Nr. 6

Die Gleichheit

den Höchstbesteuerten und den Großgrundbesitzern. Diese Hand voll Bevorrechteter nehmen aber auch an den allgemeinen Wahlen der 30 anderen Abgeordneten teil, sie befizen also doppeltes Wahlrecht. Die Wahlberechtigung ist an die Vollendung des 25. Lebensjahres und an den Besitz der Staatsangehörigkeit geknüpft, in den Städten kommt noch das Bürgerrecht hinzu. Im Herzogtum sind die Wähler so verteilt, daß 5 Prozent der ersten, 20 Prozent der zweiten und die übrigen 75 Prozent der britten Wählerklasse angehören. So ist mit einer spizbübischen Berechnung dafür gesorgt, daß Arbeiter unvertreten bleiben, das heißt heutzutage, daß fein böser Sozialdemokrat in den Landtag kommt.

Leider wird es auch diesmal dabei bleiben müssen, aber das letztemal. Die Entrechtung des braunschweigischen Volkes und die Erbitterung darüber hat sich denn auch bei den Mitte November vorgenommenen Wahlmännerwahlen mit nicht zu verkennender Deutlichkeit gezeigt. Die Wahlbeteiligung an sich war zwar in der ersten und zweiten Klasse geradezu troftlos, in der dritten Klasse etwas besser, aber die Zahl der sozial bemokratischen Stimmen ist trotz alledem gewaltig gestiegen. Die Wahlmänner der dritten Klasse sind uns fast ausnahmslos zugefallen, in einigen Orten auch die der zweiten Klasse. Sogar in der ersten Klasse haben wir mehrere Wahl männer bekommen.

In der Stadt Braunschweig   zum Beispiel fonnten wir dies­mal bei der Urwahl rund 5200 sozialdemokratische Wähler mustern, davon rund 150 in der zweiten Klasse. Für die bürger­lichen Wahlmänner wurden dagegen rund 2900 Stimmen ab­gegeben, davon 300 in der ersten, 1000 in der zweiten und 1600 in der dritten Wählerklasse. Gegen 65 Prozent der ab­gegebenen Stimmen waren sozialdemokratisch. Bei der Wahl des Jahres 1907 wurden in der Stadt Braunschweig   3237 sozial demokratische und 1862 bürgerliche Stimmen abgegeben. Wäh rend die Zahl der bürgerlichen Stimmen also um 300 zurück­gegangen ist, hat die Sozialdemokratie 1800 Stimmen gewonnen. Das genaue Resultat aus dem Lande liegt noch nicht vor. Doch wird das Verhältnis das gleiche sein, der starte Zuwachs der sozialdemokratischen Stimmen ist außer Zweifel. Während in der Stadt Braunschweig   im Jahre 1907 den Bürgerlichen in der dritten Klasse noch 17 Wahlmänner zufielen, siegten dies­mal unsere 144 Wahlmänner auf der ganzen Linie mit einer Bweidrittelmajorität.

Bei der Abgeordnetenwahl, die am 21. November vorge nommen wurde, zeigte sich die ganze brutale Entrechtung der Massen. Die Sozialdemokratie erhielt fein einziges Mandat und wird auch feins erhalten, trotz der Stichwahlen, an denen fte beteiligt ist. Tem schamlosen indirekten Dreiklassenwahlrecht ist es zu verdanken, daß die Abgeordneten gegen den Willen des Volfes gewählt sind. Und das nennt sich Bolksvertreter! Die Bevorrechteten ernennen ihre Abgeordneten am 5. Dezember, von einer Wahl kann hier schon gar keine Rede sein.

Es dürfte einleuchten, daß die Arbeiter von einem derartig zusammengesetzten Geldsacksparlament nichts zu erwarten haben, daß es weder Rücksicht auf das Gemeinwohl noch auf Kultur­interessen fennt. Und daß der allergrößte Teil der Bevölkerung dieses Amboßspielen und dieses Zusehen von draußen endlich satt hat, ist auch selbstverständlich.

Die organisierte Arbeiterklasse Braunschweigs richtete des­halb in den letzten Jahren ihre Hauptstoßkraft darauf, die Zwingburg des Geldsackswahlrechts zu erstürmen. Der Wahl­rechtsfampf zeitigte mehrere glänzend verlaufene Wahlrechts­demonstrationen, in denen auch die Frauen unerschrocken und begeistert mittämpften. Die Reaktion brauchte und mißbrauchte ihre Gewalt, um die Bewegung zu unterdrücken. Die Polizei fiel in wahren blutigen Straßenschlachten über die Demon­stranten her, und die sogenannte Justiz schickte die Redakteure des Volksfreund" ins Gefängnis. Aber die Wahlrechtskämpfe sind nicht umsonst gewesen: sie haben die Köpfe der Massen revolutioniert und damit dem ganzen politischen Leben einen fräftigen Pulsschlag gegeben, die Partei warb durch sie zahl­reiche Anhänger, der Bolksfreund" viele Hundert neuer Leser.

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Aber das nicht allein. Dem neugewählten Landtag wird ein Regierungsentwurf zur Wahlrechtsreform zugehen. Diese eigenartige Reform" hält das Vorrecht der Besitzenden und die Dreiklassenwahl fest. Es bleiben also die 18 Abgeordneten der Privilegierten. Das indirekte Wahlsystem aber soll durch das direkte ersetzt werden, und jede der drei Steuerklassen soll 12 Abgeordnete wählen. Dieser mehr als bescheidene Vorteil ist mit bedeutenden Verschlechterungen verquickt: 3 Jahre Staats­angehörigkeit und Hinaussetzung des Wahlalters von 25 auf 30 Jahre. Die Wahlrechtsreform der Regierung ist ein infamer Hohn auf die Rechtsforderungen der Arbeiter. So scheußlich aber auch das neue Wahlrecht aussehen wird, so wird es doch bei der nächsten Wahl eine Anzahl sozialdemokratischer Ab­geordneter in den Landtag bringen. Zum erstenmal wird man hier die Stimme rücksichtsloser Kritik hören.

Als die Vorlage im vergangenen Sommer beraten wurde, hat der Liberalismus eine klägliche Rolle gespielt: nicht ein einziger Liberaler war für das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht zu haben. In Braunschweig  wird es jedoch keine Ruhe geben, bis dieses Recht erkämpft ist. Unter Führung der Sozialdemokratie werden es die Arbeiter den Herren zeigen, daß sie auch noch da sind. Der Wahl. rechtstampf muß in verschärfter Form entbrennen.

Die Reichstagswahlen sind ein Vorspiel des neueinsetzenden Wahlrechtskampfes. Wie sie im allgemeinen und in der Stadt Braunschweig   im besonderen ausfallen, davon wird der Kampf um gleiche politische Rechte im Herzogtum wesentlich beeinflußt werden. Die Leserinnen wissen, daß dieser Kampf auch dem vollen Bürgerrecht der Frau gilt.

Deshalb, Proletarierfrauen im braunschweigischen Lande, nehmt regsten Anteil am politischen Leben. Eine jede von euch, die zu uns steht, muß zur Agitatorin unter den noch gleich­gültigen Klassenschwestern werden. Recht viele, ja alle von ihnen müssen zu uns kommen. Eure Zeitung, die Gleichheit", ist eines der besten Mittel zur Aufklärung der Frauen, ist eine Waffe im Kampfe für euer Recht. Nußt sie, indem ihr euch durch sie bildet, verbreitet sie und schult dadurch neue An­hängerinnen. Die bevorstehenden Reichstagswahlen müssen nicht bloß eine Etappe im Kampfe der Arbeiterklasse für ihr Recht und ihre Befreiung sein, sie müssen auch das Vorwärts im Kampfe für die Gleichberechtigung der Frau zeigen.

Aus der Bewegung.

0. g.

Von der Agitation. Anfang November sprach ich im Kreise Magdeburg   in einer Anzahl Versammlungen über die Themata: Wer trägt in Deutschland   die Schuld an dem Elend und dem Hunger des Voltes?"," Teuerungsnot und Kriegsgefahren". Die Versammlungen hätten zum Teil besser besucht sein können. Ein guter Besuch war in den kleineren Orten Aken   a. E., Tanger  münde und Althaldensleben zu verzeichnen. In Halberstadt  , Schönebeck   und Aschersleben   waren dagegen die Veranstaltungen schwach besucht, ein Umstand, der besonders die dortigen Genossinnen für die nächste Zeit zu intensiverer Kleinarbeit in der Agitation anspornen muß. Immerhin haben uns die Versammlungen neuen Zuwachs an Mitgliedern gebracht, in Aken   zum Beispiel 43, in anderen Orten 18, 20 usw., so daß troß allem unsere Gewißheit unerschüttert sein darf: Wir marschieren! Viel interessanter und erfolgreicher war eine zweite Agitationstour, die ich im Kreise Frankfurt   a. M. abhielt. Führte mich doch mein Weg in die ,, berühmten" Orte Fulda  , Herborn  , Weglar, in den Wester­ wald   und ins Ländchen der Schwereisenproduktion und der christlich­sozialen Voltsverdummung, ins fromme Siegerland. Wo es uns vor zwei, drei Jahren noch kaum möglich war, auch nur eines unserer Flugblätter zu verbreiten, geschweige denn eine Versamm­lung abzuhalten, kann man heute zu den Leuten sprechen, wenn auch meist vorerst nicht mehr als 15 bis 20 oder noch weniger er­scheinen. Freilich muß man auch damit rechnen, daß einem mit­unter die geistigen" Waffen der frommen Herren in concreto auf dem Rücken herumtanzen, wie ich es in Bottenhorn   beinahe er lebt hätte. Aber die Welle der Unzufriedenheit steigt beständig im Kleinbauerntum wie unter den Kleinbürgern. Und diese Unzufrieden­heit ist vielen ein Anstoß zum Denken geworden, wird für viele weitere einer werden. Und wer am Ende der lachende Erbe dieser