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Die Gleichheit

Zeichen von der zunehmenden politischen Erkenntnis und der Kampfesbereitschaft der Proletarierinnen. In den 78 Protestversammlungen Groß- Berlins bildeten die Frauen das Hauptkontingent der Besucher, und Frauen hatten in vielen Veranstaltungen das Referat übernommen. Sehr stark von Frauen besucht waren die 21 Versammlungen des Vierstädte­komplexes: Hamburg , Wandsbeck, Altona und Ottensen ; in fünf davon sprachen Genossinnen. Zahlreich besuchte Ver­fammlungen fanden ferner in den meisten Orten Schleswig­Holsteins statt. In der überfüllten Versammlung zu Lübeck referierte unter jubelnder Zustimmung der Anwesenden Ge­nossin Leu, die auch in einer ganzen Anzahl Versammlungen des Kreises Schleswig und in Mecklenburg das Referat erstattete.

In Hannover , Leipzig, Dresden , Riesa , Meißen , Zwickau und zahlreichen anderen sächsischen Städten faßten die Säle kaum die erschienenen Besucher. Die Genossinnen Friedländer und Kaschewski hatten neben unseren sächsischen Genossinnen Referate übernommen. Genossin Weyl referierte in der startbesuchten Versammlung zu Magdeburg . Im Zeiz- Weißenfelser Kreis hatte gleichfalls die Genoffin Weyl und im Bezirk Eisleben Genossin Friedländer eine Anzahl Referate übernommen. Sehr viele Versammlungen, die alle außerordentlich stark besucht waren, fanden statt in der Provinz Brandenburg , in Pommern und der Provinz Sachsen . In der überfüllten Versammlung in Halle referierte die Unter zeichnete, ebenso auch in Breslau , in Liegnig, in Köln und Kreuznach, wo sich die Versammlungen eines sehr zahl­reichen Besuchs von Frauen erfreuten. Vorwiegend Frauen waren in den Versammlungen erschienen, in denen die Unter­zeichnete in Ludwigshafen , Frankenthal und Pirmasens referierte. In zirka dreißig weiteren starkbesuchten Versamm­lung in der Pfalz referierte Genossin Kähler. Für Hessen­Nassau hatte die Genoffin Juch az alle Versammlungen über­nommen und für Hessen Kassel Genossin Kaschewski.

Im Nordwestbezirk des Reiches, in Bremen und Nachbar­schaft haben sehr viele Versammlungen stattgefunden, in denen die Genossinnen Bosse, Harder und Reize referierten. Ge­nossin Reize hat außerdem im Altenburger Land in einer Reihe von Versammlungen die Teuerung behandelt, Genossin Reichert tat es in einem anderen Bezirk des Königreichs Sachsen. In startbesuchten Versammlungen in Nürnberg und Fürth sprach Genossin Zetkin , und in Baden sind die Genossinnen Wackwiz, Bollmann und Blase als Redne­rinnen über die Teuerung tätig gewesen. Im Bezirk Dresden und in Westfalen war Genossin Baumann unsere Rednerin. Von überallher ist die sehr zahlreiche Beteiligung der Frauen an der Protestbewegung gemeldet worden und ein guter orga­nisatorischer Erfolg. 50 bis 60 Aufnahmen in einer Versamm­lung waren feine Seltenheit; in Pirmasens hatten wir die Freude, daß 104 Personen, meist Frauen, der Partei beitraten, in Ludwigshafen sogar 170.

So wirkt die Teuerung überall aufrüttelnd, führt uns Kämpferinnen zu, stärkt damit die Macht der Sozialdemokratie und schafft solcherart Vorbedingungen für unseren Aufstieg und unseren endgültigen Sieg. Zunächst hilft sie natürlich nicht wenig, unsere Aussichten auf Wahlerfolge zu mehren. Für unsere Genossinnen, die den Wunsch haben, auch den weiteren Verlauf des Wahlkampfs der Erweckung der Frauen mit nutz­bar zu machen, sei auf Schriftchen beziehungsweise Flugblätter hingewiesen, die diesem Zwecke dienen. Im Leipziger Partei­verlag ist die kleine Broschüre erschienen: Die Frauen und die Reichstagswahlen, politisches Gespräch zwischen zwei Frauen von Luise Zietz . Für die Organisation wird sie bei größeren Bezügen für wenige Pfennige abgegeben. An die Ges nossinnen wendet sich die Schrift: Die Frauen und der poli­tische Kampf, von Luise Zietz , herausgegeben vom Partei­vorstand, Vorwärtsverlag. Sie kostet im Buchhandel 20 Pf., bei größeren Bezügen durch die Organisation jedoch nur 6% Pf. Ferner sei die Aufmerksamkeit auf zwei Flugblätter gelenkt: Teuerung und Hungersnot und Die Frauen und die

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Reichstagswahlen. Finanzschwache Kreise erhalten auf An­trag die Flugblätter unentgeltlich. Genossinnen, erneut an die Arbeit! Nuzet die Zeit! Wer Rat und Unter­stützung bei seiner Arbeit wünscht, der wende sich an das Frauenbureau, Lindenstraße 3, Berlin . Für uns alle heißt es wie je: Gemeinsame Arbeit, gemeinsamer Kampf, ge­Luise Ziez. meinsamer Sieg!

Vom außerordentlichen italienischen Parteitag zu Modena .

Ministerialismus- Frauenstimmrecht- Krieg. I. K. Fast wäre man zu der Behauptung berechtigt, daß das Frauenstimmrecht Pech hat, insofern es sich um seine Behandlung auf den Parteitagen der italienischen Sozialisten handelt. Dringend wird von den Genoffinnen und Genossen gewünscht, daß die Frage ihrer Bedeutung gemäß erörtert werde. Die inneren Parteiverhält nisse im vorigen Jahre, der hinzugekommene Raubzug Italiens nach Tripolis in diesem, gaben jedoch den beiden letzten Tagungen der sozialistischen Partei ihr Gepräge und wiesen ihnen solche wichtige Aufgaben zu, daß weder Zeit noch Energie übrig blieb für die Behandlung von Angelegenheiten, die außerhalb des Ge­biets der heiß umstrittenen prinzipiellen und tattischen Fragen liegen. Die Leserinnen der Gleichheit" erinnern sich wahrscheinlich, daß ein Referat der Genossin Kulischoff über das Frauenwahl­recht bereits auf der Tagesordnung des letzten Parteitags zu Mai­ land , im Oktober 1910, stand. Allein die Arbeitszeit des Kongresses wurde vollauf durch die Referate und Diskussionen über die all­gemeine Richtung der Partei in Anspruch genommen. Die italie­nischen Parteitage finden nur alle zwei Jahre statt, ausnahms­weise sollte aber schon 1911 eine Beratung der Parteigenossen statt­finden, und ihr wurde die Behandlung des Frauenstimmrechts und anderer Fragen überwiesen. Dieser Beschluß läßt klar erkennen, daß es der italienischen Partei daran lag, die Frage des Frauenstimm= rechts mit der ihr gebührenden Gründlichkeit zu erörtern. Es unter­Jag feinem Zweifel, daß ein Parteitag der italienischen Sozialisten ohne weiteres der Resolution für das allgemeine Frauenstimmrecht zustimmen würde. Allein im Interesse der Agitation, der Auf­klärung der Massen und insbesondere des weiblichen Proletariats wäre eine ausgiebige Auseinandersehung darüber nüßlich, ja not­wendig gewesen. Gerade darum auch wurde die Behandlung des Themas auf den außerordentlichen Parteitag verschoben. In der Zwischenzeit hat sich aber in der italienischen Partei und dem politischen Leben des Landes so viel Unerwartetes und Folgen schweres ereignet, daß das Hauptgewicht der Verhandlungen des außerordentlichen Parteitags nicht mehr auf den Fragen liegen konnte, um derentwillen seinerzeit seine Einberufung beschlossen

worden war.

Wir begnügen uns mit einem Hinweis auf die äußeren Vor gänge, die ein grelles Licht auf die inneren Verhältnisse in der sozialistischen Partei Jtaliens werfen. Betonen müssen wir jedoch dabei im voraus, daß im Lande eine prinzipiell geschulte, sozial­demokratisch denkende und handelnde Arbeiterpartei als Mitstreiter des internationalen revolutionären Proletariats erst im Werden begriffen ist. Im März d. J. verbreitete sich das Gerücht, Genosse Bissolati sei vom Ministerpräsidenten Giolitti zum Eintritt in das Ministerium aufgefordert worden. Bissolati ist eines der älte­ften und geschätztesten Mitglieder der Partei, Parlamentsabgeord= neter, und war furz vorher noch leitender Redakteur des sozia­liftischen Zentralorgans. War das Gerücht schon an und für sich erstaunlich genug, so tamen noch Begleiterscheinungen hinzu, die die Sache immer verblüffender werden ließen. Die Partei mußte sich an den Gerüchten genügen lassen, denn Biffolati äußerte sich über seine Absichten weder zu der Parteiorganisation, der er an­gehört, noch zu der Fraktion, noch aber zu seinen Wählern. Auch der Parteivorstand erjuhr nur aus den Zeitungen und durch Ge­rüchte von der Angelegenheit. Bald darauf erreichten die Sen­fationen ihren Gipfelpunkt. Es hieß, Bissolati sei vom König zu einer Besprechung eingeladen worden und habe der Einladung Folge geleistet, um mit dem Monarchen die allgemeine politische

Lage und namentlich die Notwendigkeit des allgemeinen Wahlrechts zu erörtern. Das Gerücht bestätigte sich, die Partei wurde vor die vollendete Tatsache gestellt. Alle bürgerlichen Parteien waren ge­spannt, was aus der Besprechung herauskommen werde; die Sozia­listen warteten in ihrer großen Mehrheit mit leidenschaftlicher Er­regung, wie Bissolati seine Zugehörigkeit zur revolutionären Ar­