76

Die Gleichheit

Junker denken aber auch gar nicht daran, jetzt vor den Wahlen, wo sie die Regierungshilfe so nötig haben, wo sie sich für die Agi­tation im Lande draußen mit dem Glorienschein der unbedingten Königstreue umtleiden müssen, an der Person Bethmanns Rache zu nehmen. Sie stecken unter gemäßigtem Widerspruch die Prügel ein, die er ihnen verabreichte als getreuer Lakai seines Herrn. Wilhelm II. hatte die tölpische öffentliche Auflehnung seines Sohnes gegen feine Regierungsweisheit offenbar arg erbittert. Die Junker verschieben ihre Rache, die allein Bethmann treffen wird, auf gelegenere Zeit. Vorläufig brauchen sie den überagrarischen Kanzler viel zu sehr, als daß sie ihn meucheln möchten.

Der Kampf gegen die freie Jugendbewegung ist in ein neues Stadium getreten. Das Kammergericht zu Berlin hat als höchste Instanz den Jugendausschuß von Groß- Berlin für einen politischen Verein erklärt. Die Polizei beabsichtigt offenbar alle Ver­anstaltungen des Ausschusses für solche des politischen Vereins zu erklären, um den Jugendlichen die Beteiligung daran zu verbieten. Zugleich werden trotz des entgegenstehenden Reichsgerichtsurteils die Turnwarte von Arbeiterturnvereinen in Preußen in Strafe ge­nommen, wenn sie ohne Erlaubnis der Behörden Turnunterricht an Jugendliche erteilen. Diese Verfolgungen können die freie Jugend­bewegung auf die Dauer doch nicht aushalten.

-

Bei den Landtagswahlen in Hessen hat die Sozialdemo­fratie trotz des verschandelten Wahlrechts Zusakitimme für Fünfzigjährige, Aufenthalts- und Steuerkantelen schöne Erfolge erzielt. Auch bei den Stadtverordnetenwahlen in Berlin , Charlottenburg und vielen anderen Städten und Landgemeinden hat die Partei prächtige Siege zu verzeichnen.

Der bayerische Landtag wurde im Verlauf eines Zwistes zwischen Regierung und Zentrum aufgelöst.

Die Nationalratswahlen in der Schweiz haben die sozial­democratische Fraltion um 9 Köpfe, von 6 auf 15, verstärkt.

Italien , das wenige Kilometer Küstenlandes nur noch mit Hilfe seiner Schiffstanonen in Besiz hält, hat die Annerion von Tripolis ausgesprochen. Seine Soldaten, die von den Türien und Arabern in den Küstenstädten förmlich belagert sind, verbreiten die Zivilis sation, indem sie empörende Greuel gegen Wehrlose, Frauen und Kinder begehen.

Die chinesische Revolution gewinnt immer mehr an Boden. Die südlichen Provinzen sind großenteils in der Hand der Revo­lutionäre und haben eine republikanische Regierung eingesetzt. Auch im Norden kann sich die Mandschudynastie nicht mehr auf die Regie­rungstruppen stützen. Es ist schwer zu sagen, ob es Yuanschifai, der zum Ministerpräsidenten mit weitgehenden Vollmachten er­nannt worden ist, gelingen wird, durch Reformen die bisher un­umschränkt herrschende Dynastie auf Grundlage der konstitutionellen Monarchie zu retten.

Persien scheint vor dem Untergang zu stehen. Von Norden rücken die Russen, von Süden die Engländer in das Land ein, das noch feine Kraft zum Widerstand gefunden hat.

Gewerkschaftliche Rundschau.

H. B.

Unzureichender Arbeiterschutz gibt nicht allein in einzelnen Betrieben, sondern immer noch in ganzen Industrien Leben und Gesundheit des Proletariats schweren Gefahren preis. Unsere Ge­werkschaften widmen sich in den letzten Jahren in steigendem Maße der verdienstvollen Aufgabe, durch Untersuchungen die Öffentlich­keit über die betreffenden Zustände auszuklären und vor allem dem Gesetzgeber und den Aufsichtsbeamten das Gewissen für ihre Pflichten zu schärfen. So enthüllte der Fabritarbeiterverband vor einiger Zeit in einer Schrift die entsetzlichen Gefahren in den chemischen Fabriken. Der Holzarbeiterverband lenkte ebenfalls neuerlich die öffentliche Aufmerksamkeit auf gefahrdrohende Zu­stände, denen durchgreifende gesetzliche Bestimmungen und wirk same Kontrolle der Betriebe entgegenarbeiten müssen. Er berief eine Zusammenkunft der an Holzbearbeitungsmaschinen Be­schäftigten nach München ein. Auf dieser Konferenz wurden zahlreiche und schwere Klagen darüber erhoben, daß die Arbeiter an den gejährlichen Maschinen, wie Hobelmaschinen, Kreis- und Bandsägen, Fräsen usw., ganz unzulänglich geschüßt find. Finger­und Handverlegungen kommen hier äußerst häufig vor, wie unter anderem auch eine auf der Tagung ausgestellte Sammlung von Photographien entsetzlich verstümmelter Hände veranschaulichte. In Anbetracht der so großen Unfallgefahr für die an diesen Ma­schinen Beschäftigten forderte die Konferenz eine Verbesserung des Arbeiterschutzes: Festsetzung eines Marimalarbeitstags von zehn Stunden täglich mit allmählicher Herabsehung auf acht Stunden; Verbot der Frauenarbeit an den Holzbearbeitungsmaschinen; wirk­

Nr. 5

famere Aufsicht über die Betriebe durch die Vermehrung der Ge­werbeinspektoren unter Hinzuziehung von Arbeitern usw. Auch eine andere Industrie bedarf dringend eines verbesserten Arbeiterschutzes. In legter Zeit haben größere Brände, denen auch Menschenleben zum Opfer fielen, die Aufmerksamkeit auf die große Feuergefährlich­feit der Zelluloidfabriken gelenkt und ihre vielerorts geradezu gewissenlose Anlage. In diesen Betrieben sind besonders viel Ar­beiterinnen beschäftigt. Die Verbände der Holzarbeiter, Fabrik­arbeiter und Buchbinder haben deshalb eine Petition an den Reichstag gerichtet um Erlaß einer Bundesratsverordnung, die Schutzmaßregeln gegen die Feuersgefahr festsetzen sollte, die in jener Industrie in hohem Maße besteht. Die Petitionskommission hat diese Eingabe dem Reichskanzler zur Berücksichtigung empfohlen. Doch wir fürchten, der Herr Reichstanzler hat zurzeit andere Eorgen, und höfifche und parlamentarische Ränkespiele sind ihm wichtiger als der Schutz von Arbeiterleben.

Unter den Kohlenbergleuten gärt es andauernd. In Groß­ britannien ist eine große Bewegung im Anzug, die ihre Wellen nach dem Festland herüberwerfen und auch die Bergleute Deutsch­ lands erfassen kann. Die englischen Bergarbeiter haben den Gruben­herren ihre Forderungen eingereicht, die aber fast in allen Distritten abgewiesen worden sind. Eine Konferenz der britischen Bergarbeiter verbände tagte am 14. und 15. November in London und setzte auf den 20. Dezember eine Urabstimmung über den Beginn eines Generalstreits an. Unbestreitbar sind die englischen Bergleute in großer Erregung und dem Generalstreit sehr zugeneigt. Doch, da in den einzelnen Bezirken ganz unterschiedliche Kündigungsfristen bestehen, auch gegenwärtig noch Unterhandlungen mit den Unter­nehmern stattfinden, so läßt sich der Zeitpunkt eines etwaigen Kampjes nicht voraussagen. Auch unter den deutschen Berg­arbeitern tritt das Verlangen nach Lohnaufbesserungen immer stärker hervor. Während in vielen anderen Industrien die Löhne gestiegen sind, allerdings lange nicht in dem Maße, wie die Preise der Lebensmittel, sind sie im deutschen Bergbau gesunken. Große Versammlungen im Ruhrgebiet beschäftigten sich mit der Teues rung und den Bergarbeiterlöhnen. Die Mehrzahl von ihnen be­schränkte sich fürs erste auf die Besprechung der unerträglich ge­wordenen Lage. Dagegen beschloß eine von etwa 1000 Personen besuchte Versammlung in Lünen , es sollten sofort Forderungen aufgestellt und den Bergwerkbesitzern eingereicht werden. In einer Resolution, die den Vorständen der vier in Betracht kommenden Bergarbeiterorganisationen übermittelt werden soll, wird dies aus­drücklich verlangt und betont, daß es den Bergarbeitern mit der Lohnbewegung bitter ernst sei.

Der Tabalarbeiteraussperrung größere Ausdehnung zu geben, sind die Scharfmacher in der Tabakindustrie eifrig be­strebt. Die westfälischen Zigarrenfabrikanten stellten auf der Versammlung des Unternehmerverbandes in Berlin den An­trag, alle organiserten Tabalarbeiter und-arbeiterinnen in ganz Deutschland auszusperren. Doch fanden die Herren für ihren Plan zunächst noch keine Gegenliebe, und sie mußten sich mit einer Sympathieerklärung begnügen. Im übrigen geht der Kampf ruhig weiter. Die Ausgesperrten werden von der gesamten deutschen Arbeiterschaft unter Führung der freien Gewerkschaften gestützt. Mehr als 13000 Tabatarbeiter, darunter 5000 Arbeiterinnen, stehen zurzeit im Kampfe. Ihre Forderungen sind angesichts der niedrigen Löhne und der großen Teuerung außerordentlich bescheiden. Für Zigarrenmacher werden Erhöhungen gefordert von 50 Pf. bis 1,25 Mt. für das Tausend, je nach der Güte der Zigarren; für die Zigarrenfortierer 10 f. bis 30 Pf. Die im Alfordlohn be schäftigten Kistenmacher, Bekleber und Fertigmacher, Zu richter und Zurichterinnen fordern 10 Prozent Lohnzulage und die im Wochenlohn stehenden Arbeiter 2 Mt., Arbeite= rinnen 1 Mt. Lohnzulage. Solche Lohnerhöhungen zu bewilligen wäre den Unternehmern ein Leichtes, wenn der gute Wille da wäre. Eine große Aussperrung droht den Berliner Metallarbeitern. Die Hauptversammlung des Verbandes Berliner Metallindustrieller beschloß zur Unterstützung der seit Wochen von Streits betroffenen Gießereibetrieben und wegen Mangel an Guß einstimmig, am 30. November 60 Prozent der Arbeiterschaft auszusperren.

Die Münchener Kellnerinnen haben durch den Verband der Gastwirtsgehilfen dem Wirteverein einen Lohntarif unterbreiten laffen. Ihre bisherigen Arbeitsbedingungen spotten wie die ,, Gleichheit" wiederholt gezeigt hat jeder Beschreibung. Lohn erhalten die Kellnerinnen fast nirgends oder höchstens einige Mark im Monat, die aber für Kranken- und Invalidenbeiträge ange­rechnet werden. Die einzige Einnahmequelle dieser Arbeiterinnen, das Trinkgeid, ist seit der Bierpreiserhöhung in Bayern auch fast versiegt. Dabei fordern die Wirte unerhört hohe Abgaben von