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Die Gleichheit
Diese Umgestaltungen haben die Zerklüftung unseres Volfes gezeitigt, fie bewirken, daß der einzelne Volksangehörige derart in seinem Berufsgebiet aufgeht, daß er aus eigener Kraft die Verbindung mit dem Ganzen faum aufrechterhalten kann. Angesichts dieses Standes der Dinge muß die staatsbürgerliche Erziehung das soziale Pflichtbewußtsein des einzelnen wecken und entwickeln. Da die Frauenbewegung den Zusammenhang mit dem Volksleben nicht verlieren darf, so ist es notwendig, daß sie auf eine staatsbürgerliche Erziehung der Mädchen in Familie und Schule bedacht ist. Diese Erziehung, die ohne Rücksicht auf den zukünftigen Beruf geboten ist, muß von anderen Gesichtspunkten ausgehen als die der Knaben. Sie muß an den Trieb zur Hilfe anknüpfen, der den Frauen angeboren ist, sowie an deren Naturanlage zur sozialen Stimmung. Die Geschichte soll deshalb den Mädchen nicht mehr als Kriegs geschichte, sondern als Wirtschafts- und Rechtsgeschichte ver. mittelt werden. Auch die ethische Erziehung des weiblichen Ge schlechts fordert eine Umgestaltung. Der Religionsunterricht muß die gewaltigen Imperative des Christentums nicht nur lehren, vielmehr vor allem innerlich begreiflich machen. Die ftaatsbürgerliche Erziehung ist eine unbedingte Voraussetzung für die Beteiligung der Frau an der praktischen sozialen Arbeit. Die Mädchen müssen daran gewöhnt werden, für eine Idee zu arbeiten, erfüllt vom Geiste der Pflichterfüllung. Wie können die Frauenvereine der Aufgabe gerecht werden, die ihnen in der Folge erwächft? Sie haben die Mütter durch Kurse über die wirtschaftlichen und politischen Erscheinungen aufzuklären. Sie sollen auf Schule und Familie einwirken, damit hier der Sinn für große soziale Leistungen gepflegt wird. Zu diesem Zwecke ist Verbindung und gemeinsame Arbeit mit den Lehre rinnenvereinen zu suchen, die Gründung von Jugendgruppen und sozialen Frauenschulen ist zu fördern. Frauenbildung ist nicht der Kampf der Frau um neue Rechte, sondern die Frauen mit den Neuerungen und sozialen Zeitströmungen vertraut machen, sowie zur sozialen Mitarbeit erziehen. Die staatsbürgerliche Erziehung dazu darf nicht durch die Macht äußerer Agitationsmittel, sondern nur durch innere Tätigkeit erzielt werden. Der Vortrag enthielt im einzelnen gute Gedanken, blieb aber die Antwort auf die Haupt frage schuldig: Welche Idee, welches gesellschaftliche Jdeal muß dem sozialen Pflichtbewußtsein Inhalt und Ziel geben? Auch der Zusammenhang der geforderten staatsbürgerlichen Erziehung mit dem Frauenwahlrecht ward nicht gewürdigt, und das Predigen innerer Tätigkeit" statt der Macht äußerer Agitations mittel" hört sich direkt wie ein Verzicht auf den Kampf für das Bürgerrecht der Frau an. Fräulein Bäumer setzte die Moral an Stelle der Politik und blieb in der reinen" Atmo sphäre allgemeiner, nebelhafter Gedankengänge. Trotzdem war die Diskussion unwesentlich, folgende Thesen wurden einstimmig angenommen: Bur Förderung der staatsbürgerlichen Erziehung der Frauen empfiehlt der Allgemeine Deutsche Frauenverein: 1. Die Veranstaltung von Kursen zur Einführung der Frau in Fragen des öffentlichen Lebens. 2. Den Anschluß an die bestehenden Gesellschaften für staatsbürgerliche Bildung. 3. Ges meinsame Arbeit mit den Lehrerinnenvereinen zu diesem Zwecke. 4. Die Gründung von Jugendgruppen und Gruppen für soziale Hilfsarbeit, in denen theoretische Belehrung und praktische Tätig feit Hand in Hand geht." Zur Annahme gelangte auch der Ans trag des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins , einzutreten für die Zuziehung von Frauen zu den kommunalen Verwaltungsbehörden der höheren Mädchenschulen. Er redet deutlich von dem bürgerlichen Wesen der Frauenrechtelei.
Am zweiten Tage verhandelte die Generalversammlung über die Rechtsauskunftstellen für Frauen und die Mit wirkung der Frauen in städtischen Deputationen und Kommissionen. Sie beschloß, daß in allen Orten eine syfte matische Agitation für diese Mitwirkung zu entfalten sei. Zur Annahme gelangte auch ein aus Hamburg gestellter Antrag. Nach ihm sollen die Vorstandsmitglieder der lokalen Frauen vereine sich nicht an Aufrufen für Blumentage, Basare und Wohltätigkeitsfefte beteiligen; die Ortsgruppen haben ihren Mit
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gliedern von der Mitwirkung an solchen Veranstaltungen abzuraten; bei Vereinsvorträgen, in Versammlungen und in der Presse ist für gründliche Einsicht in die Zwecke und in die geeigneten Mittel und Wege privater Wohlfahrtspflege zu sorgen; die Vorstände sollen auf eine ökonomische Verwaltung der Geldmittel dringen und nach einem Zusammenarbeiten der Wohlfahrtsanstalten trachten.
Frau Dr. Altmann- Gottheiner behandelte darauf„ Die Erziehung der Mädchen für das Berufsleben". Die Frauenarbeit in Industrie und Handel ist nach der Referentin vor allem eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit, sie kann aber auch den Frauen ein neuer Lebensgenuß werden, wenn für diese die Arbeitszeit verkürzt wird. Durch Familien, Staats- und Standeserziehung sollen die Mädchen auf das Berufsleben vorbereitet und dafür gefestigt werden. Fleiß, Pünktlichkeit und Pflichterfüllung- Bethmann Hollweg würde hinzufügen: Gottesfurcht und Zufriedenheit- müssen das Ziel der Standes- und Berufserziehung sein. Diese Erziehung soll sich auf die gelernten und ungelernten Arbeiterinnen erstrecken. Die gelernten Arbeite rinnen müssen jedoch in Rücksicht auf die immer größer werdende Differenzierung der Arbeit den gleichen Fachunterricht erhalten wie die qualifizierten Industriearbeiter. Diese Gedankengänge führten die Referentin zur Forderung von Pflichtfortbildungsschulen( landwirtschaftliche, gewerbliche, hauswirtschaftliche, kaufmännische) für Mädchen. Frau Altmann- Gottheiner befürwortete außerdem eine Abänderung der Gesetze dahingehend, daß die weibliche Arbeit überall dort zugelassen werden soll, wo sie ohne ernste Gefährdung der Gesundheit möglich ist und der weiblichen Eigenart am besten entspricht. Von der Verwirklichung dieser Forderung erhofft die Referentin einen verminderten Andrang der Frauen zu geistiger Berufsarbeit, welche die Frauenpsyche oft ganz zerrüttet, ferner vor allem auch eine Rettung und Neubelebung des Handwerks, zu der namentlich die Töchter des Mittelstandes berufen feien. Der Vortrag ließ jedes Eingehen auf die tieferen sozialen Zusammenhänge der erörterten Materie vermissen. Daher erwähnte er auch nicht die Not wendigkeit eines durchgreifenden Arbeiterinnenschutzes und ließ die Fata Morgana einer Handwerks- und Mittelstandsrettung auftauchen. Von anderen Schwächen zu schweigen.
Der dritte und letzte Verhandlungstag erbrachte den Beweis, daß die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen sich den Erlaß des preußischen Kultusministeriums über die Jugendpflege zu Herzen genommen haben. Die Furcht vor der sozialistischen Jugendbewegung macht allen Beine im Wettlauf um den proletarischen Nachwuchs. Fräulein Lili Dröscher sprach über" Aufgaben und Wege der Jugendpflege bei der weiblichen Jugend." Die weibliche Jugendpflege hat nach ihr schon in der Schule zu geschehen und muß unmittelbar nach der Schulentlassung fortgesetzt werden. Sie muß ein organischer Bestandteil der Arbeiterfrauenvereine und der Mittelpunkt der sozialen Frauenschulen sein, Staat und Gemeinde sind verpflichtet, dabei mitzuhelfen. Um die Jugendpflege in die rechten Bahnen zu lenten, müssen besoldete Jugendleiterinnen angestellt und besondere Einrichtungen geschaffen werden, wie sie für die Arbeiterjugend in Charlottenburg und an anderen Orten bestehen, wie sie hie und da in Gewerkschaftshäusern anzutreffen sind. Es gilt, eine innige Berbindung mit den Dienstboten- und Jungfrauenvereinen herzustellen. Versammlungs-, Schlaf, Abend- und Speiseräume für die jugendlichen Arbeiterinnen müssen errichtet werden. Es ist nötig, daß die Jugendheime außerdem Spielpläge, Spielsäle, Lese- und Bibliothekszimmer und eine auserwählte Jugendbibliothek aufweisen. Durch Vorträge, gesellige Veranstaltungen, Spiele, Arbeits- und Haushaltungsunterricht ist die weibliche Jugend zu tüchtigen Persönlichkeiten, Frauen und Staatsbürgerinnen heranzubilden. Parteipolitische und konfessionelle Stoffe müssen bei der Jugendpflege ausscheiden, jedwede Agitation muß unterbleiben. Die bürgerlichen Frauen sollten sich als freiwillige Helferinnen für die Zwecke der Jugendpflege zur Verfügung stellen. Mit anderen Worten: der proletarischen Jugend soll etwas Zuckerbrot gereicht werden, damit sie in gut bürgerlicher Gesinnung die Peitsche der kapitalistischen Aus