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Die Gleichheit

die am 4. Juli abgehalten wurden, Protest erhoben gegen die Er pedition nach Agadir   und ihre weitere Ausdehnung.

Den Reaktionären aber ist das Marotto- Abenteuer auch deshalb erwünscht, weil sie davon eine Ablenkung des Volkes von den inneren Mißständen erhoffen. Sie erwarten, daß im hurrapatrio­tischen Daumel die preußische Dreillaffenschmach, die Reichsfinanz­reform, die Reichsversicherungsordnung und alle anderen Sünden der Regierung und der bürgerlichen Parteien vergessen werden, und daß der Streit unter diesen Parteien selbst hinter der großen, ge­meinsamen Sache" zurücktreten werde. Aus dem Strudel der Welt­politik hoffen die Reaktionäre eine siegverheißende Parole für die Reichstagswahlen schöpfen zu können. Durch diese Berechnung muß ihnen die Sozialdemokratie einen dicken Strich machen. An Material zur Aufklärung und Aufrüttelung des Volkes fehlt es wahrlich nicht. Die preußische Wahlrechtsfrage ist durch die Wahlreform in Elsaß- Lothringen   wieder in den Vordergrund geschoben worden. Die freche, herausfordernde Art und Weise, mit der die Junker am Vorabend des Landtagsschlusses einen fortschrittlichen Antrag auf Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahl­rechts im Dreitlassenhaus abgewürgt haben, war ein neuer Faust­schlag ins Gesicht der Entrechteten. Preußischer Zucht und Ordnung angemessen ist diese Entrechtung der Proletarier und kleinen Leute, das war der Sinn der brutalen Erklärung des konservativen Führers Heydebrand. Die preußischen Junker glauben das preußische Volk so gut unter der Fuchtel zu haben, daß es sich diese Schmach ge­duldig gefallen lassen muß. Und der Ministerpräsident und Reichs­Tanzler, der zu der Debatte nicht erschienen war, ließ, getreu dem Willen seiner Herren, der Junker, in der Norddeutschen All­gemeinen Zeitung" erflären, daß er ganz wie sie der Ansicht ist, daß man demi preußischen Volfe ruhig weiter vorenthalten kann, was man den Elsaß  - Lothringern gewähren mußte! Der Preis des vorzüglichen Landtags, der dem Dreillassensystem zu verdanken fei, fehlte natürlich in den Reden der Feinde des freien Wahlrechts nicht. Tags darauf wurde die Probe auf dies Erempel gemacht- das Dreiklassenhaus erwies sich als unfähig, seine Arbeiten fertig zustellen, die pflichtgetreuen" Abgeordneten der Rechten und des Zentrums fehlten in ganzen Scharen. Daher mißlang die geplante Vergewaltigung der Linken, ihre Obstruition legte die Verhand­lungen lahm, und die Regierung, die daran verzweifelte, die schweben­den Vorlagen noch durchzubekommen, machte dem kläglichen Schau­spiel des ständig beschlußunfähigen Hauses durch eine unvermittelte Schließung der Tagung ein Ende. In der schmählichsten Form, einen Haufen unerledigter Arbeit hinterlassend, wurde dieses Parla­ment, mit dem selbst die reaktionäre preußische Regierung nicht mehr auskommen kann, nach Hause geschickt. Jammernd gestehen realtionäre Politiker und Blätter ein, daß solche Vorgänge das Dreiklassenwahlrecht unmöglich machen, und mühen sich ab, Heil­mittel dagegen ausfindig zu machen, während doch nur das demo­fratische Wahlrecht dieses Parlament arbeitsfähig machen kann.

Den Austritt des Scharfmacherverbandsvorsitzenden Rötger aus dem Hansabund ist der Abmarsch der Schwerindustriellen im Ruhr- und Saarrevier gefolgt in Berlin  , Hamburg  , in Berlin  , Hamburg  , Stuttgart   und anderen Orten sind vereinzelte Scharfmacher aus­geschieden. Die Eisen- und Kohlenbarone und die ihnen verwandten Unternehmerkreise ziehen es vor, mit den Krautjunkern und dem Zentrum zusammen Politit zu machen, weil ihnen diese in der Bekämpfung der Sozialdemokratie und in der Schutzzollpolitik ver­läßlicher sind als der Hansabund. Im Ruhrrevier, wo unter Führung Kirdorfs ein Gegenbund gegründet wurde, ist es von den Großindustriellen direkt auf ein Wahlgeschäft mit dem Zentrum abgesehen. Das Zentrum soll gegen Wahlhilfe in Essen, Köln  und Düsseldorf   die Wahlkreise Dortmund  , Bochum   und Duisburg   der Sozialdemokratie entreißen und dem politischen Kommis der Scharfmacher, den Nationalliberalen ausliefern. Da der Hansabund auch durch den vom preußischen Handelsminister verfügten Austritt der Innungen geschwächt werden wird, so ist schon heute klar, daß es mit der großen einheitlichen Organisation von Handel, Industrie und Gewerbe, dem Gegenstück zum Bund der Landwirte, nichts ist. Zumal auch unter den im Hansabund Verbleibenden noch starke Interessengegensätze bestehen.

Mit großen Gebärden und Worten wirst sich zurzeit der Libe­ralismus für die bedrohte Gewissensfreiheit ins Zeug, die er durch die Amtsentsegung des evangelischen Pfarrers Jatho aus Köln  durch das Glaubensgericht der Landeskirche verletzt sieht. So mittelalterlich nun aber auch das Verfahren der Kirche anmutet, so muß man ihr doch das Recht zugestehen, einen Geistlichen, der ihre grundlegenden Lehren, so das Dasein eines persönliches Gottes, ablehnt, vom Lehramt innerhalb ihres Rahmens zu entfernen. Wenn Jatho und seine Anhänger fonfequent wären, so müßten

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sie aus der Kirche austreten und den Namen Christen ablegen. Aber davor schrecken sie zurück. Die Gebildeten, die die kirchlichen Dogmen nicht mehr verdauen können, scheuen doch vor dem Bruch mit der Kirche zurück und beanspruchen naiverweise das Recht, innerhalb der Kirche sich eine Gefühlsreligion servieren zu lassen, die mit dem Christentum nicht mehr viel gemein hat, obwohl sie andererseits von einem freien Denten ebenso weit entfernt ist. Bei diesem widerspruchsvollen Verhalten spielen allerlei Rücksichten auf Verwandte, Rarriere usw. eine mehr oder minder große und bewußte Rolle, vor allem aber wird es beeinflußt durch die Scheu, dem Volke, dem doch die alte Religion, mit Himmel und Hölle, erhalten bleiben muß, zu zeigen, daß die Gebildeten an diese Re­ligion nicht mehr glauben. Das Proletariat hat mit der Jatho­bewegung nichts zu tun, für die künstliche Erhaltung der Kirche, indem in ihr die widersprechendsten Lehren vereinigt werden, fann es fich nicht erwärmen.

In Österreich   sitzen, nachdem die galizischen Wahlen be­endigt sind, 82 Sozialdemokraten im Reichsrat. In dem galizischen Orte Drohobowicz richtete das Militär ein furchtbares Blutbad unter den Wählern an, als diese sich gegen die frechen Wahl­fälschungen der Junkerclique zur Wehr sehten. Der Ministerpräsident Bienerth, dessen Mehrheit bei den Wahlen durch den Zusammen bruch der Christlichsozialen zertrümmert wurde, ist zurückgetreten. An seiner Stelle soll Gautsch versuchen, eine neue Mehrheit für die Regierung im Parlament zu schaffen.

Auch in Frankreich   gab es einen Ministerwechsel! Die Gegner des Proportionalwahlsystems unter den regierenden Radikalen ge­brauchten einen geringfügigen Vorwand, um das für den Proporz eintretende Ministerium zu stürzen. Mit diesem verschwanden auch die sozialen Reformen und Maßregeln, die es versprochen hatte, so zum Beispiel der Zwang auf die Eisenbahngesellschaften, di: gemaßregelten Angestellten wieder einzustellen. Die Radikalen ver­rieten, daß sie innerlich mit diesen Versprechungen des Kabinetts Monis durchaus nicht einverstanden gewesen sind, indem sie das entgegengesette Programm des neuen Ministeriums Gaillaug billigten. So sind die kühnen Hoffnungen von einer Wandlung in der radikalen Politit schmählich enttäuscht worden, die einige unserer französischen Genossen auf das Kabinett Monis gesetzt hatten.

In Portugals   Kammer zog der erste Sozialdemokrat ein- die Nachrichten lassen nicht erkennen, ob seine Wahl der Kraft der H. B jungen Partei oder einem Zufall zu verdanken ist.

Gewerkschaftliche Rundschau.

Die Entwicklung der Unternehmerorganisationen hält mit derjenigen der Arbeiterorganisationen gleichen Schritt. Wurde auf dem Gewertschaftstongreß mit Stolz von über 2 Mil lionen Mitgliedern berichtet, so zeigt das Wachstum der Unter­nehmerverbände ein nicht minderes Erstarken des Gegners. In 93 Reichsverbänden, 474 Landes- und Bezirksverbänden und 2361 Ortsvereinen zählten die Unternehmer 127 424 Mitglieder mit über 4 Millionen beschäftigter Arbeiter. Das ist gegen letztes Jahr ein Mehr von 315 Verbänden mit 12 329 Mitgliedern und 172760 beschäftigten Arbeitern. Gine erhebliche Zunahme hatten die Unter­nehmervereinigungen in der Landwirtschaft, die ihnen neu beige­tretenen Mitglieder beschäftigen 46 002 Arbeiter; in der Textil­industrie, wo es nun 19420 Arbeiter mehr mit organisierten Rapitalisten zu tun haben; in der Industrie der Nahrungs- und Genußmittel hier sind 57554 Arbeiter den im letzten Jahre zu ſammengeschlossenen Brotherren" tributpflichtig und in dem Be­kleidungs- und Reinigungsgewerbe, in dem die Zahl der Arbeiter unter neu organisierten Betriebsinhabern 51768 beträgt. Eint größerer Verlust an Mitgliedern, die zusammen 76287 Arbeiter be­schäftigten, ist im Baugewerbe eingetreten. Dieser Rückgang ist wohl auf den Austritt der Berliner   Baugeschäfte aus der Gesamtorgani­sation während der vorjährigen Bauarbeiteraussperrung zurückzu­führen. Die Fortschritte der Unternehmerverbände müssen für die Arbeiter und Arbeiterinnen ein Ansporn sein, ihre gewerkschaftlichen und politischen Organisationen auszubauen, um dem mächtigen Gegner gut gerüstet gegenüberzustehen.

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Der Dreistädtetarif im Buchbindergewerbe für Berlin  , Leipzig   und Stuttgart   ist nunmehr zum erfolg reichen Abschluß gelangt. Wir berichteten schon von der Erhöhung der Minimallöhne für Arbeiter und Arbeiterinnen und der Ver­fürzung der Arbeitszeit auf 52% Stunden pro Woche. Nun ist auch der umfangreiche Affordtarif einer gründlichen Revision unter­zogen und im wesentlichen verbessert worden. Der Tarif gilt für 8500 Arbeiter und Arbeiterinnen in den drei Städten, die eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 10 Prozent erhalten. Der At­