Nr. 26

Die Gleichheit

Ausgang nach Möglichkeit vorzubeugen und den Mangel an mate­rieller Unterstützung einigermaßen wettzumachen, der eine Folge der schwachen gewerkschaftlichen Organisation ist, werden durch die Ver­mittlung der jeweiligen Streilleitung die Kinder der Kämpfenden in andere Städte verschickt. Die Leitung stellt an auswärtige Ar­beiterorganisationen die Anfrage, wieviel fleine Proletarier in der betreffenden Stadt für die Dauer des Kampfes unentgeltlich Db dach und Pflege finden können. Die Namen organisierter Prole­tarier, die ein Kind aufnehmen können, werden in eine Liste ein getragen nebst dem Vermerk, daß die Betreffenden einen Knaben oder ein Mädchen vorziehen. Ein Mitglied des Streiffomitees be­gleitet die Kinder in ihre neue zeitweilige Heimat. Unterwegs wie an Ort und Stelle werden die jungen Auswanderer mit Jubel und Begeisterung empfangen. Die gegenwärtigen großen Aussperrungen in Piombino  , Porteferraio und auf der Insel Elba  , die bereits mehr als hundert Tage dauern, und deren Ende nicht abzusehen ist, hatten bereits dazu geführt, daß die Kinder der Kämpfenden auswärts untergebracht wurden. In den Städten, wo sich die or= ganisierten Arbeiter zur Aufnahme von Kindern bereit erklärt hatten, las man einen Ausruf wie den folgenden: Arbeiter! Die Aus­beuterclique in Piombino   will unsere Arbeitsbrüder durch den Hunger zur Unterwerfung zwingen. Wir werden das nicht zulassen. Die Kinder unserer fämpfenden Brüder sollen von uns wie eigene Kinder behandelt werden. Ihre Mütter sollen nicht weinen bei uns sollen die Opfer der Ausbeutung wie unsere eigenen Kinder aufgehoben sein. Willkommen!"

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In den letzten Jahren, namentlich während der großen Aus­sperrung in Terni   und Parma  , sind wiederholt die Kinder der Kämpfenden auswärts brüderlich versorgt worden. Es ist dabei zu großartigen Außerungen der Klassensolidarität gekommen. Die jungen Gäste sind oft besser als die eigenen Kinder der Familie gepflegt worden. Was dem eigenen Kinde aus Dürftigkeit oft versagt werden mußte, wurde in selbstloser Hingabe freudig dem Ausgesperrten" geboten. Die kleinen Ausgesperrten", die meist einer zahlreichen proletarischen Familie angehören, fühlen sich auf Besuch und sehr wohl. Sie werden geliebfost, mit besonderer Sorgfalt gepflegt, ja hier und da geradezu verwöhnt. Sehr oft gibt die von der Not zur Sparfamleit gezwungene Familienmutter den größeren Bissen ihrem Gaste". Kurz, es geht den verschickten Kindern oft besser als daheim. Wenn der Kampf zu Ende ist, tut es mehr als einem Kinde leid, nach Hause zurückzukehren. Zwischen den Eltern und Pflegeeltern hat sich unterdessen gewöhnlich ein reger Briefwechsel entsponnen. Die Mütter besonders haben sich aneinander ange= schlossen. Ihr Liebstes haben sie einer der gestern noch ganz un­bekannten Schwestern anvertraut, und diese hat es gehegt und ge­hütet wie ihr eigen Fleisch und Blut. Die opferfreudige, tatkräftige Solidarität, die die Arbeiterfamilien den Adoptivkindern erweisen, ist ein schönes Zeugnis der Selbstlosigkeit, des Jdealismus in der italienischen Arbeitertlaffe. Die Liebe und Sorgfalt, die Freunde" " Fremden" erzeigen, fann mit stolzer Zuversicht alle erfüllen, die an das sozialistische Endziel glauben und von seiner Verwirklichung eine Vertiefung und Veredlung der Beziehungen von Mensch zu Mensch, eine Veredlung auch des Familienlebens erwarten. Das Beispiel zeigt uns, daß der als unausrottbar erklärte Egoismus der einzelnen, daß der philisterhaft engherzige Familiensinn" dem Bewußtsein von der Klassenzusammengehörigkeit weicht.

Trotzdem dürfen wir über der geschilderten edlen Art, die prole tarische Klassensolidarität zu betätigen, die Kehrseite der Medaille nicht vergessen: die mangelnde starte Organisation des italienischen Proletariats. Der Empfang der Kinder von Ausgesperrten und Streifenden gestaltet sich heutzutage in Italien   zu einer imposanten Volksdemonstration und wird von der Arbeiterpresse mit Genug tuung als Erfolg und Sieg gepriesen. Zu diesem Erfolg trägt je­doch zweifelsohne die Vorliebe der Italiener für das Demonstras tive, für das Straßenleben bei. Sie ist von Einfluß darauf, daß sich zum Empfang der Kinder in den größeren Städten viele Zehn­taufende einfinden, daß die Straßen abgesperrt werden müssen und die Demonstration nicht selten bis in die tiefe Nacht hinein dauert. Unverzeihlich wäre es aber, wenn Arbeiter und Arbeiterinnen sich der Täuschung hingeben wollten, als ob die Beteiligung und Bes geisterung bei dem Empfang von Kindern ein reiner Ausdruck des Verständnisses für die Bedeutung des Vorganges wäre. Würden die Demonstranten darauf geprüft, ob fie den notgedrungenen Bes such der Kinder als einen Beweis für den Klassengegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten betrachten, als einen Beweis da für, daß dem ausbeutenden Kapital tein Herz in der Brust schlägt", daß der Besitz das menschliche Empfinden tötet; würde man sie fragen, ob sie von der Notwendigkeit überzeugt find, das Lohn­system abzuschaffen, so müßten sich die Reihen sofort lichten, von den

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vielen Tausenden blieben vielleicht nur ein paar Hunderte übrig. Kurz, es fehlt den demonstrierenden Massen noch ganz bedeutend an der Erkenntnis, die zur richtigen Einschätzung der wirtschaft­lichen und politischen Kämpfe der Arbeiter und damit zur richtigen Würdigung der Organisation als eines Mittels führt, die Gegen wart besser zu gestalten und das sozialistische Endziel zu verwirk lichen. Noch sind es wenige, die scharf, bewußt verstehen, daß die Lohnstlaverei erst enden kann, wenn die organisierten Proletarier die Macht im Staate haben und dazu benutzen, das Privateigen­tum an den Produktionsmitteln abzuschaffen, die Ursache der Aus­beutung und Knechtung des Menschen durch den Menschen.

Es fehlt nicht an hoffnungsreichen Anzeichen, daß auch in Italien   die Massen in naher Zukunft von flarem Klaffenbewußt sein beseelt werden. Die Ausgebeuteten werden dann nicht nur während der Streits und Aussperrungen, sondern stets Klassen solidarität üben, weil sie die Notwendigkeit erkennen, in festge schlossener Phalang im Kampfe gegen den gemeinsamen Feind zu sammenzustehen. Dementsprechend werden Opferwilligkeit und Disziplin zur Regel werden und die Kräftigung, den Ausbau der Organisation sichern. Lohnkämpfe finden dann die Proletarier ge rüstet. Den Müttern bleibt der Schmerz der Trennung von ihren Kindern erspart, den Kindern die Dual des Heimwehs, die in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes oft herzzerreißende Szenen hervor ruft. Allgemein muß sich die Erkenntnis durchsetzen, daß die beste und tatkräftigste Hilfe darin besteht, zusammen eine straffe Organi sation aufzubauen, die kämpfenden Proletariern ein Schutz und Schirm sein und verhindern kann, daß die Hungerpeitsche der Kapitalisten die Kinder von den jammernden Müttern trennt. Mit der Klärung des Klassenbewußtseins werden sich auch die italie­nischen Proletarierinnen zu der Erkenntnis durchringen, daß nur durch den proletarischen Klassenkampf die Vorbedingungen geschaffen werden für das Gedeihen ihrer Kinder, daß nur der Sozialismus die Befreiung der Menschheit bringt. Angelika Balabanoff.

Aus der Bewegung.

Die rege Beteiligung der Genossinnen an den Arbeiten der Frauenkonferenz und des Parteitags ist schon an anderer Stelle im allgemeinen gewürdigt worden. Wir fügen hier noch einige Daten hinzu. Vorsitzende der Frauenkonferenz waren die Genoffinnen 3ieß und Baader; als Beisigerinnen und Schriftführerinnen fungierten die Genofsinnen Fahren wald, Wadwig, Pufe, undeutsch und Grünberg. Den Bericht der Mandatprüfungstommission erstattete Ge­nofsin Agnes. Am Parteitag nahmen 35 weibliche Delegierte teil, außerdem Genoffin Ziet als Mitglied des Parteivorstandes und Genoffin Bettin als Mitglied der Kontrollkommission. Dem lei tenden Bureau gehörte Genossin Baumann als Schrift­führerin an, der Mandatprüfungskommission Genossin Matschke, der Beschwerdekommission Genoffin Blase. An den Debatten beteiligten sich neun Genofsinnen, davon sprachen einige mehrmals. Genossin 3ieß setzte sich mit der Kritik an dem sogenannten Geheimzirkular des Parteivorstandes" auseinander, stellte für Parteiorganisationen, welche ihren weiblichen Mitgliedern die Gleichheit" unentgeltlich liefern, eine Prüfung der Frage in Aussicht, ob eine Verbilligung des Blattes möglich sei, und be­gründete die Resolution der Frauenkonferenz, den Mutter- und Säuglingsschuh betreffend. Daß der Parteivorstand keine frühere und traftvollere Initiative zu einem Massenprotest wider die Kriegs­hetze und den Imperialismus ergriffen, wurde von den Genossinnen Luxemburg   und Bettin kritisiert. Die erstere begründete außer­dem den Zusakantrag zu Bebels Marofforesolution, der leider nicht zur Annahme gelangte; die letztere befürwortete ihren An­trag auf Ausgestaltung der Parteisekretariate und Anstellung weib­licher Sekretäre. Genossin Duncker gab die Begründung der Re­solution, die eine Regelung der Stuttgarter Parteizwistigkeiten in die Wege leiten soll und die Zustimmung des Parteitags fand; sie beantwortete eine Gegenerklärung des Genossen Keil. Gelegent­lich der Kritik an dem Geheimzirkular" des Parteivorstandes fielen Angriffe auf den Buchdruckerverband, die von Genossin Bien zu rückgewiesen wurden. Die Förderung der Jugendbewegung ward von den Genofsinnen Grünberg und Fahrenwald besür wortet. Genossin Juchacz   begründete die Resolution der Frauen­fonferenz betreffend die Veranstaltung von Frauenversammlungen vor dem Zusammentritt des Reichstags. An den Debatten über die Maifeier beteiligte sich Genoffin Ennenbach.

Vom Aufstieg der proletarischen Frauenbewegung in Ham­ burg   während des letzten Geschäftsjahres ist Erfreuliches zu mel