16
Die Gleichheit
männlich und nur 7 Prozent weiblich! Auch die vorbereitenden Fachschulen( Handels- und Gewerbeschulen) für Mädchen, zur Heranbildung hochqualifizierter Berufsarbeiterinnen, verdienen bei ihrer hohen Bedeutung für Handel und Gewerbe die größte Aufmerksamkeit und Förderung des Staates und der Gemeinden."
Ein zahlreicheres Publikum hatte sich eingefunden, um dem Vortrag der Berner Privatdozentin Gertrud Woker über„ Frauen erwerbsarbeit und Rassenentwicklung" zu lauschen. Leider sprach diese Rednerin sehr leise, so daß manche ihrer Ausführungen verloren gingen. Was sie brachte, erscheint als ein schwacher Aufguß der von den sozialistischen Frauen längst für Mutter- und Säuglingsschutz gestellten Forderungen. Frau Wokers Leitsätze lauten:
-
„ Die Erwerbsarbeit der Frau ist eine wirtschaftliche Notwendig keit, die sich nicht mehr aus der Welt schaffen läßt. In der Erwerbsarbeit der Frau unter den gegenwärtigen Bedingungen stecken sowohl die Entwicklung der Rasse begünstigende als auch hemmende Faktoren. Die Erwerbsarbeit begünstigt die Rassenentwicklung durch die Verminderung der Versorgungsehen, durch Beseitigung der Verquickung des Sexuellen und Materiellen in der Ehe, durch Ermöglichung einer früheren Eheschließung der Männer, Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse der arbeitenden Klassen, Gewöhnung der jungen Mädchen an eine geregelte Tätigkeit und die dadurch bedingte Selbsterziehung sowie endlich durch Erweiterung der Lebenstenntnisse der Frau. Aber eine Schädigung der Raffenentwicklung infolge der Erwerbsarbeit der Frau ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen freilich nicht zu leugnen. Diese Schädigungen sind bedingt durch die Ausbeutung der Arbeitskraft der Frau einer Ausbeutung, der jedes Individuum, jede Klasse verfällt, die über keine die Selbstverteidigung ermöglichenden staatsbürgerlichen Rechte verfügt, ferner durch Verminderung der Eheschließungen, auch durch Eheverbote des Staates gegenüber seinen weiblichen Angestellten( die Rednerin weist darauf hin, wie man in dem unter dem Rückgang der Bevölkerung leidenden Frankreich durch Aufhebung solcher Eheverbote die besten Erfahrungen gemacht hat). Die Entwicklung der Rasse wird weiter gehemmt durch unzureichende Schonung vor und nach dem Wochenbett, die Vereitelung des Stillens, Überlastung der Frau( neben der Mutterschaft außerhäuslicher Beruf und Berufspflichten), Beschäftigung von Frauen, insbesondere von werdenden Müttern in bestimmten gesundheitschädlichen Betrieben. Aber diese rassenschädigenden Faktoren der weiblichen Erwerbsarbeit sind nur Übergangsübel, die sich beseitigen lassen. Man muß zu diesem Zwecke fordern: rechtliche Gleichstellung aller Staatsbürger und Staatsbürgerinnen, Festsetzung von Mindestlöhnen( siehe Australien ), weitgehende staatliche Kontrolle der Arbeitsverhältnisse, insbesondere in der Heimarbeit, Beseitigung der Zwangszölibate gegenüber weiblichen Staats- und Privatangestellten, Schutzgesetze, die sich nicht auf das Verbot der Arbeit vor und nach dem Wochenbett beschränken, sondern zugleich für den Arbeitsausfall während dieser Zeit durch staatliche Versicherung ein Aquivalent( siehe Schweiz ) schaffen, obligatorische Errichtung von Stillstuben, Verteilung von Stillprämien, Errichtung von Einfüchenhäusern und Genossenschaftsfüchen, Krippen, Kindergärten; vollständige oder zeitweise Ausschließung der Frauen von bestimmten Betrieben."
An diesen Vortrag schloß sich eine längere Diskussion, die sich um den schweizerischen Entwurf zum Mutterschutzgesetz" drehte, dessen Annahme von der Referentin leider noch bezweifelt wurde. Die Abendversammlungen des Verbandes waren recht belanglos. Das gilt besonders auch von dem Vortrag der Frau Dr. Wegscheider- Ziegler über„ Schaffung neuer Lebenswerte". Die Dame behandelte das Thema in einer Weise, die wir Sozialistinnen nicht einmal zur Bildung unserer Backfische anzuwenden wagen würden. Alles in allem scheint der Verband fort schrittlicher Frauenvereine auf ein ziemlich flaches Niveau herabgefunten zu sein. Mit dem neuen Leben, das von seinen Vertreterinnen auf die männlichen Fortschrittler überströmen soll, hat es gute Weile. Der deutsche Fortschritt" bewegt sich abwärts, das Geschlecht seiner Belenner vermag daran nichts zu ändern.
Verschiedenes.
B
a. n.
Gegensätze. Vor kurzem ist der Bericht über die Tätig. keit der Kinderschuhkommission von Berlin und Um gegend herausgegeben worden. Man sollte meinen, er hätte jeden, der noch menschliches Gefühl besitzt, mit unendlichem Mitleid für die armen, hungrigen, ausgebeuteten oder mißhandelten Kinder erfüllen müssen. Es scheint menschlich einfach selbstverständlich, daß jeder, der nicht selbst an der Besserung der im Bericht beleuchteten Zustände mitwirken kann oder will, wenigstens Genugtuung darüber empfindet, daß etwas für diese unglücklichen Kinder geschieht, diese Armsten der Armen. Da, wo der Geldsack das
-
Nr. 1
Herz ersetzt, wo der Ausbeutung der Kinder lächelnd zugesehen wird, sollte man wenigstens Mitleid mit Opfern von Mißhandlungen erwarten. Das fostet ja nichts und macht sich gut. Wo aber irgendwie die sozialdemokratische Partei an der Aufdeckung solcher Mißstände einen rühmlichen Anteil hat, da geht den Besitzenden Verstand und Vorsicht flöten, und nur der ohnmächtige Haß und die blinde Wut behalten die Oberhand. Kaum war der Bericht unserer Berliner Kinderschutzkommission erschienen, so schrieb die„ Norddeutsche Allgemeine Zeitung" auch schon einen Hezartikel dagegen, und die„ Berliner Neuesten Nachrichten" druckten ihn mit sichtlichem Behagen unter dem Titel ab:" Die Enteignung der Polizei durch die Sozialdemokratie". Nach dem Ausdruck der Verwunderung darüber, daß die Polizei die Aufstellung„ roter Ordner" bei der Friedensdemonstration im Treptower Part gelitten hätte, kommt das Blatt auf den Bericht der Kinderschutzkommission zu sprechen. Es findet kein Wort gegen die gewerbliche Ausbeutung der Kinder, über all die bittere Not, die die Arbeitereltern tro besserer Einsicht zwingt, ihre Kinder in Wind und Wetter früh vor Tagesanbruch auf die Straße zu jagen. Aber über den einen Fall festgestellter Mißhandlung berichtet die Zeitung in trefflich für ihren Gebrauch zugeftugter Weise. Alles, was die Eltern des mißhandelten Kindes belastet, wird sorgsam fortgelassen, die vorgefundenen frischen Narben auf dem Körper des Kindes werden mit keinem Wort erwähnt. In unserem Bericht heißt es weiter: Die Kontrolleurin verlangte nun die Rute zu sehen, womit das Kind gezüchtigt wird. Es waren fest zusammengeschnürte Reiser, ungefähr einen halben Meter lang. Die losen Reiser waren abgeschlagen, so daß es nun wie ein Knüppel wirken mußte." Die„ Nordd. Allg. 3tg." bricht so ab, daß der Anschein erweckt wird, als ob das Kind nur mit einer gewöhnlichen Rute geschlagen worden wäre. In dieser Weise wird weiß schwarz und schwarz weiß. So flingen denn auch die Schlußfolgerungen in Entrüstung über den Rektor aus, der das Kind man höre und staune!, einer Beauftragten der sozialdemokratischen Partei zur Veranlassung ärztlicher Untersuchung übergeben hat". Voll heimlicher Wut und heiligem Denunzianteneifer frägt das Blatt:„ Wie kommt der Rektor dazu? Will man die Bevölkerung mit Gewalt an die Ausübung behördlicher Obliegenheiten durch die Sozialdemokratie gewöhnen?" Dabei vergißt es ganz, sich und seinen Lesern flarzumachen, daß ja erst infolge der Mangelhaftigkeit und der laxen Handhabung des Kinderschutzgesetzes unsere Tätigkeit auf diesem Gebiet zur dringenden Notwendigkeit geworden ist. Nachdem das Blatt noch auf die Resolution der Berliner Versamm lungen vom November 1910 hingewiesen hat, kommt es zu dem Schlusse, daß auch bei der Tätigkeit der Kinderschutzkommission die Parteiziele Zweck und eigentlicher Inhalt sind". Das trifft gewiß zu, aber in anderem Sinne, als es das biedere Regierungsorgan versteht. Und gerade weil dem so ist, kommt auch der Schutz der ausgebeuteten, mißhandelten und verwahrlosten Kinder als Zweck der Tätigkeit voll zu seinem Recht. Wir wissen, daß nur ein körperlich, geistig und sittlich gesundes Geschlecht den Kampf für die soziale Befreiung der Arbeiterklasse siegreich zu führen vermag. In den Kindern schützen wir die Zukunft des Proletariats und damit der Menschheit. Wir verweisen das Blatt auf die Tatsache, daß schon 1907 im Deutschen Reiche die abhängigen, mit anderen Worten die ausgebeuteten Arbeitskräfte drei Viertel der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung ausmachten. Von solchen Gedanken durch drungen, wirken die Genossinnen und Genossen mit Opferfreudig feit und Uneigennützigkeit für den Schutz der Kinder, die zu Opfern der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse werden. Wir wissen, daß diese Gedanken den Herren fernliegen, deren Interessen die„ Norddeutsche Allgemeine Zeitung" rücksichtslos vertritt. Wir verstehen auch, daß in jenen Kreisen die Eigenschaften nur schwer verstanden werden, die auf ihre Arbeit angewiesene Frauen und Männer in den Dienst einer guten Sache stellen. Immerhin sollte sich aber das Blatt hüten, aus diesen Kreisen heraus auf andere zu schließen. Die unüberbrückbaren sozialen Gegensäge zwischen ausbeutenden Klassen und ausgebeuteten Massen haben auch zwischen ihnen schroffe Gegensätze im Fühlen, Denken und Handeln geschaffen. Gerade das in unserer Partei verkörperte beste Leben der Massen beweist täglich und stündlich, daß die Habenichtse bereit sind, ihre ganze Person für das einzusetzen, was sie als gut und gerecht erkannt haben. Freilich, wie sollte eine absterbende Welt die emporstrebende Zukunst verstehen? Auch in der Sache des Kinderschutzes kann die erwachte Arbeiterklasse der dünnen Schicht derer um die„ Norddeutsche Allgemeine Zeitung" mit Goethe zurufen:„ Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir." Emma Dölt.
Verantwortlich für die Redaktion: Frau Klara Zetkin ( Bundel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bet Stuttgart . Druck und Verlag von J. H. W. Diez Nachf. G.m.b.8. in Stuttgart .