Nr. 23Die Gleichheit363gaben ihr, waZ ihr noch fehlte. Die materialistische Geschichtsauffassung wurde der Schlüssel zum Verständnis der treibenden Kräfteund Zusammenhänge der Menschheitsgeschichte. Erst als nberzeuglerSozialdemokratin schloß sich ihr die Weltanschauung zum Ringe. ZumStudium der Natnrwissenschaslen trat nun das der Gesellschaftswissenschaften und insbesondere der Geschichte. Hand in Hand mitdem Lernen und Forschen an der Universität Zürich gingen Arbeiten, die die breitesten Volksmassen mit Kenntnissen ausrüstensollten. Denn diesen zu diene», ihnen Waffen schmieden zu helfenim Kampfe für ihre Befreiung, das war das Ziel, das HannahLewin-Dorsch ihrem Wirken gesetzt hatte. Sie wurde die geschätzteMitarbeiterin der„Gleichheit", der„Arbeiter-Jugend" und andererParteiblätter noch in Deutschland und Osterreich, und kurz vorihrem Tode noch hat sie eine Reihe wertvoller kulturgeschichtlicherAbhandlungen vollendet, die demnächst erscheinen werden.Auf der Höhe ihrer Reife und Kraft war zu ihr das persönliche Glück gekommen. Hannah Dorsch hatte einen Lebensgefährtengefunden, der mit ihr eins war in der Gesinnung, eins im leidenschaftlichen Ringen um Erkenntnis und Tat. Und vor kaum Monatsfrist war ihr mit der Geburt eines Töchterchens die langeheimlich ersehnte Seligkeit der Mutterschaft zuteil geworden. ImWinter gedachte Hannah Lewin-Dorsch ihre Studien formell durchdas Doktorexamen abzuschließen. Sie Halle die Schubfächer vollerMaterial, das sie uns nutzbar machen wollte, den Kopf vollerPläne, wie sie das am erfolgreichsten zu tun vermöchte. Zu denschriftlichen Arbeiten sollten sich Vortragsturse gesellen usw. Nunhat der Tod allen Absichten, allen Wünschen dieses leidenschaftlichen»nd reinen Herzens, allen Energien dieses kraftvollen Geistes undstarken Willens ein Ziel gesetzt. Wir haben mit Hannah Lewin-Dorsch eine teure, unvergeßliche Freundin eingesargt und vieleunserer liebsten Hoffnungen auf eine reiche Zuknnstssaat, die derkämpfenden Arbeiterklasse reisen konnte.Politische Rundschau.Eine amtliche Note der deutschen Regierung hat am 4. Augustbekanntgegeben, daß die Verhandlungen zwischen Deutschlandund Frankreich über Marokko zu einer Annäherung über denprinzipiellen Standpunkt geführt haben; die Einzelheiten des Abkommens sollen in weiteren Verhandlungen ausgearbeitet werden.Auf welcher Grundlage die Annäherung erfolgt ist, das heißt wasFrankreich und Deutschland einander zugestehen, das wird noch geheim gehalten. Indes ist nach den Andeutungen, die hier und dain die Presse, besonders die ausländische, gelangt sind, anzunehmen,daß Deutschland in Marokko auf Gebietserwerb verzichtet und sichdort mit der Sicherstellung der Beteiligung deutscher Kapitalistenan der wirtschaftlichen Ausbeulung des Landes begnügt. Fürdiesen Verzicht aber auf ein Stück des ihm gar nicht gehörendenMarokko soll Deutschland durch einen Teil der französischen Kongo-kolonie entschädigt werden. Damit wären also, wenn man denMitteilungen der Regierung trauen darf, die unmittelbaren Gefahren des brenzlichen Marotkoabentcuers etwas gedämpft, und esbliebe dem deutschen Untertan nur noch die Pflicht übrig, ein Loblied auf seine Staatsmänner anzustimme», die durch ihr Genie fürsein Vaterland eine fette„Kompensation" herausgeschlagen und sodas Deutsche Reich ohne Blutvergießen vergrößert haben. NeunZehntel des deutschen Volkes, vor allem das deutsche Proletariat,haben indes nicht den mindesten Anlaß, sich über dieses Glückder deutschen Regierung zu freuen. Denn ihnen bringt die Vermehrung des deutschen Kolonialgebiets nur eine Vermehrung derSteuern, eine Vermehrung der Kolonialdefizite und der Militär-und Marinelasten. Für die Kreise der großen Finanzleute und derSchwerindustriellen, die an Anleihen und Lieferungen für Eisenbahn-, Brücken- und Hafenbauten usw. in den Kolonien außerordentlich verdienen, bedeutet allerdings jede Vergrößerung derdeutschen Kolonien baren Gewinn. Soweit die Junker nicht selbstan den unmittelbaren Profiten der Kolonialabenteuer beteiligt sind,ziehen sie doch mit an dem Strange der Kolonialpolitik, weil sievon einem die Kriegsgefahren steigernden gewaltsame» Vorgehennach außen eine Stärkung der auf Waffengewalt sich stützendenReaktion im Innern erhoffen. Ein Grund mehr, der die Arbeiterklasse zur entschiedenen Gegnerin der Weltmachts- und Kolonialpolitikmacht. Und es ist»och sehr fraglich, ob der Erwerb eines Stückesdes französischen Kongo das kleinere Übel ist gegenüber der Annexion eines Teils von Marokko,'die uns wahrscheinlich einen langwierigen und blutigen Krieg mit den tapferen Berbern bescherthätte. Denn die Ausbreitung Deutschlands in Mittelasrika bringtdieses in schärferen Gegensatz zu England, trotz aller Erklärungendes englischen Ministerpräsidenten, der zurzeit vor einem Kriegezurückzuschrecken scheint. Indes sind die deutschen Marolkospeku-lanten mit dieser Lösung gänzlich unzufrieden. Sie toben darob,daß die deutsche Regierung nicht auf der Annexion von Südmarokkobestanden hat. Doch haben sie jetzt die Richtung ihrer Angriffegeändert. Während vor kurzem noch die alldeutsche Hetze gegenden Staatssekretär des Äußeren v. Kiderlen-Wächter ging,der als ein„Minderer des Reichs" denunziert wurde, richtet sie sichjetzt gegen den Kaiser. Der Kaiser zwinge den wackeren SchwabenKidcrlen zu einer Politik des Friedens um jeden Preis. Die„Post"und die„Rheinisch-Westfälische Zeitung" führen dabei eine ruppigeSprache gegen Wilhelm II., über deren Unehrerbietigkeit dem deutschen liberalen Spießbürger das Herz in die Hosen fällt. Die„Post"schreibt, Frankreich und England rechneten in ihrer Politik auf„Wilhelm den Furchtsamen, den prahlerischen Hasenfuß!" Und weiter heißt es in dem Organ der Freikonservativen:„Wir trösten uns mit ästhetischen Teekränzchen, Diners, Soupers,Reisen, Besichtigungen, Feiern aller Art über die Schmach desVaterlandes. Und ernten damit billiges Lob des Auslandes,hinter dem die Verachtung steht!" Das Essener Blatt erklärtganz unverhohlen, daß ein solcher Ausgang der Agadiraffäre dasdeutsche Volk zu dem Entschlüsse bringen müsse, im Kampfe gegenseine Fürsten groß zu werden. Es ist amüsant, zu sehen, wie diegroßmäuligsten Kämpfer gegen den Umsturz schier königsmörderischwerden und wie ihre patentierte Königslreue wie schlechter Anstrichvon ihnen abfällt, da der König angeblich nicht so will wie siewollen.Der feste Wille des Proletariats, den Frieden zu schützen gegendie verbrecherischen Provokationen der Marokkointeressenten diesseitswie jenseits der Vogesen kam in der Niesenversammlung der BerlinerArbeiter zutage, die unter Leitung der Gewerkschaften und mit Beteiligung der Partei aus Anlaß des Besuchs französischer Gewerkschaftsführer stattfand. Der Vorstand der sozialdeinokratischen Partei Deutschlands hat bis jetzt leider eine kraftvolle Initiative in dieser hochbedcut-samen Situation vermissen lassen. Die preußische Polizei hat derDemonstration nichts in den Weg gelegt— sie muß wohl eingesehen haben, daß sie durch Verbote bei ähnlichen Gelegenheiten dieWucht der Kundgebung nur verstärkt hat. Indes konnte sie dochnicht umhin, der Öffentlichkeit zu zeigen, daß sie das Schwert nichtumsonst trägt und stets über die Sicherheit des Staates wacht.Sie wies den französischen Gewerkschafter Uv etat aus. Dieserhatte auf dem Begrüßungsabend der Gäste durch die Generalkommission der Gewerkschaften zu einer Zeit, da die Gefahr eines blutigen Zusammenstoßes zwischen Frankreich, England und Deutschland aufs höchste gestiegen ivar, die selbstverständliche Folgerungaus der Kriegshetze der Herrschenden mit diesen Worten gezogen:„Versucht es nur einmal, ihr Schafsköpfe, ein Volk gegen dasandere aufzuhetzen, ein Volk gegen das andere zu bewaffnen, ihrwerdet sehen, daß die Völker vielleicht einen anderen Gebrauch vonden Waffen machen werden, die ihr ihnen in die Hand gebt.Wartet ab, ob die Völker nicht einen anderen Feind bekämpfenwerden, als ihr glaubt."Der Fall Jatho hat ein nicht weniger Aussehen erregendesNachspiel gehabt. In der Luisenkirche zu Charlotteuburg hat derliberale Pastor Kraatz in seiner Predigt den Fall Jatho gestreiftund dann die kirchlich-liberale Halbheit vorgetragen, daß die Bibelnur zum Teil, nicht gänzlich Gottes Wort sei. Das hat einigeOffiziere, die Soldaten zum befohlenen Gottesdienst geführt hatten,um das Seelenheil der Mannschaften besorgt gemacht. In der Erkenntnis, daß der Pfarrer nicht das reine Evangelium predige,haben sie die Soldaten mitten in der Predigt zum Verlassen desLokals kommandiert. Eine derartige Störung eines Gottesdienstesist mit strenger Strafe bedroht. Den Ossizieren geschieht abernichts, die Kirchenbehörde, an die sich der Pfarrer mit einer Beschwerde gewendet halte, lehnt es sogar ab, auch nur die Namender Herren zu ermitlei». Und in der blau-schwarzen Presse werdendiese mutigen Bekenner,„die nur ihre Pflicht getan haben", bisübers Bohnenlied gelobt. ES wird einfach für selbstverständlich erachtet, einmal daß Offiziere das Recht zur Störung religiöser Handlungen haben, und dann daß der militärische Vorgesetzle nicht nurden Soldaten zum Kirchgang kommandieren, sondern daß er ihmauch das vorzeitige Verlassen der Kirche anbefehlen darf, daß erihm nicht bloß durch Zwang die Religion erhallen muß, sonderndaß er auch darüber zu bestimmen hat, wie diese Religion aussieht. Der Militarismus etabliert sich als Zensor auf religiösemGebiet: Die Erfolge, die er dabei erzielt, iverden zivar äußerstmager sein. Es verdient aber doch verzeichnet zu werden, daß inDeutschland die Soldaten im Widerspruch zu dein Siecht auf Gewissensfreiheit, das in allen deutschen Vaterländern stillschweigendoder ausdrücklich in Verfassnngsbestimmungen anerkannt ist, zwangs-