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Die Gleichheit

sichten haben, aber wir streiten ihnen, die ihre Kinder in die höheren Schulen schicken, das Recht ab, allein über das Wohl und Wehe der Arbeiterkinder zu entscheiden."

Das stimmt, aber diese Auffassung dürfte kaum ausschlaggebend werden, solange der Bürgerausschuß in den Städten eine arbeiter­feindliche Mehrheit behält, weil er auf Grund eines Dreiklassen­wahlgesetzes zusammengesetzt wird, das wegen kleiner Fortschritte auch von unseren Landtagsabgeordneten hingenommen worden ist. Solcher Bürgerausschuß hegt naturgemäß eine Vorliebe für Das men", welche aus den Frauenvereinen hervorgehen, die entweder unter der Protektion Ihrer Königlichen Hoheit" oder unter der Dbhut eines erzbischöflichen Hirten stehen. Für das Recht der Frauen aus den werktätigen Massen hat er nur Ges lächter.

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mg.

Die erste Fabrikärztin in Oesterreich ist für die Wiener Tabatmanufaktur in Rennweg und Ottakring angestellt worden. Der Fortschritt ist namentlich den andauernden Bemühungen der Gewerkschaft der Tabatarbeiterinnen zu verdanken. Er mußte in langer Auseinandersetzung mit den Vorurteilen der christlichsozialen Zabatarbeiterinnen errungen werden. Als diese die Majorität im Krankenkassenausschuß hatten, lehnten sie 1908 den Antrag auf An­stellung einer Arztin ab. Als die nämliche Frage heuer vor den Ausschuß fam, wagten die Christlichsozialen nicht mehr, gegen die Neuerung zu stimmen, und auch der Chefarzt der Kasse gab seinen früheren Widerstand gegen die Anstellung einer Ärztin auf, Möchte das Wiener Beispiel zahlreiche Nachahmung finden. Tausende von Arbeiterinnen in allen Ländern würden diesen Fortschritt be­grüßen.

Eine Kücheninspektorin für die Hotels und Restaurants von Cincinnati ( Ohio , Vereinigte Staaten ) hat das Gesund heitsamt dieser Stadt angestellt. Die neue Beamtin hat die Sauberkeit in den Betrieben des Gastwirtsgewerbes zu kontrollieren und zu beaufsichtigen, ob diese die sanitären Vorschriften innehalten. Die Neuerung ist von den Besitzern und Leitern guter Hotels und Restaurants sehr sympathisch aufgenommen worden. Sie haben die öffentliche Kontrolle ihrer Unternehmungen nicht zu fürchten und erblicken in ihr ein Mittel gegen die Schmutzkonkurrenz" im verwegenſten Sinne des Wortes.

Verschiedenes.

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Hunger, Momentbilder aus der Wirklichkeit des kapita listischen Gegenwartsstaats. Zwei Männer in ärmlicher Klei dung, von verschiedenen Seiten kommend, sehen im Straßenkehricht eine halbe Semmel liegen. Beide stürzen drauf los. Der Jüngere ist etwas flinker und die Beute ist sein. Einen Augenblick sieht es aus, als sollte eine Rauferei entstehen. Da schaut der Sieger den andern an, bricht den Fund in zwei Zeile, und brüderlich verzehren beide die aus dem Kehricht aufgelesene Semmel.

Ein Kind hat eine Brotrinde fortgeworfen. Eine sparsame Seele hat sie auf den Haussims gelegt. Vielleicht findet sie dort ein Hund! Ein sehr gut gekleideter, etwa 25jähriger Mann geht vor­über. Er nimmt unbemerkt, so glaubt er, die Brotrinde und läßt sie in seine Tasche gleiten. In der nächsten Straße sieht er sich möglichst unbefangen um. Gottlob, niemand hat es gesehen! Gottlob, niemand hat es gesehen! Rasch nimmt er die Rinde aus der Tasche und stillt seinen Hunger.

Im Gemischtwarenladen erscheint seit einiger Zeit öfter ein langer hagerer Mensch und kauft drei oder fünf Bogen Schreib­papier. Er trägt einen schwarzen Gehrock, aus dem er etwas her­ausgewachsen ist, aber nur in der Länge, in der Breite scheint es fast, als ob der Rock gewachsen wäre. Wenn der Lange im Laden ist, gleiten seine hungrigen Augen über die ausgestellten Eßwaren hin, als wollten sie etwas aussuchen, doch fauft der Mann nichts außer dem Schreibpapier. Seit einiger Zeit ist er ausgeblieben. Da erzählen eines Tages ein paar Frauen im Laden von einem Manne aus der Nachbarschaft, der sich nackend im Gehrock auf­gehängt habe. Sein einziges Hemd brachte die Waschfrau erst am Tage nachher zurück. Am Abend vor dem Selbstmord hatte der Mann noch Geige gespielt. Eine Geige und einen Stoß geschrie bener Notenblätter war alles, was man in der Stube fand. Sonst nichts, gar nichts.

Ein junges Paar geht spazieren. Die Blicke der Vorübergehen­den folgen den zwei. Ein schönes Paar! Und wie ihnen das Glück aus den Augen lacht! In ihrem Hochzeitsstaat sehen die beiden auch wirklich stattlich aus. Der junge Mann sucht in seinem Etui. Wenn ich nur eine einzige Bigarre hätte!"" Schah, wenn der

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Zinstag vorüber ist, kaufst du dir welche!"" Ja, wenn nur der Möbelhändler bezahlt wäre!"- Der Duft von Rostbratwürstchen zieht durch die Luft. Die junge Frau flüstert: Riech nur, Schatz, wie appetitlich!"" Hast du Hunger, mein Herz?"" Ich? bewahre, ich meine nur, daß es so gut riecht." Aus dem Gartenlokal, an dem das Paar nun vorübergeht, ertönen die Klänge eines Walzers. Wie elektrisiert sehen sich die beiden an: Unser Lieblingswalzer! Ach, wenn wir doch noch 10 Pfennig hätten." Sehnsüchtig bleiben sie stehen und summen die Melodie mit: Rosen, Tulpen, Nelken,

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Alle Blumen welten.

Marmor, Stahl und Eisen bricht, Aber unsre Liebe nicht!

C. W.

Von der stillen Arbeit der Frau im Hause. Am 26. August hat es sich gejährt, daß der redefreudige Wilhelm II. in Rönigsberg als Instrument des Himmels" seine Ansicht über die Hauptauf gabe der deutschen Frau" in die Welt hinaustlingen ließ. Das Borbild der deutschen Frau sollte nach ihm seine Urgroßmutter Luise sein, die natürlich zu den Höchstfeligen" gehört. Was sollten die deutschen Frauen von dieser Fürstin lernen?" Daß ihre Haupt­aufgabe nicht auf dem Gebiet des Vereins- und Versammlungs, wesens liegt, nicht in dem Erreichen von vermeintlichen Rechten, in denen sie es den Männern gleich tun können, sondern in der stillen Arbeit im Hause und in der Familie." Bei der parlamen­tarischen Abrechnung mit der verkündeten Theorie von der Krone ,, aus eigenem Rechte" setzte sich Genosse David auch mit den Außerungen über die stille Arbeit der Frau im Hause und in der Familie auseinander. Er stellte ihr den Hinweis auf die fürstlichen Militärkommandeusen entgegen, die gelegentlich vor der Front ihrer" Truppen vorübergaloppieren oder ihre" Regimenter Revue passieren lassen. Der aufgezeigte Gegensatz zwischen Theorie und Praxis wird in diesen Tagen wieder recht lebendig illustriert. Im August und September halten drei Armeekorps ihre Raiser. paraden ab, und Wilhelm II. fann dann die stille Arbeit" fürst­licher Frauen im Hause nach der stattlichen Zahl weiblicher Ehren­fommandierender beurteilen, die er vor der Front ihrer Regimenter begrüßen wird. Die Raiserin erscheint als Kommandeuse des Schles wig- Holsteinischen Füsilierregiments Nr. 86 und des Pommerschen Kürafsterregiments Nr. 2. Prinzessin Eitel Friedrich von Preußen steht an der Spitze des 12. Dragonerregiments, die junge Frau Großherzogin von Mecklenburg- Schwerin führt die Parchimer Dra goner und ist zugleich zweiter Chef der Frankfurter Leibgrenadiere. Königin Viktoria von Schweden bekleidet die Würde als Oberst des 34. Füfilierregiments. Die Großherzogin von Baden kann mit ihrem Grenadierregiment Nr. 4 aufmarschieren. Chef des Elisabethregiments ist die Kronprinzessin von Griechenland und Herzogin von Sparta . Die Königin von Holland wird wahrscheinlich ihre" Wandsbecker Husaren nicht selbst vorführen; auch die Zarin fommandiert dies. mal ihr Regiment nicht selbst. Man sieht aus dieser Zusammens stellung, wie treulich die allerhöchsten Kreise den Grundsay respet tieren: Die Frau gehört ins Haus!

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Aber freilich hatte Wilhelm II. Recht, die stille Arbeit" höchster Frauen im Hause des Militarismus nicht auf eine Stufe zu stellen mit dem Hasten und Tun der Frauen auf den lauten Tummelplägen der Industrie, der Landwirtschaft, des Ver­fehrs, jenes Hasten und Tun, das zum Kampfe für die vermeint­lichen Rechte" treibt. Wo meldet die Geschichte davon, daß kronen­geschmückte Ehrenkommandeusen mit ihren" Truppen zusammen Gefahr und Tod ins Antlig geblickt hätten oder ihnen wenigstens auf dem Schlachtfeld und in Lazaretten als hingebungsvolle Samas riterinnen zur Seite gestanden wären? Ihre Würde: ein Schau­spiel, ein Schauspiel nur!" Die aus dem Hause zum Erwerb ge drängten Frauen aber fallen zu Tausenden und Hunderttausenden auf dem größten und furchtbarsten aller Schlachtfelder: dem Schlacht feld der ausgebeuteten Arbeit. Ist es nicht auch vergossenes Blut, vernichtetes Leben von Frauen, von dem uns jene erschreckenden Zahlen der Unfallstatistik erzählen, die in den 24 Jahren von 1886 bis 1909 das Riefenopfer von 9410 152 Unfallgemeldeten, 2140798 Schwerverwundeten und 172 362 Getöteten ausweisen? Hier der Ernst des Lebens, das im Banne der kapitalistischen Ausbeutung schmachtet. Er gebiert das Drängen nach vermeintlichen Rech ten", welche die Proletarierin nügen wird, ihr wirkliches Erst geburtsrecht zu bekräftigen: den Kampf im Dienste der sozialen Revolution.

Berantwortlich für die Redaktion: Frau Klara Bettin( Bundel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bet Stuttgart .

Druck und Berlag von J. H. W. Dieß Nachf. G.m.b.8. tn Stuttgart .