Nr. 24

21. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen

Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder

Die Gleichheit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Poft vierteljährlich obne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig.

Jahres- Abonnement 2,60 Mart.

Inhaltsverzeichnis.

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Stuttgart

28. August 1911

Die Massenstreits in Großbritannien. - Stichproben von der Ausbeutung weiblicher Arbeitskraft in Baden. I. Von mg. Vier Jahre Frauen leseabende. II. Von Kurt Heinig . Um das Bürgerrecht der Frau in der Gemeinde. Freie Hauspflege als Krankenkassenleistung. Von Fr. Kleeis. Sedan ! Von Roland. Ein Bild aus dem Arbeiterinnen leben. Von Emil Unger.

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Aus der Bewegung: Die Fortschritte der proletarischen Frauenbewegung im letzten Tätigkeitsjahre. Anträge zur Frauenkonferenz. Von der Agitation. Politische Rundschau. Von H. B. Gewerkschaft­liche Rundschau. Aus der Nürnberger Specksteinindustrie. Von fk. Erfolge der gewerkschaftlichen Organisation in Hamburg . Notizenteil: Dienstbotenfrage.- Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen.- Frauenstimmrecht. Frauenbewegung. - Die Frau in öffentlichen Aemtern. Verschiedenes.

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Von e. g.

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Die Massenstreifs in Großbritannien .

Der internationale Seemannsausstand, der in England mit glänzendem Erfolg beendet wurde, hat dort den Anstoß zu einer gewaltigen Streifwelle gegeben, die mit reißender Schnelle das Land überflutete. Zuerst waren es die Dockarbeiter von London , die in den Ausstand traten, um Lohnerhöhungen durchzusetzen. Ihnen schlossen fich bald alle anderen Arten von Transportarbeitern an: Kohlenlader, Fuhrleute, Lichterschiffer, Stauer usw. Sie alle hatten Abrechnung mit ihren Ausbeutern zu halten und for derten die eine oder andere Verbesserung ihres Loses: mehr Lohn, kürzere und geregelte Arbeitszeit, Anerkennung ihrer Gewerkschaftsorganisation und anderes mehr. Die Bewegung brach bei manchen Arbeitergruppen unvermittelt und wild aus, gegen den Willen ihrer Organisation; sie erhielt aber dann in ihrer Gesamtheit eine gemeinsame Leitung durch den Trans­portarbeiterverband, dem seit ungefähr einem halben Jahr alle in Betracht kommenden Gewerkschaften angegliedert sind. Unser bekannter Genosse Will Thorne, einer der besten und zuverlässigsten sozialistischen Arbeiterführer, und der ebenfalls sehr angesehene Ben Tillett traten dabei in den Vordergrund. Die Bewegung griff rasch um sich, war von ebenso großer Be­geisterung als Einmütigkeit beseelt, brachte den Londoner Güter verkehr in empfindlicher Weise ins Stocken und entriß binnen wenigen Tagen den Unternehmern wertvolle Zugeständnisse. Noch ehe daß sich die Gewässer dieses Massentampfes ganz verlaufen hatten, fam es zum Ausstand der Lastträger der Lancashire , Yorkshire - und Nordwest- Eisenbahngesellschaften. Liverpool war der Mittelpunkt ihres Kampfes, der sehr bald dort die Eisenbahner mit fortriß, die die 54stündige Arbeits­woche, eine Lohnerhöhung um 2 Schilling wöchentlich und vor allem die Aufhebung der Einigungsämter verlangten, welche 1907 geschaffen worden waren und auf Grund ihrer bisherigen Tätigkeit von den Arbeitern und Angestellten als grobe Prellerei gewertet wurden. Die Bewegung gewann an Ausdehnung und Erbitterung durch den Beschluß der Reeder von Liverpool , alle Dockarbeiter auszusperren, wenn die Eisenbahner nicht das alte

Sufchriften an die Redaktion der Gleichheit find zu richten an Frau Klara Zetkin ( 3undel), Wilhelmshöhe, Poft Degerloch bei Stuttgart . Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furtbach- Straße 12.

Joch ohne Erleichterung weiterschleppen wollten. Diese Be fundung der Unternehmersolidarität wurde von der Arbeiter­schaft Liverpools mit einer großartigen Demonstration der Soli­darität der Ausgebeuteten beantwortet, an der 60000 Personen teilnahmen. Das töricht brutale Vorgehen der Polizei, die mit Gummifnüppeln gegen die friedlichen Manifestanten wütete, führte zu Zusammenstößen, bei denen es gegen 250 Verwundete gegeben haben soll.

Die Massen haben sich durch Polizei- und Militäraufgebote nicht zurückschrecken lassen. Die Bewegung hat in raschem Sprunge immer neue Orte und neue Arbeiterkategorien-be­sonders im Verkehrsgewerbe - erfaßt. Jn Glasgow, Man­ chester , Sheffield usw. traten Docker, Eisenbahner, Tram­bahner usw. in den Ausstand. In London kam es zu neuen Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital im Trans. portgewerbe. 15000 Arbeiterinnen der Konserven- und Zucker­warenfabriken traten in den Streit, um ihre elende Lage zu verbessern, und 5000 davon haben bereits Erfolge errungen. Noch andere Gruppen Ausgebeuteter nahmen den Kampf gegen ihre Herren auf. Am bedeutsamsten war bis zur Zeit die Bewegung der Eisenbahner, deren vier Gewerkschaften die der Angestellten, der Arbeiter, der Maschinisten und Heizer, der Weichensteller und Bahnwärter- zusammen 170000 Mit­glieder umschließen. Die Weigerung der Eisenbahngesellschaften, mit den Vertretern der Organisation direkt zu verhandeln, beantworteten die Eisenbahner durch die Androhung des Ge neralstreiks, und diese Drohung ward Wirklichkeit, als Ver mittlungsversuche der Regierung zu keinem die Eisenbahner befriedigenden Resultat führten, vielmehr von diesen als Vers schleppungsversuche und Täuschungsmanöver empfunden wur den. Der fieberhaft rege Eisenbahnverkehr des riesigen Lon­ dons war zum großen Teil lahmgelegt, die Züge nach der Pro­vinz gingen spärlich und unregelmäßig aus und ein, mit vielen Orten im Westen und vor allem im Norden hatte jede Zugver bindung aufgehört, nur der Verkehr mit den Hafenorten im Süden litt nicht. Mit den Eisenbahnern zusammen traten in manchen Städten die Angestellten und Arbeiter der Tram in den Streit, das Personal der Londoner Untergrundbahn stand auf dem Punkte, sich dem Kampfe anzuschließen, die Telephon­angestellten trugen sich mit Ausstandsgedanken. Die Physio­gnomie des öffentlichen Lebens war verändert, Handel und Wandel stockte und war erschüttert, weil der starke Arm der Arbeiter hemmend in das Räderwerk des Verkehrs eingriff. Mit jeder Stunde brachte der Draht andere, oft widerspruchs­volle Nachrichten. Nach den zurzeit vorliegenden Meldungen ist in London der Generalstreit der Eisenbahner für beendet erklärt worden. Welche greifbaren Resultate er den Kämpfen­den gebracht hat, läßt sich noch nicht klar überblicken. Als wichtigste ihrer Errungenschaften werden die Anerkennung der Organisation genannt und die Einsetzung einer besonderen Kom mission zur Untersuchung ihrer Beschwerden. In Liverpool , York , Newcastle, Hull , Hartlepools und anderen be­deutenden Provinzstädten dauert der Streit fort. Noch läßt sich nicht sagen, ob die Bewegung als Ganzes verebbt ist.