28

Die Gleichheit

tun müssen. Jedoch die liberalen Mehrheiten in den Stadtparla menten und verwaltungen fürchten, die Händler zu schädigen, wenn sie Kartoffeln und Gemüse in großen Wiengen billig einkaufen und zum Selbstfostenpreis an die ärmeren Bewohner abgeben. So haben Magistrat und Stadtverordnetenmehrheit von Berlin die Anträge der Sozialdemotraten abgelehnt, die den Bezug dieser Lebensmittel durch die Gemeinde forderten. Nur Seefische werden durch die Stadt auf den Markt gebracht. In gleicher Weise wurde noch in verschiedenen Städten eine Linderung der Not verhindert, während in einigen anderen wieder der Beweis für die Durchführ barkeit der sozialdemokratischen Forderungen durch die Tat geführt wird. Wenn sich die liberalen Stadtverwaltungen diesen Forde rungen versagen und ihre Pflichten gegen die Gemeinden mit Füßen treten, so tun sie das, um die Sonderinteressen gewisser Erwerbss stände zu fördern, die ihnen politische Gefolgschaft zu leisten pflegen. Solche Fortschrittler unterscheiden sich im Grunde genommen von Konservativen und Zentrum nur durch ihre Feigheit und Halbheit. In Königsberg haben sie sich allerdings sogar erdreistet, gegen die Aufhebung der brotverteuernden Getreideeinfuhrscheine zu stimmen, weil die Königsberger Getreidehändler bei diesem System neben den Junkern verdienen. Genau so wie Konservative und Zentrum weigern sich viele Fortschrittler, Maßnahmen zuzulassen, durch die die Teuerung gemildert würde, weil dadurch der Profit einer Minder­heit der Bevölkerung zugunsten der Allgemeinheit geschmälert würde. Aus der Verlegenheit, in die die Herrschenden durch die Teuerung geraten sind, suchen sie sich dadurch herauszuhelfen, daß sie in der Ordnungspresse die Agitation der Sozialdemokratie gegen den Lebens­mittelwucher als Aufreizung zu Mord und Brand verschreien. Dazu müssen ihnen nicht nur die blutigen Zusammenstöße zwischen Volk und Armee am 17. September in Wien dienen, wie bestellt, kam noch ein wahnwißiges, mißglücktes Attentat hinzu, das ein politisch Unzurechnungsfähiger, ein Dalmatiner am 5. Oftober im öfter­reichischen Reichsrat gegen den Justizminister unternahm. Die Sozialdemokratie hat keinen Zweifel darüber gelassen, daß sie die unsinnige Tat entschieden verurteilt. Es weiß auch jedes politische Kind, daß unsere Partei die Taktik der Attentate verwirft. Das hindert natürlich die Ordnungspresse Österreichs so wenig wie die des Reiches, die Tat gegen die Sozialdemokratie auszubeuten. Sie hebt hervor, daß der überspannte Attentäter bei seiner Tat aus­rief: Hoch der Sozialismus!, daß er eine Zeitlang in seiner Heimat Mitglied einer freien Gewerkschaft, des Holzarbeiterverbandes, war. Ferner daß er in Wien den ihm bekannten Angestellten des Ver­bandes aufgesucht hat und durch seine Vermittlung von einem sozial­demokratischen Abgeordneten eine Eintrittskarte zum Abgeordneten haus erhielt. Und endlich, daß er den Schuß abgab, während Viktor Adler über die Teuerung sprach, sowie über die harten Urteile der Wiener Richter gegen die am 17. September Verhafteten. Auch soll nach offiziöser Behauptung Njegus sich bei seiner Vernehmung als Sozialdemokrat berannt und erklärt haben, daß er den Justizminister töten wollte, weil er ihn bei der Rede Adlers lächeln sah. Aus all diesen Umständen schließen die Gegner: die Sozialdemokratie ist der wahre Schuldige bei diesem Attentat. Die Partei soll das Attentat sozusagen bestellt haben, deuten die Unanständigsten unter ihnen an. Der Blödsinn ist freilich so lächerlich, daß sich die meisten Blätter doch scheuen, sich ihn zu eigen zu machen. Aber sie behaupten um so energischer, daß die Sozialdemokratie die moralische Verant wortung trage, daß sie durch ihre Teuerungshezze" den Entschluß zu dem Attentat geweckt habe. Die schrilisten Laute in diesem Ge­zeter wider uns ertönen dabei aus der Zentrumspresse. Sie hat ganz besondere Angst vor den Wahlen, und das mit Recht. Daher sind ihr alle, auch die niederträchtigsten und schmutzigsten Mittel recht, um den Wählern vor der Sozialdemokratie gruselig zu machen. Indes ist gerade dem Zentrum in diesem Falle leicht das verleum­derische Maul zu stopfen hat es sich doch selbst in den siebziger Jahren gegen den Vorwurf wahren müssen, daß es die Verant wortung für das Attentat Kullmanns auf Bismarck trage. Hatte doch Kullmann ausdrücklich erklärt, daß er durch das Lesen der Zentrumspresse zu seinem Entschluß gefommen sei, den Kanzler wegen der firchenfeindlichen Kulturtampfgesetze zu töten. Damals haben Zentrumsredner und-blätter sehr schön auseinanderzusetzen gewußt, daß eine Partei feine Schuld daran trage, wenn ihre ge­jegliche Agitation von einem einzelnen zum Anlaß einer ungesets lichen Tat genommen werde. Keine Partei ist davor gesichert, daß ihre Propaganda als Rechtfertigung von Gewalttätigkeiten von irgend einem Wirrkopf mißverstanden wird, der ihre Lehren nicht erfaßt bat, wenn er sich auch durch seine Empfindungen zu ihr hingezogen jühlen mag. Die Heze hat auch teinen großen Erfolg gehabt, obgleich der österreichische Ministerpräsident Gautsch sie in höchst­eigener Person eingeleitet hat, und zwar dadurch, daß er ein ge

Nr. 2

fälschtes Zitat aus einer Adlerschen Rede auszunüßen suchte. Die Offentlichkeit läßt sich weder durch die skrupelloseste Sozialistenheze noch durch andere Methoden mehr narren- das müssen die Re­aktionäre im Reiche wie im Ausland immer wieder mit Bedauern sehen. Auch solche Mittel wie der Appell an die mordspatriotischen Gefühle bei der Maroffoaffäre wollen nicht mehr verfangen. Die Teuerung ist viel zu drückend, als daß sie über den anderen An­gelegenheiten vergessen werden könnte.

Dem Zentrum ist wieder ein arges Malheur passiert. Bekannt­lich hat Bebel in Jena das seinerzeit in Bayern abgeschlossene Wahl­bündnis des Zentrums mit der Sozialdemokratie vor der Öffent­lichkeit festgestellt. Das Zentrum suchte diese peinliche Erinnerung durch die Behauptung zu parieren, es habe bei den Reichstags­wahlen 1907 ein von der Sozialdemokratie angebotenes Stichwahl­bündnis abgelehnt. Nun war aber der sozialdemokratische Partei­vorstand in der Lage, durch die Veröffentlichung der Korrespondenz zu beweisen, daß nicht die Genossen Singer oder Bebel das Bünd­nis angeboten haben, sondern im Gegenteil der Zentrumsabgeordnete Müller- Fulda. Die Zentrumspresse konnte gegen diese schwarz auf weiß vorliegenden Beweise so wenig ausrichten, daß sie sich schließ­lich hinter die klägliche Ausrede flüchtete, Müller habe auf eigene Faust gehandelt, die Zentrumswahlleitung- deren geschäftsführendes Organ Müller war!- habe mit der Sache nichts zu tun gehabt. Die Sozialdemokratie hat bei der Sache nichts zu verbergen, denn das Zentrum war damals, zur Zeit des Bülowblocks, das kleinere übel, für das ein Sozialdemokrat aus rein sachlichen Gründen in der Stichwahl stimmen konnte. Dem Zentrum aber ist die Auf­deckung der Affäre sehr fatal, denn es hat schon seit langem mit scheinheiligem Gesicht der Öffentlichkeit versichert, daß eine bürger­liche Partei aus prinzipiellen Gründen nicht mit dem Umsturz pattieren dürfe.

Übrigens gehen auch die Liberalen nicht viel hoffnungsfreudiger in die Wahlschlacht als die Schwarzen. Herr Bassermann hat es für nötig gehalten, neuerdings in einem programmatischen Wahl­artikel für stärkere Heeres- und Flottenrüstungen einzutreten. Offens bar verzweifelt er ganz daran, Stimmung in die nationalliberale Wählerschaft zu bringen, es sei denn mit den abgegriffenen Mitteln einer hurrapatriotischen Heze. Auch diese letzte Säule ist freilich schon geborsten und wird stürzen über Nacht". Der Flottenverein agitiert indes schon heftig für schnelleren Flottenausbau, und die Arbeitermassen tun gut, zur energischen Abwehr gegen die neue Flottenvorlage zu rüsten.

Die Verfolgung der freien Jugendbewegung wird von den Behörden mit wildem Eifer betrieben, ohne daß sie das Wachs­tum aufzuhalten vermöchte. Das letzte Heldenstück auf diesem Ge­biet ist ein Erlaß des preußischen Kultministers, der verhindern will, daß die Volksschüler die Arbeiter- Jugend" lesen. Da über die häusliche Lektüre der Kinder die Eltern zu bestimmen haben, so ist das ein Schlag ins Wasser, wenn die proletarischen Eltern ihre Pflicht tun, was sehr vonnöten ist.

"

Der italienisch- türkische Krieg um Tripolis schleppt sich bislang ohne ernsthafte Entscheidung hin. Die Jtaliener haben nach einem Bombardement die Küstenstädte besetzt der Ernst beginnt indes erst beim Kampfe im Innern.

Die Wahlen in Schweden haben der Sozialdemokratie 64 Mandate gebracht gegen 35 in der verflossenen Session. Die Partei hat eine starke Position im Lande gewonnen, so daß die Bürger­lichen den Eintritt von Sozialisten in das tommende liberale Mini­sterium für bevorstehend ansahen. Die Sozialdemokratie hat indes abgelehnt, sich in diese schiefe Position zu begeben.

Eine Einigungstonferenz sozialistischer Organis fationen fand in England statt. Sie beschloß die Grün­dung einer einheitlichen Britischen Sozialistischen Partei, in der die bisherige Sozialdemokratische Partei , die Unabhängige Arbeiter­partei und die anderen zersplitterten Organisationen aufgehen sollen. Da aber die Unabhängige Arbeiterpartei nicht als Ganzes, sondern nur durch einzelne lokale Gruppen bei der Konferenz vertreten war, so ist es noch zweifelhaft, ob das Einigungswert auch wirklich ge­lingen wird.

In Portugal haben die Monarchisten versucht, Putsche zu machen, jedoch nur mit dem Erfolg, daß sie den Buckel voll kriegten. In China greift die revolutionäre Bewegung siegreich um sich.

Gewerkschaftliche Rundschau.

H. B.

Über die Entwicklung der gegnerischen Gewerkschaften im Jahre 1910 lassen wir diese Angaben folgen. Die christlichen Gewerkschaften hatten Ende 1910 in 22 Verbänden einen Mit­gliederstand von 316115. Ihr Zuwachs betrug über 12 Prozent.