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Die Gleichheit
verwischt. Deswegen fort mit den sogenannten geschlossenen Vorträgen aus unseren Frauenleseabenden!
Das erste vorbereitende Tatsachenargument des Unterrich tenden muß schon die Möglichkeit der Fragestellung, der ersten schüchternen Anknüpfung einer Diskussion in sich tragen. Es muß die Frauen zum Nachdenken zwingen, indem es einen letzten Schluß offen läßt. Es wird sich dabei sehr bald her ausstellen, daß einzelne Frauen durch ihr eigenes Gehirn gezwungen werden, laut zu denken", sie sprechen die Schluß folgerung selbst aus, sie reden, weil sie müssen! Sache des oder der Vortragenden muß es dann sein, mittels den Reihen von Argumenten zu dem Hauptbeweis zwingend hinzu führen. Die Erkenntnis des Neuen, nicht des Gelernten, sondern des Verstandenen muß von selbst kommen! Nach meiner persönlichen Meinung ist nichts gefährlicher, als gerade den Frauen, die nur mit minimalen Vorkenntnissen oder auch ohne sie in die Leseabende kommen, schon fertig Gekochtes und Verdautes vorzusetzen. Es bleibt dann keine geistige Arbeit, keine Betätigung für sie übrig. Und das Ergebnis ist im besten Falle eine Uniformierung des Denkens, eine Nivellierung der Betrach tung und eine schablonierte Ausdrucksweise, kurz Dinge, die gerade in entgegengesetzter Richtung von dem Ziele liegen, welches die Leseabende erstreben: die lebendigen Kräfte des Sozialis mus heben, wecken und entfalten. Die Hauptsache unserer Veranstaltungen ist und bleibt, zum Selbstdenken erziehen. Deswegen sollte nach meiner Überzeugung peinlichst alles vermieden werden, was nach fertigem Urteil, nach gestempelter Meinung, nach Nachreden aussieht. Jede Erkenntnis beruht auf Erfah rung! Deswegen muß den Frauen und Mädchen in den Leseabenden möglichst viel an Tatsachen geboten werden. Tatsachen und immer wieder Tatsachen, aus denen die Besuche rinnen die richtigen Schlüsse ziehen lernen. Es wäre eine große Unterschätzung der normalen Denkfähigkeit, wollte man befürchten, daß man die Gefahr irriger Wege, falscher Schlußfolgerungen heraufbeschwört, wenn nicht jedes Urteil, jede Er fenntnis fir und fertig vorgesetzt wird..
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Nun könnte wohl Antwort auf die Frage erwartet werden: Was ist den Frauen zu geben? Die Antwort. darauf ist gleich schwer und leicht. Ich bin versucht, zu sagen, alles! Alles was greifbar ist, alles was Tatsache ist, alles was Praxis ist! Jedoch liegt mir nichts ferner, als damit. etwa sagen zu wollen, daß den Frauen die Grundlehren des Sozialismus nicht nahegebracht werden dürften. Umgekehrt, sie ihnen verständlich zu machen, sie in ihre Seele festzururzeln, das ist ja der Zweck der Leseabende. Allein die sozialistischen Grundlehren dürfen den Teilnehmerinnen der Leseabende nicht als blutlose Abstraktionen entgegentreten. Die Tatsachen des täglichen Lebens und des proletarischen Kampfes sollen zum Verständnis der sozialistischen Lehren und damit zur Theorie führen. Die Frauen müssen dazu erzogen werden, das Einzelerlebnis, die persönliche Er fahrung immer wieder mit der Lage, dem Leben der Gesamtheit, mit dem gesellschaftlichen Erleben zu verbinden. Das bringt notwendigerweise das Verstehen, die Erkenntnis mit sich, und dann kann weiter gebaut werden,
Alles kann in einem Frauenleseabend besprochen werden, natürlich unter Berücksichtigung der eben angegebenen Gesichtspunkte. Das beste ist immer, beim alltäglichen Leben zu be ginnen, bei dem, was die einzelne Frau aus eigener Erfahrung kennt. Als Grundlage dafür ist das Erfurter Programm mit den Kautsky- Schönlantschen Erläuterungen wohl noch immer das Beste. Jahrelang ist von mir der praktische Teil des Er furter Programms in verschiedenen Leseabenden behandelt worden, zumeist in der Reihenfolge des genannten Schriftchens. Heute scheint mir, daß die systematische Belehrung am wirksamsten bei der Frage der indirekten Steuern einsehen kann. Die Steuerfrage also zuerst behandeln, im Anschluß daran vielleicht den Militarismus und Marinismus. Auch die Forde rungen der unentgeltlichen ärztlichen Hilfeleistung, der Wöchnerinnen- und Säuglingsfürsorge, des Arbeiterinnenschutzes und des Kinderschuhes eignen sich zur Erörterung im Anfang eines Kursus. Dann kann wohl von
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der Religion gesprochen werden, die Schulfrage hängt damit zusammen. Die Themen werden für den Unterricht am besten in bestimmte, in sich abgeschlossene Teile gegliedert, weil der Besuch des Leseabends meist kein absolut regelmäßiger ist. Sind sie durchgearbeitet, so wird die Gleichberechtigung der Geschlechter Lehrgegenstand, ein Thema, das immer sehr aufmerksame und verständnisvolle Hörerinnen findet und zur Frauenfrage überleitet. Vor Frauen vom Frauenwahlrecht zu reden, ohne vorher eingehend gezeigt zu haben, zu welch viclgestaltigen Zwecken es notwendig ist, bedeutet wohl dasselbe, als wenn einem von Geburt an gefangenen Menschen eine Art ohne Aufklärung über die Verwendungsmöglichkeit gegeben würde. An die Frage der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts läßt sich leicht die der allgemeinen Gleichberechtigung aller Gesellschaftsmitglieder in Staat und Gemeinde mit all den daraus hervorgehenden Forderungen des sozialdemokratischen Programms knüpfen.
Sache des Lehrenden ist es natürlich, bei allen Fragen immer den Lebensnerv unserer Forderungen, unsere Weltanschauung erkennbar und begreifbar herauszuheben. Der Lehrende braucht und soll nicht immer alles sagen, er muß aber stets möglichst alles wissen. Es wird wohl selten so viel an eifriger Bildungsarbeit geleistet als von der erwachten und kämpfenden Vorhut des Proletariats. Der Bildungsdrang des einzelnen hat da schon oft Berge von Hindernissen versetzt. Trotzdem muß immer und immer wieder betont werden, daß gerade für die unterrichtende Tätigkeit bei unseren Diskussionsund Bildungsabenden usw. nicht genug Wissen angehäuft werden kann. Mit dieser Forderung berühren wir allerdings schon ein anderes Gebiet, das der systematischen Weiterbildung, an der noch vieles fehlt. Dies Thema fann aber heute nicht einmal gestreift werden.
Zurück zum Unterricht in den Leseabenden. Das Erfurter Programm in seinem prallischen Teil fann gut und gern ein Jahr und noch länger Lehrgegenstand sein. Dann, so lauten wenigstens meine Erfahrungen, ist Bebels Buch:„ Die Frau und der Sozialismus", vorzüglich geeignet, die Lebens- und Weltauffassung der Proletarierin zu fördern. Es kommt dabei wahrlich nicht darauf an, ob die einzelne sich über alle Einzelheiten im Buche klar ist, ob sie zum Beispiel die richtige Antwort darauf geben kann, was unter einer Punaluafamilie zu verstehen ist. Worauf es ankommt, ist, daß sie aus dem Buche die Grundtatsache alles Lebens und Geschehens begreift: daß nichts ewig ist, außer dem Wechsel! Alles fließt!" Damit lernt sie die Bewegung verstehen, die unwiderstehlich zum Sozialismus führt.
Für die Genossinnen, welche den praktischen Teil des Er furter Programms und Bebels Buch durchgearbeitet haben, müßte die Möglichkeit gründlicher Fortbildung vorhanden sein, am besten wohl in einem besonderen Unterrichtsabend, den ich Leseabend für Fortgeschrittene nennen möchte. Leider fehlt es meist an solchen Veranstaltungen. In den Abenden für Fortgeschrittene wäre vielleicht der erste Teil des Erfurter Programms, der grundsätzliche, durchzunehmen. Wenn, wie jetzt in Berlin , kurze Unterrichtskurse für Fortgeschrittene geschaffen worden sind, deren Schülerinnen nach einem Delegationssystem aus den Besucherinnen der allgemeinen Leseabende gestellt werden- nicht zuletzt zu dem Zwecke, mehr Referentinnen zu schulen- so fehlt nach meiner Meinung ein Zwischenglied in der Bildungsstaffel. Frauen aus den allgemeinen Leseabenden die Ausrüstung von Referentinnen geben, wird manchen Erfolg bringen, schließt aber auch überflüssige Kraftausgabe in sich, denn nicht jede hat Begabung und Neigung als Vortragende.
Nicht nur selbst denken und selbst schließen lernen soll die Proletarierin in unseren Leseabenden, sondern auch sprechen, ihren Gedanken Ausdruck geben. Meiner Erfahrung nach ist das beste Mittel dazu, in der ersten Zeit jede beliebige Ge nossin etwas vorlesen zu lassen. Nicht Seiten oder ganze Kas pitel, sondern zwei, drei Sätze. Bald liest jede Genossin gern vor, und aus der Gewöhnung an das laute Lesen entwickelt sich der Drang, die Gedanken laut zu äußern. Auf diese Weise