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Die Gleichheit
Das war 1907 bei der deutschen Sozialdemokratie der Fall. Die österreichische Sozialdemokratie hat nun diesmal nicht nur ihre Stimmenzahl behauptet, was angesichts des Ausnahmefiegs von 1907 schon ein Erfolg gewesen wäre, sie hat sie noch gesteigert. Freilich nicht gleichmäßig im ganzen Staatsgebiet. Während in Wien und Niederösterreich ein stattlicher Stimmenzuwachs von 14,5 Prozent erzielt wurde, ging die Zahl der sozialdemokra tischen Wähler gerade in dem industriell am höchsten entwickelten Gebiet, in Deutschböhmen, um über 3000 zurück. Verhältnis mäßig noch viel stärker war der Rückgang der sozialdemokratischen Stimmen in Mähren , während in den Alpenländern und in der Bukowina mehr oder minder erhebliche Gewinne an Stimmen erreicht wurden. Für die deutsche Sozialdemokratie ergibt sich ein Gewinn von 27.654 Stimmen. Schlechter steht es mit der tschechischen Sozialdemokratie, die 25000 Stimmen, nach einer anderen Berechnung sogar 32000( 24000 in Böhmen und 8000 in Mähren ) verloren hat. Über die Stimmenbewegung bei der sozialdemokratischen Partei der anderen Nationalitäten liegen noch keine genauen Meldungen vor.
Daß die tschechische Sozialdemokratie einen verhältnismäßig starken Stimmenrückgang erlitt, zeigt jedenfalls, daß der von den tschechischen Genossen gepflegte Nationalismus ihre Reihen gegen die Angriffe der bürgerlichen tschechischen Parteien nicht widerstandsfähiger macht. Die Gewerkschaftszersplitterung und die Kämpfe, die sich daraus entsponnen, haben die tschechische Sozialdemokratie natürlich schädigen müssen. Aber auch die deutsche Sozialdemokratie Böhmens und Mährens hat darunter leiden müssen, wurden. doch in zwei Wahlkreisen ihren Kandidaten tschechisch- sozialdemofratische Sonderkandidaten entgegengestellt. Aber das allein ist nicht die Erklärung für den Stimmenrückgang der Sozialdemokratie in Böhmen . Es kommt hinzu, daß in diesem industriell am stärksten entwickelten Gebiet die bürgerlichen Parteien ganz besondere Kraftentfaltungen machten und mit allen Mitteln der Korruption und des Terrorismus gearbeitet haben. Der Klassenkampf ist hier in aller Heftigkeit entbrannt und hat die bürgerlichen Parteien in den Stichwahlen meist gegen die Sozialdemokratie zusammengeschweißt, so daß von den bisherigen Mandaten 7 verloren gingen. Außerdem hat die Partei in den anderen Kronländern eine Reihe von Mandaten eingebüßt, die sie 1907 nur infolge der Uneinigkeit der bürgerlichen Parteien und ihrer Angst vor dem allgemeinen gleichen Wahlrecht erhielt. Diese Verluste sind aber zu einem guten Teil wieder ausgeglichen durch Mandatseroberungen in Wien und Niederösterreich . Dort hat die Christlich sozialen, die seit langen Jahren in Wien herrschende antisemitisch- klerikale Partei, endlich das verdiente Schicksal ereilt. Diese Partei ist total zusammengebrochen, von 20 Mandaten, die sie in Wien besaß, hat sie nur vier behauptet, auch in den Städten Niederösterreichs hat sie Verlufte zu beklagen- vor allem aber hat sie 59000 Stimmen verloren. Hier in Wien und Niederösterreich trat der Gegensatz zwischen Bürgerlichen und Sozialdemokraten zurück, stärker war vorerst noch die Feindschaft der Liberalen und Sozialdemokraten gegen die Christlichsozialen, deren korrumpierende Herrschaft in Niederöster reich und in der Gemeinde Wien bei diesen Wahlen erschüttert werden konnte. An dieser Feindschaft gegen den Klerikalismus scheiterte auch das Bestreben des Ministerpräsidenten v. Bienerth, ein allgemeines Stichwahlbündnis der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie zustande zu bringen. Die Deutschfreiheitlichen ( Liberalen) Wiens weigerten sich, durch Stichwahlhilfe gegen die Sozialdemokratie den Sturz ihres langjährigen, bitter gehaßten Feindes, der Christlichsozialen aufzuhalten. Und so hat Herr v. Bienerth nicht einmal erreicht, die Sozialdemokratie an Mandaten wesentlich zu schwächen sie hatte 88 im aufgelösten Reichsrat und wird mit einigen über 80, die genaue Zahl steht noch nicht fest, in den neuen einziehen. Die Hoffnung des österreichischen leitenden Staatsmannes auf Stärkung der bürgerlichen Parteien und Schwächung der Sozialdemokratie ist zu Wasser geworden- die Sozialdemokratie hat sich wacker behauptet und kann in Ansehung der äußerst ungünstigen Umstände das Ergebnis des Kampfes im großen und ganzen mit Genugtuung betrachten.
Der Hansabund hat am 12. Juni in Berlin einen„ Hansatag" abgehalten, eine Nachäffung der Paraden des Bundes der Landwirte im Zirkus Busch. Wichtiger als die Verhandlungen selbst, die nichts Neues boten, ist ihr Nachspiel. Der Vorsitzende des Hansabundes, Bankdirektor Rießer, hatte ein paar Träftige Worte über den mangelnden Willen zur Macht im deutschen Bürgertum, über die politischen Eunuchen in seinen Reihen gefunden und behauptet, die Sammlung gegen die Sozialdemokratie bedeute immer mehr eine Sammlung aller rückständigen Elemente gegen das vorwärtsstrebende Bürgertum. Darob großes Geschrei in der blau
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schwarzen Presse und auch in diversen nationalliberalen Blättern über die Unterstützung, die der Hansabund der Sozialdemokratie leisten wolle. Flugs setzte sich Herr Rießer hin, um seine Worte halb und halb zurückzunehmen. Niemals, erklärte er feierlich, werde der Hansabund eine Stichwahlparole für die Sozialdemokratie ausgeben. Das tat derselbe Herr, der in seiner Rede auf dem Hansatag gesprochen hatte von den nicht wenigen, welche eine nervöse Angst vor ihrer eigenen Courage haben und glauben sich entschuldigen zu müssen, wenn sie sich einmal eines selbständigen Schrittes nach vorwärts schuldig gemacht haben". übrigens hat die Entschuldigung des Herrn Rießer wegen seiner eigenen Courage nicht verhindert, daß der Landrat a. D. Rötger, der Vertreter des Zentral= verbandes der Industriellen im Vorstande des Hansabundes, seinen Rücktritt von diesem Posten erklärt hat. Die Großindustriellen des Westens, die ausgesprochenen Scharfmacher, rücken also vom Hansabund ab; er ist ihnen trotz aller Versicherungen nicht verläßlich genug in der Sozialistenbekämpfung.
In Preußen ist ein sehr engherziges Feuerbestattungsgeset, das unter erschwerenden Umständen dem toten Bürger gestattet, seinen Leichnam verbrennen zu lassen, zum großen Schmerze des Zentrums zustande gekommen. Im Dreiklassenhaus ging es nur mit Hilfe der Sozialdemokraten und eines kleinen Teiles der Konservativen durch, im Herrenhaus wurde es dann ohne Abänderung genehmigt. Ein Teil der Junker fürchtete offenbar, sich vor den Gebildeten allzu arg zu blamieren, wenn sie diese Freiheit für die Toten verweigerten. Die Zentrumspresse aber tat entsetzt darob, daß die preußische Regierung ein Gesetz mit Hilfe von Sozialdemo fraten gegen ihre treuen Stützen, gegen Konservative und Zentrum, durchbrachte. Indes, wenn es sich um Rechte der lebenden Staats-> bürger handelt, wird die Regierung schon wieder mit den Blauschwarzen zusammenkommen. Die Erörterung des freisinnigen Wahlrechtsantrags haben die Blauschwarzen bis jetzt zu verhindern gewußt.
Gewerkschaftliche Rundschau.
H. B.
Von den Fortschritten der internationalen Gewerk. schaftsbewegung gibt uns der Bericht für 1909 Kunde, der kürzlich vom internationalen Sekretär Legien veröffentlicht wor den ist. Dieser Bericht litt ja von jeher daran, daß seine Angaben den wirklichen Verhältnissen etwas nachhinken, ein Nachteil, der nicht behoben werden kann, solange einzelne Landeszentralen mit der Zusendung ihrer Berichte noch weiter so säumig sind wie bisher. Zum erstenmal wird heuer über Rumänien berichtet. Über Rußland konnten zahlenmäßige Angaben nicht gemacht werden, weil dort die Verfolgungswut der zaristischen Behörden gesetzliche Arbeiterorganisationen nicht aufkommen läßt. Die Verbindung des internationalen Gewerkschaftssekretariats mit der Türkei und Argentinien ist über gelegentliche Korrespondenzen nicht hinausgekommen. Die Gewerkschaften Australiens sind dem Sekre tariat noch nicht angeschlossen, da es ihnen noch immer an einer Zentralinstanz fehlt. Für die Gewerkschaften der zwanzig Länder, die dem internationalen Sekretariat angegliedert sind, weist die Ta belle insgesamt 9583 493 Mitglieder auf gegen 8 663 843 im Jahre 1908; mit Australien und Argentinien würde sich die Zahl der Mitglieder für 1909 auf insgesamt 9845 243 belaufen. In der Zwischenzeit haben in den meisten Ländern die Gewerkschaften bereits wieder bedeutende Fortschritte gemacht, und so dürfte das Heer der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, an dessen Spitze als stärkste Landesorganisation Deutschland marschiert, in den Kulturländern zurzeit zehn Millionen start sein.
Der Bericht über die Tätigkeit der Arbeitersekretariate im Jahre 1910 zeigt wiederum, daß diese Rechtsauskunftsstellen in erheblich gesteigertem Maße in Anspruch genommen wurden. Die Gesamtzahl der Auskunftsuchenden wuchs von 543 304 im Jahre 1909 auf 579 085 im Jahre 1910. Die Zahl der Sekretariate, die persönliche Vertretungen übernommen haben, stieg von 85 auf 94. Jn 2221 Fällen wandten sich Behörden, Vereine und Korporationen an die Sekretariate. Gewerkschaftlich organisiert waren von den auskunftsuchenden Personen 70,9 Prozent. Die Zahl der erteilten Auskünfte hat im Berichtsjahr das sechste Hunderttausend überschritten. Die Sekretariate erteilten 549 474 mündliche und 35 379 schriftliche Auskünste und fertigten 141 083 Schriftsäße an. Diese Zahlen geben Zeugnis von der ungeheuren Arbeit, die hier geleistet wurde, um den Entrechteten und den Opfern unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu ihrem Rechte zu verhelfen. Unter großen Aufwendungen haben hier die Gewerkschaften eine Nebenaufgabe ihrer Bewegung zu einem fruchtbringenden Wirkungsgebiet ausgestaltet.