Nr. 25

Die Gleichheit

Betätigung der Massen und die überragende Stellung und Macht der Führer; die Demoralisation, Trägheit und Kor­ruption mancher von diesen: das alles und noch manche andere unerquickliche Züge des englischen Trade Unionismus sind gesetzmäßige Folgen seiner traditionellen friedlich- schiedlichen Politif. Diese Folgen mußten unvermeidlich zum Bewußtsein der Arbeiter in dem Maße kommen, als sich die Unternehmer­klasse unter dem Drucke der auswärtigen Konkurrenz immer widerspenstiger bei Verhandlungen, immer steifnackiger gegen Ronzessionen erwies, zum Aufbau eigener Organisationen über­ging und mit wachsender Dreistigkeit die Organisationen der Arbeiter angriff, wie zum Beispiel in dem berühmten Taff­Vale- Prozeß. Schon seit dem Beginn des jezigen Jahrhunderts fonnte man unter den Arbeitermassen eine gewisse Gärung be merken, die ungeheuer zunahm, als die vor einigen Jahren eingetretene Aufwärtsbewegung der Lebensmittelpreise einen Kampf um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen un erläßlich machte. Die Arbeiter standen da mit einem Male von Angesicht zu Angesicht den Resultaten der alten trade- unio nistischen Taktik gegenüber; ihre Kräfte erwiesen sich als un­zulänglich, die mächtigen Unternehmerverbände zu Boden zu ringen; ihre Schlagfertigkeit war durch die langfristigen Tarif­vereinbarungen und durch das ins uferlose ausgebaute Schlich tungs- und Einigungssystem gelähmt, und ihre Führer waren feineswegs eine Quelle der Stärke. Die großen Bewegungen des vergangenen Jahres der zweimalige Ausstand der Baumwollspinner, der mehrmonatige Kampf der Kesselschmiede und der erst dieser Tage beendete Streik der südwalisischen Bergarbeiter, die sich unter Kontrattbruch, Verlegung der Einigungsvorschriften und der gewerkschaftlichen Disziplin ab­spielten, waren die offene Protlamation des Geistes der Auf­lehnung gegen die bisherigen Methoden des gewerkschaftlichen Kampfes. Die jüngste Massenstreikbewegung drückte das histo­rische Siegel unter die vollzogene Absage an die alten Tradi tionen des Trade- Unionismus.

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Selbst wenn die jüngsten Ereignisse auch nur diese Absage markiert hätten, tönnten sie als epochemachend bezeichnet wer den. Aber die Vorgänge und das Milieu, das sie herbei­führten, haben noch mehr bewirkt: sie bedeuten einen voll. ständigen Bruch mit den bisherigen Formen des Klassen­fampfes in England überhaupt. In diesen Tagen hat das englische Proletariat seine Klassensolidarität wieder­gefunden, die ihm seit 60 Jahren abhanden gekommen war, es hat seine Macht fühlen gelernt wie noch nie. Nicht nur zog eine Gruppe der Transportarbeiter nach der anderen in den Kampf, um sich gegenseitig zu unterstützen, sondern die ge­samte Arbeitertlasse schaute mit fieberhaftem Interesse dem Ringen zu, bereit, jeden Augenblick sich in die Arena zu stürzen und die Losung zu einer allgemeinen Revolte gegen die Kapitalistenklasse zu geben. Ähnliches hat das moderne England noch nicht gesehen. Andererseits, welche unvergeßliche polis tische Lektion hat die Regierung dem kämpfenden Proletariat in diesen historischen Tagen erteilt die Regierung des Neu­liberalismus, die Regierung des Volkswillens" gegen die usur­patorische aristokratische Oligarchie, die Regierung der aller­wunderbarsten sozialen Reformen! Durch die sofortige Mobili­sierung des gesamten stehenden Heeres, durch die Organisation eines noch nie dagewesenen Polizeiterrors, durch die Aufforde rung an das Bürgertum, eine freiwillige Polizeimiliz zu bilden, durch die brutale Offenheit, mit der sie sich auf die Seite des Unternehmertums stellte: hat diese liberalste aller Regierungen, das Bewunderungsobjekt aller bürgerlichen Radikalen und aller Opportunisten im sozialistischen Lager, bewiesen, daß selbst der demokratischste Vater Staat eine Gefährdung der heiligen Inter­effen der Kapitalistentlassen nicht dulden wird, daß auch er entschieden ist, jede ernste Auflehnung der Arbeiterklasse mit blutiger Gewalt niederzuschlagen. Diese Lektion ist von allen Teilen der englischen Arbeiterklasse verstanden worden und wird ihr nie mehr verloren gehen.

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So bedeuten die jüngsten Ereignisse einen Bruch nicht nur mit der trade- unionistischen, sondern auch mit der ganzen sozial

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politischen Vergangenheit der englischen Arbeiterklasse. In diesen wenigen Wochen hat das englische Proletariat die rück­ständige Entwicklung seines Klassenbewußtseins nachgeholt und eine ganze Revolution im Geiste durchgemacht. Unsere großen sozialistischen Jdeale haben neue Tausende und aber Th. Rothstein, London . Tausende Vorkämpfer gefunden!

Elise Schweichel.

Eine der ältesten unter den lebenden Parteigenossinnen begeht am 17. September ihren achtzigsten Geburtstag: Elise Schweichel, die Witwe unseres unvergeßlichen Robert Schweichel . Wenn sie auch niemals im politischen Kampfe der Arbeiterklasse persönlich hervorgetreten ist, so verdankt diese doch viel dem stillen, selbst losen Wirken der unbeugfamen Energie dieser Frau. Was der Dichter und Volksmann Robert Schweichel für das Proletariat gewirkt hat, das wäre nicht zu denken ohne die hingebende, vers ständnisvolle Förderung, die er durch seine Lebensgefährtin erfuhr, die Genossin seiner Ideale und der Kämpfe, die er dafür bestand. Ihre absolut unabhängige, kraftvoll herbe Natur war die glück lichste Ergänzung zu dem milderen Wesen des Dichters und Träumers.

Die junge Frau war Robert Schweichel in3 Eril nach der Schweiz gefolgt, in eine unsichere Butunft, als die preußische Reaktion nach 1848 den Freiheitskämpfer von Ort zu Ort verfolgt und existenzlos gemacht hatte. Sie teilte den Kampf ums tägliche Brot tapfer mit dem Gatten; alles, was sein dichterisches Schaffen hemmen konnte, war sie bemüht, ihm aus dem Wege zu räumen. Sie war eines Sinnes mit dem geliebten Manne, als er die kaum errungene Position in der Schweiz opferte und 1861 als Amnestierter nach Deutschland zurückkehrte, um sich lehrend und agitierend dem Befreiungskampf des Proletariats zu widmen. Während Robert Schweichel sich später wieder der Dichtkunst und Schriftstellerei zu­wendete und seine prächtigen, wahrhaft volkstümlichen Erzählungen und Romane schuf, griff auch Frau Elise wiederholt zur Feder. So hat sie für den Neue- Welt- Kalender unter dem Namen Elise Langer eine Reihe trefflicher kleiner Erzählungen aus dem Leben des Voltes geschrieben, an denen viele Tausende aus unseren Reihen sich erfreuten. Ihr Bestes aber gab sie in dem sozialen Roman Vom Stamme gerissen", der in verschiedenen Partei­blättern erschien. In diesem Buche, das sie aus der ganzen Fülle ihrer eigenartigen Individualität geschrieben, hat sie dem jungen Schweichel, dem revolutionären Feuerkopf, ein wundervolles Dent mal errichtet, ihm und der Geliebten seiner Jugend, die der Tod ihm entriß. Wie sie die Idealgestalt dieses Mädchens mit allem Zauber höchster Anmut umgibt, das zeugt von einer ganz unge­wöhnlichen Seelengröße der Verfasserin.

Seit Robert Schweichel vor vier Jahren hochbetagt starb, ver­bringt Elife Schweichel ihre Tage im Andenken an den Dahin­geschiedenen. Ihr Sinn ist noch ebenso aufrecht, ihr Handeln so resolut wie einst, und mit ungebrochener Geistesfrische und leiden­schaftlichem Interesse lebt sie das Leben der Partei mit, empört sie sich über jede Unbill, die der Sozialdemokratie von ihren Feinden widerfährt, und freut sich des glänzenden Aufstiegs der Bewegung, deren unscheinbare Anfänge sie noch miterlebt hat. So ist ihr Leben vorbildlich für viele Tausende Frauen, denen es nicht gegeben ist, selbst im dichtesten Getümmel der politischen Kämpfe des befreiungs­sehnsüchtigen Proletariats zu stehen. Dank und Grüße der Ge­nofsinnen der ehrwürdigen und hochverdienten Frau bei der achtzigsten M. Kt. Wiederkehr des 17. September!

Die vierte Frauenkonferenz in Desterreich.

I. K. Das Frauenreichskomitee der österreichischen Genossinnen hat für den 28. und 29. Oftober nach Innsbruck die vierte Frauen­reichskonferenz einberufen. Die Genossinnen konnten sich nur schwer entschließen, die Konferenz nach Innsbruck einzuberufen, so weit von Wien entfernt. Aber sie sind durch einen Parteitagsbeschluß gebunden, diese alle zwei Jahre zusammen mit dem Parteitag der Deutschen Sozialdemokratie in Österreich abzuhalten. Schon vor zwei Jahren wäre eine Frauenreichskonferenz in Reichenberg fällig gewesen. Weil jedoch im April 1908 eine Konferenz der Genossinnen getagt hatte, deren Beschlüsse noch nicht ganz durchgeführt waren, weil außerdem auch Reichenberg, der Ort des damaligen Partei­tags, zu entlegen schien, unterblieb mit Zustimmung der Partei leitung die Tagung der Genossinnen. Beinahe möchten wir nun