingern der rechten Hand so schwer verletzt, daß er in das Krankenhaus gebracht werden mußte.
über die Entlohnung der kindlichen Arbeiter finden wir in den Berichten aus Gießen und Mainz sehr beachtenswerte Ausführungen. In dem erstgenannten lesen wir:„ Die Lohnver hältnisse der Kinder haben sich gegen die Vorjahre nicht ver
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ändert. Bei 66 Kindern, die im fremden Dienst stehen, Hauptsächlich Botengängern, wurde ermittelt, daß 19 monatlich 2 bis 3 Mt., 19 monatlich 3 bis 5 Mf., 28 5 bis 10 Mr. verdienten ausschließlich der Trinkgelder. Ein stuhlsizflechtendes Kind kann bei einiger Geschicklichkeit und bei täglich zweistündiger ununterbrochener Beschäftigung etwa einen Sitz fertigstellen und damit wöchentlich 2 Mr. verdienen. In der Regel aber sind die Leistungen geringer." Jm Bezirk Mainz stellen sich die monatlichen Verdienste der Kinder beim Austragen von Waren und der sonstigen Botengänge auf 0,90 bis 6 Mt.; im Durchschnitt auf 3,10 Mt. Beim Zeitungsaustragen verdienen die Kinder durchschnittlich 3,50 Mt. im Monat, die einzelnen ermittelten Beträge schwankten zwischen 0,25 Mt. und 10 Mr. Ein Teil der Kinder wird ohne Lohn, nur gegen Kost und Wohnung beschäftigt; ein Kind war beim Essentragen auf Trinkgeld von den Empfängern angewiesen. Auf dem Lande wird eine kleine Zeitung für einen Jahreslohn von 12,60 Mr. ausgetragen, 7,80 Mr. davon geht für den Krankenkassenbeitrag ab, so daß ein Reinverdienst von 4,80 Mr. verbleibt!
Die schreienden übel, auf welche der Jahresbericht helles Licht fallen läßt, sind naturwüchsige Folgen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Daher geht ihnen die Gesetzgebung nicht rücksichtslos zu Leibe, daher bringen die Polizeibehörden so wenig von der ihnen sonst eigenen Schneidigkeit auf, um sie zu bekämpfen. Das politisch und gewerkschaftlich organisierte Proletariat ist und bleibt die Hauptkraft im Kampfe gegen die schmachvolle Kinderausbeutung. Seine Aufgabe ist es, die Behörden zur strengen Durchführung der geltenden Gesetzesvorschriften zu veranlassen und die Gesetzgeber selbst weiter vorwärts zu wirkfameren Maßregeln zu treiben. Freilich dürfen wir uns dabei nicht verhehlen, daß das Kinderelend zwar gemildert, aber nicht beseitigt werden kann, solange die heutige Gesellschaft dauert. Auch der Kampf gegen die Kinderausbeutung, und gerade er ruft die Arbeiterklasse zum Ringen für ihre Befreiung vom Joche des mörderischen Kapitalismus .
Geile Lüftlinge
und hungernde Verkäuferinnen.
H. W.
Ein krasses Bild von der Moral der Herren aus den bekannten„ besten Kreisen" und dem Elend des weiblichen kaufmännischen Proletariats wurde in diesen Tagen durch eine zweitägige Verhandlung am Nürnberger Landgericht enthüllt. Der akademisch gebildete Zahnarzt Dr. Pfeiffer war wegen Ruppelei angeklagt, weil er in seiner Wohnung seinen Freun den und Bekannten Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr gegeben hatte. Pfeiffer, ein starker Erotiker, hatte mit gleichgesinnten Freunden, Junggesellen wie er, eine kostspielige Achtzimmerwohnung gemietet. Die drei Herren luden Bekannte- natürlich aus der guten Gesellschaft ein, Kaufleute, Fabrikanten, Offiziere, Assessoren usw., um die Abende und Nächte in Damengesellschaft zu verschwärmen. Pfeiffer verbrauchte viele Verhältnisse, er wechselte seine Geliebte nicht selten alle paar Tage, ja zuweilen hatte er mehrere zu gleicher Zeit. War er einer Schönen" überdrüßig, so gab er sie Freunden weiter. Er scheute auch nicht davor zurück, Mädchen zu verführen, die sich bei ihm zahnärztlich behandeln ließen. Meist aber sprach er Mädchen auf der Straße oder in Lokalen an und lud sie in seine Wohnung ein. Zu der Verhandlung waren außer sieben Offizieren und einer Anzahl Lebemänner 24 junge Mädchen geladen und zwar ausnahmslos Verkäuferinnen und Kontori stinnen, die zum größten Teile Opfer des Pfeiffer und seiner Kumpane geworden waren. Charakteristischerweise waren die meisten Mädchen beschäftigungslos und die übrigen befanden sich in schlecht bezahlten Stellungen. Es stellte sich heraus, daß diese beklagenswerten Lustobjekte geiler Lebemänner für ihre Hingabe oft nichts erhalten hatten, als ein warmes Abendessen, obwohl unter den Lüftlingen sehr vermögliche Leute waren. So befand sich unter diesen Stüzen der Gesellschaft" ein Bankdirektor mit einem Jahreseinkommen von 80000 Mt.
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