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Die Gleichheit
höher entlohnten Schichten des Proletariats gehören. Ihre Ehemänner sind unzweifelhaft politisch und auch gewerkschaft lich organisiert, manche von ihnen außerdem an der konsumgenossenschaftlichen Bewegung interessiert und alle Leser des Parteiorgans. Frauen, die entgegen dem Wunsch und Willen ihrer Männer sozialdemokratisch gesinnt waren, fand ich in den 4% Jahren unter rund 1100 Genossinnen nur drei.
Nr. 23
Großstädten geboren wurden. Der Zug nach den Industriezentren löst also auch die Frauen vom Boden der Kleinstädte und des Landes. Die Frage: Wie lange find Sie schon in Berlin ? sollte Anhaltspunkte dafür geben, wie rasch die vom Lande und aus der kleinen Stadt stammenden Proletarierinnen zum Klassenbewußtsein in der Riesenstadt erwachen, wo die fozialen Gegensätze scharf in die Erscheinung treten und die gesamte Atmosphäre der Aufklärung günstig ist. Die Zahl der eingegangenen Antworten ist jedoch zu klein, um daraus Schlüsse ziehen zu dürfen. Die Frage nach der Anzahl der Umzüge seit 1900 ist sehr mangelhaft beantwortet worden. Viele Genosfinnen konnten auf Grund ihrer vielfach recht unvollständigen Erinnerungen nur ungenau angeben, wie ost sie seit 1900 umgezogen waren. Das moderne Nomadentum des großstädtischen Arbeiters ist ein trübes Kapitel seiner Lebensbedingungen. Unter 102 Frauen, die verheiratet, geschieden oder verwitwet waren, also mit Mobiliar usw. umziehen mußten, hatten nur 12 seit 1900 noch keinen Umzug durchgemacht, für 24 fehlten die Angaben ganz, und die übrigen 66 waren soweit ihre Erinnerung reichte zusammen 169 mal mit Sack und Pack umgezogen. Es wird wohl die wechselnde Arbeits. stelle des Mannes allein nicht sein, die solches Nomadisieren erzwingt. Die Ausbeutung durch das mächtige und protzige Berliner Hausagrariertum und zum anderen der dauernde Mangel an gefunden Arbeiterwohnungen sind auch von großem Einfluß auf den fortgesetzten Wohnungswechsel.
Der Miterwerb der verheirateten Frauen war in verhältnismäßig geringer Zahl verzeichnet, von 39 der 92 Genossinnen. 35 davon gaben Auskunft über ihren Beruf. Es arbeiteten 8 als Schneiderinnen und Näherinnen, je 6 waren Fabrikarbeiterinnen und Zeitungsausträgerinnen, 5 Aufwärterinnen, 4 Verkäuferinnen, 2 Stickerinnen und je 1 Lederarbeiterin, Butmacherin, Plätterin und Friseurin. Gewerkschaftlich organisiert waren von ihnen 4 im Metallarbeiter, 1 im Haus angestellten, 2 im Buchbinder, 2 im Transportarbeiter und 1 im Buchdruckereihilfsarbeiterverband, also zusammen nur 10. Von den 35 erwerbstätigen Genoffinnen arbeiteten 12 zu Hause, die anderen 23 mußten täglich zur Fabrik oder ins Geschäft. Diese 23 Frauen hatten zusammen 40 Kinder, von denen 9 unter 6 Jahren und 25 über 6 bis 14 Jahre alt waren. Die 102 verheirateten Frauen hatten insgesamt 208 Kinder, davon waren 51 unter 6 Jahre, 93 über 6 bis 14 Jahre und 41 über 14 Jahre alt. Für 23 Kinder fehlen die genaueren Altersangaben. Schon diese nüchternen Zahlen sprechen von einer außerordentlichen Opferfreudigkeit der Genossinnen, die an den Bildungsabenden teilnehmen. Im besonderen und zuallererst bei den Proletarierinnen, die tagsüber im Geschäft oder in der Fabrik schaffen, abends die Wirtschaft in Ordnung zu halten haben und dabei Kinder erziehen müssen. Man bedenke dabei, daß unsere Statistik gar nicht einmal die proletarischen Schichten erfaßt hat, wo es noch trauriger aussieht, denn aus diesen Tiefen kommen die Frauen nur in verschwinderen geistige Regsamkeit und Charakterkraft über den Durchdend wenigen Fällen in die Leseabende. Diese wurden also in der Hauptsache von Frauen besucht, die gleichsam die Vorhut der proletarischen Frauenbewegung bilden, von Proletarie rinnen, denen Kulturbedürfnisse und Rechtsforderungen ihrer Klasse in Fleisch und Blut übergegangen sind. So erscheinen die Dinge wenigstens in Berlin , soweit ich mit ihnen vertraut geworden bin. Über den Verdienst der berufstätigen Frauen ist wenig zu sagen; er war so ziemlich bei allen gleich schlecht. Beachtlich bleibt, daß trotzdem so wenige der verheirateten Arbeiterinnen sich ihrer Berufsorganisation angeschlossen hatten. Die Frage nach der politischen Organisation ist in allen 119 brauchbaren Bogen beantwortet worden, nur bleibt in 5 Fällen unklar, wie lange die betreffenden Genossinnen schon der Partei als Mitglieder angehörten. In 6 Fällen waren die Genossinnen nicht politisch organisiert. Die Zugehörigkeit der übrigen zur Sozialdemokratie stellt sich wie folgt:
Es waren organisiert seit 1911: 30, 1910: 17, 1909: 16, 1908: 28, 1907: 9, 1906: 2, 1905: 3, 1904, 1903 und 1902 je 1 Frau. Wie stand es mit dem Lesen der Parteipresse? Der Vorwärts" wurde im Abonnement von 92 verheirateten Frauen respektive ihren Männern gehalten, 14 unverheiratete Genoffinnen waren auf ihn abonniert, für 5 Arbeiterfamilien existierte das lokale Parteiorgan nicht, und 8 unverheiratete Teilnehmerinnen unserer Leseabende lafen es ebenfalls nicht. Von 120 Frauen, die in der Mehrzahl länger organisiert sind, lafen nur 32 die„ Gleichheit", darunter 26 verheiratete. Und das trotz einer rührigen Agitation der Genossinnen für die Ver breitung ihres Organs. Die meisten Ablehnungen, das Blatt zu abonnieren, erfolgen aus Geldrücksichten, es kommt aber auch vor, daß erklärt wird, und dies auch durch länger organi fierte Genoffinnen: über Politik lesen wir den Vorwärts" und die„ Gleichheit" ist uns zu hoch. Zu meinem Erstaunen registrierte ich in zirka einem Jahre 37 solcher Antworten. Sie zeigen, welch einer großen Arbeit es noch zur Erweckung und Schulung der proletarischen Frauenmassen bedarf.
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Zur Frage nach der Heimat: Land, Kleinstadt oder Großstadt ist es beachtlich, daß unter 112 Genossinnen 39 aus der Kleinstadt und 41 vom Lande ftaminen, während nur 32 in
Zum Schluffe noch einige allgemeine Ansichten auf Grund meiner persönlichen Erfahrungen. Mir scheint, daß die Leseabende nicht das sein können, was die Versammlungen im allgemeinen sein sollen: große Aufklärungsmöglichkeiten, die breite Massen erfassen. Die Zusammenfünfte werden zu einer intellektuellen Auslese führen, nur eine Oberschicht von Frauen,
schnitt steht, wird ihre ständigen Besucherinnen stellen. Diese refrutieren sich vorwiegend aus der schon politisch und gewerkschaftlich erweckten Proletariermasse. Die Frauen, die von Lichtstrahlen der modernen Arbeiterbewegung auch nicht einmal gestreift worden sind, werden unseren Leseabenden fern bleiben. Damit ist für mich auch schon die Frage beantwortet, ob wir unsere Leseabende der Agitation für die elementarsten Forde rungen und Ideen der Arbeiterbewegung dienstbar machen sollen. Es kann dies nicht ihr Zweck sein. Diese Aufgabe wird nach wie vor durch Versammlungen, Flugblätter, persönliche Aufklärung usw. gelöst. Die Frauenzusammenkünfte sollen und müssen Schulen für alle diejenigen Genossinnen sein, die schon innerhalb der Arbeiterbewegung stehen und denen tieferes Verständnis ihres Wesens und ihrer Ziele bitter not tut. Die mitgeteilten Ergebnisse der Fragebogen lassen erkennen, welche Schwierigkeiten zu überwinden sind, damit die Leseabende in steigendem Maße die Kreise dieser Genossinnen erfassen und mit der unentbehrlichen Schulung ausrüften. Die Richtung, in der wichtige Vorarbeit zu leisten ist, wird uns gewiesen durch die geringe Zahl der gewerkschaftlich organisierten verheirateten Berufstätigen und durch die geringe Zahl der Gleichheitleserinnen unter den Besucherinnen der Leseabende. Sollen aber diese Veranstaltungen dem hervorgehobenen Ziele dienen, so r: üffen sie nach einem ganz bestimmten Arbeitsplan geleitet werden. Welche Erfahrungen in dieser Hinsicht gesammelt wurden, sci in einem zweiten Artikel dargelegt. Kurt Heinig , Berlin .
Heraus mit dem Frauenwahlrecht!
Kurz ehe die Mitglieder des preußischen Abgeordnetenhauses auseinandergingen, mußten sie sich noch mit einem Antrag der Fortschrittlichen Bollspartei beschäftigen, der die Einführung des Reichstagswahlrechts für Preußen forderte( vergleiche Nr. 21 der „ Gleichheit"). Der Sozialdemokratie gab das Anlaß, ihre eigenen Wahlrechtsforderungen zu erheben. Ihr Sprecher, Genosse Adolf Hoffmann , trat dabei namentlich auch für das Frauenwahlrecht ein. Wir lassen die betreffenden Ausführungen folgen, die bei unseren Genoffinnen freundliche Zustimmung finden werden.