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Die Gleichheit
jetzt so beschleunigten Entwicklung sein wird, darüber besteht kein Zweifel. In Fulda , Herborn und Weylar war die Zahl der anwesenden Frauen gegen die der Männer recht gering, in Wirges und Höhr am Westerwald war sie dagegen recht beträchtlich. Es wurden auch überall zahlreiche Aufnahmen in die Partei gemacht. Was die kleinen Orte des Siegerlandes anbetrifft, so werden wir uns wohl für die nächste Zeit noch auf die Organisie rung der Männer beschränken müssen. Sind doch auch diese, selbst wenn sie Proletarier und nicht mehr ganz indifferent sind, nur sehr schwer zu bewegen, der Organisation beizutreten. Die Frauen aber stehen in diesen Orten noch ganz im Banne der kleinbäuerlichen Auffassung. Durch schwere überlange Arbeit an Haus und Feld gefesselt, ohne die Gelegenheit, ihr Leben an dem anderer zu messen und dadurch zu erkennen, wie wenig menschenwürdig es ist, durch ihren kleinen Besitz vor der allerärgsten Not geschützt, trotten sie in den alten ausgefahrenen Straßen dahin, ohne groß nach rechts oder links zu blicken. Was ihr Geist an Nahrung braucht, gibt ihnen die Religion. Aber die Kinder dieser Frauen werden durch die wachsende Industrialisierung aus den alten Verhältnissen heraus gerissen, und sie gehören uns. In Quotshausen waren in der Versammlung die beiden Lehrer anwesend, die sowohl meinen Ausführungen wie denen unseres Kandidaten aus Siegen recht eifrig beipflichteten. In Bottenhorn , wo es, wie schon erwähnt, beinahe Prügel gesetzt hätte, erklärte ein Anhänger des Bundes der Landwirte die Feststellungen über die Steuern, Zölle und Einfuhrscheine für grobe Lügen. Das Brot sei nicht besteuert, eine Not gäbe es überhaupt nicht. Diese Behauptungen machte der Herr durch Zwischenrufe, zu einer Diskussion, wo er beweisen fonnte, was er behauptete, war er aber nicht zu haben. Er entrüstete sich besonders auch darüber, daß über die famosen Steuerhinterziehungen der Großgrundbesitzer gesprochen wurde und versprach, mich beim Herrn Dr. Rößife zu denunzieren, weil ich diesen Herrn mit. unter die„ Sünder" eingereiht hatte. Vielleicht gibt es also Gelegenheit, diese Betrügereien noch gerichtlich festlegen zu lassen. In Dautphe sprach ich Sonntag nachmittag unter freiem Himmel. Trotz des ganz scheußlichen Wetters hatten sich aus den kleinen Orten der Umgebung über 120 Personen eingefunden. Der anwesende Gendarm rettete das Vaterland, indem er einen etwa vierjährigen Jungen, den sein Vater an der Hand hielt, aus der Versammlung entfernte. Jm Kreise Wiesbaden fanden sechs Versammlungen statt. In Wiesbaden selbst war der Besuch ein so guter, wie er es feit langer Zeit nicht gewesen war. über 40 Aufnahmen in die Partei waren das Resultat. Auch in Schierstein war das Lokal zu klein, um die Teilnehmer zu fassen. Dort holten wir 16 neue Mitglieder. Gut besucht war auch die Vereinsversammlung in Biebrich , zu der die Frauen der Mitglieder eingeladen worden waren. Wir buchten 18 Aufnahmen für die Partei und einige neue Abonnenten für die„ Voltsstimme". Auch von den Versammlungen in Bierstedt und Dogheim läßt sich nur Gutes sagen. Je näher der Wahltag rückt, je heißer die Kämpfe entbrennen, desto heller loht auch die Begeisterung in unseren Reihen empor, desto ernsthafter setzt sich die Arbeitsfreudigkeit in kraftvolle Tat um. Und eines ist gewiß. Wie immer die Wahl ausfallen mag, fie wird etwelchen„ Instrumenten des Himmels" sicher keine Gelegenheit geben, noch einmal ein Triumphlied über die Niedergerittenen" zu pfeifen. B. Selinger.
Nach langer Zeit wieder fand in Glauchau eine öffentliche Frauenversammlung statt, in welcher Genossin Reichert Berlin über das Thema referierte: Was lehrt die Teuerung die Frauen?" Die Versammlung hatte einen außergewöhnlich starken Besuch, und zwar fast ausschließlich von Frauen. Es war das erste Mal, daß wir diesen Umstand verzeichnen konnten, und es wird hoffentlich nicht das letzte Mal gewesen sein. Am Schlusse ihrer Rede forderte die Referentin die Anwesenden auf, sich politisch zu organisieren. Die Genossinnen hatten Beitrittsformulare auf den Tischen ausgelegt und konnten 36 Anmeldungen von Parteimitgliedern verzeichnen. Seit 1904 besteht in Glauchau eine Frauen organisation, welche seinerzeit von Genossin Zieh ins Leben gerufen wurde. Es wollte aber kein rechter Zug in unsere Bewegung Tommen, bis vor etwa Jahresfrist einige rührige Genoffinnen eine Hausagitation vornahmen, die so gute Erfolge hatte, daß von da an die Genoffinnen regelmäßig alle vierzehn Tage Leseabende abhalten konnten. Diese waren stets von etwa 15 bis 20 Frauen besucht, jetzt ist die Teilnehmerzahl zu unserer Freude auf über 40 gestiegen, und wir hoffen, den Kreis der Aufklärungshungrigen noch zu erweitern. Für die Leseabende hat es uns an Stoff bis jetzt noch nicht gefehlt, trotzdem wir in dieser Hinsicht ganz auf uns selbst angewiesen sind. Die Erfolge der Arbeit der Genossinnen machen sich überall bemerkbar. Es ist ein anderer Geist über die
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proletarischen Frauen gekommen, wozu die unerhörte Teuerung ihr Teil beigetragen haben mag. Erfreulicherweise wird jetzt auch in der sozialdemokratischen Presse der Mitarbeit der Frauen eine größere Klara Temler. Bedeutung beigemessen als früher.
Am 8. November sprach Genossin Wackwiß- Dresden in Frei burg i. B. in dicht besetztem Lokal, das größtenteils Frauen füllten, über:„ Die Frauen und die kommende Reichstagswahl". Sie schil derte in ergreifender Weise das Leben der erwerbstätigen Frauen und Mädchen, insbesondere das der proletarischen Mütter und Kinder. Mit trefflichen Worten kennzeichnete sie das Verhalten der bürgerlichen Parteien bei der Beratung der Reichsversicherungsordnung. Ihre Ausführungen endeten in der Mahnung, daß jeder und jede dazu helfen müsse, dem Reichstag eine andere Mehrheit zu geben und den 12. Januar 1912 zu einem Markstein in der poli tischen Entwicklung Deutschlands zu machen. Der reiche Beifall be wies, wie sehr die Versammlungsteilnehmer mit Genossin Wackwitz übereinstimmten. An der Diskussion beteiligten sich einige Genossen. Nach kurzen Schlußworten der Referentin und der Vorsitzenden folgten 21 Zuhörerinnen der an sie ergangenen Aufforderung, der Organisation beizutreten. Wir hoffen, auch weiterhin immer neue Anhängerinnen unserer Sache zu gewinnen. Marie Margloff.
Stellungnahme der weiblichen Funktionäre Groß- Berlind zur Reichstagswahl. Die Parteileitung von Groß- Berlin hatte zum 24. November die weiblichen Funktionäre zusammengerufen, um die Bedeutung der bevorstehenden Reichstagswahl und die Mit arbeit der Frauen im Wahlkampf zu erörtern. Der Willesche Saal war dicht besetzt. Die Genossen Ernst und Böste leiteten die Sitzung. Der Vorstand jeder Kreisorganisation war vertreten. Ges nossin Zietz hatte das einleitende Referat. Sie zeichnete scharf umrissen die gegenwärtige politische Situation und wies nach, daß diese den Wahlkampf zu einem Höhepunkt in dem großen geschichtlichen Ringen der Klassen machen werde. In solchem Kampfe gedächten die Frauen gewiß nicht an letzter Stelle zu stehen. Teuerung, Kriegs gefahr und innerpolitische Reaktion seien alles Dinge, unter denen der weibliche Teil der Arbeiterklasse sicher nicht zum wenigsten zu leiden hat. Die Rednerin zeigte den ursächlichen Zusammenhang dieser Erscheinungen als Ausflüsse einer hochentwickelten tapita listischen Produktion und wies an der Hand von Beispielen ihre Folgen und Begleiterscheinungen für das Proletariat und für die einzelnen Familien nach. Sie beleuchtete die Pflichten der Arbeiter klasse, den Wahlkampf zur bestmöglichsten Propaganda für unsere Weltanschauung zu nutzen, um damit über das praktische Ergebnis des Wahlkampfes hinaus unsere sozialdemokratische Bewegung vorwärtszutreiben und doch auch gleichzeitig die Begeisterung für unsere Zukunftsideale dem Wahlkampf und dem Wahlergebnis nutzbar zu machen. Sodann besprach sie eingehend die Aufgaben der Genoffinnen im Wahlkampf. Pflicht der weiblichen Funktionäre sei es, zunächst in den Leseabenden und Zahlabenden die übrige weib. liche Mitgliedschaft mit dem Bewußtsein von der Bedeutung der Wahl in dem angeführten Sinne zu erfüllen und sie zu inten fiver Agitations- und Wahlarbeit aufzurufen. Dann die Zeit der politischen Erregung zur Propaganda für unsere Anschauungen, für den Ausbau unserer Organisation und für die Verbreitung unserer Presse, des Vorwärts" und der „ Gleichheit", zu nutzen. Das könne und müsse geschehen in den allgemeinen Wähler- und Volksversammlungen wie in den besonderen Frauenversammlungen, die sicher die Berliner Parteileitung einberufen werde. Das müsse aber auch geschehen in Familien und Freundeskreisen, an der Arbeitsstätte und bei Vergnügungen, bei Besuchen vom Lande oder auf dem Lande, in der Markthalle oder im Kaufladen, wo immer die Gelegenheit gegeben sei. Bei der Wahlarbeit gelte es Flugblatt- und Stimmzettelverteilung, Anlegung und Füh rung der Wählerlisten und vor allem Leistung von Schlepper. dienst. Arbeit gebe es in Hülle und Fülle, und für alle Mühe, für alle Verhöhnung und Beschimpfung durch Gedankenlose und Roh linge sei der beste Lohn der Erfolg bei der Wahl, die zu einem glänzenden Siege der Sozialdemokratie werden müsse.
An den mit lebhafter Begeisterung aufgenommenen Vortrag schloß sich eine kurze Diskussion, an der sich die Genossinnen Fahrenwald, Ahrendsee, Bien, Waldhauer und Wengels beteiligten. Allgemein ward der Wunsch nach öffentlichen Frauenversammlungen laut, in denen die Stellungnahme der proletarischen Frauen zur Reichstagswahl erfolgen und denen eine allgemeine Flugblattverbreitung vorangehen soll. Ferner ward gewünscht, daß im Januar ein Extraleseabend eingelegt werden möge, in dem die weiblichen Mitglieder in der technischen Wahlarbeit unterwiefen werden. Genosse Ernst, der das Ergebnis der Diskussion zusammenfaßte, stellte die weitestgehende Berücksichtigung