Nr. 10 Die Gleichheit 155 Wirtschaftliche Vereinigung von 18 auf 10, so daß die Rechte im ganzen 35 Mandate verlor. Das Zentrum verlor 13 Reichstags­sitze, statt 133 zählt es nur noch 93 Abgeordnete; die Polen sanken von 23 auf 18 Mandate, die Fortschrittler von 49 auf 42 und die Nationalliberalen von 61 auf 47(2 Bauernbündler eingerechnet). Um sich über den Rückgang der liberalen Mandatszahl zu trösten, hat die liberale Presse ausgerechnet, dah dieLinke" des Reichs­tags, also Sozialdemokratie, Fortschrittler, Nationalliberale und der Däne, 233 Mandate zählt und damit die Mehrheit gegen die Blauschwarzen hat, da Rechte, Zentrum, Polen , Elsah-Lothringer, Welsen und Wilde nur 197 Mann zählen. Doch diese Berechnung hat wenig Wert, da die Nationalliberalen, namentlich wenn es um Arbeiterrechte und Volksrechte geht, die Gefolgschaft von Zentrum und Konservativen bilden werden. Und wenn es sich um Heeres-, Marine- und Kolonialvorlagen handelt, wenn es welt­politische Abenteuer gilt, da wird die Sozialdemokratie einem festen bürgerlichen Block gegenüberstehen. Schon die Haltung der Liberalen bei den Stichwahlen zeigt das. Die Nationalliberalen haben zwar eine Einladung der Re­gierung zu einer Zusammenkunst im preußischen Abgeordneten­haus abgelehnt, bei der ein Stichwahlkartell sämtlicher bürger­lichen Parteien gegen die Sozialdemokratie geschloffen werden sollte. Ja, sie haben sogar den Versuch gemacht, so etwas wie eine einheitliche Parole für die Stichwahlen auszugeben. Der geschäfts­führende Ausschuß forderte nämlich auf, in erster Linie für die Kandidaten der Fortschrittler einzutreten unter der Voraus­setzung, daß diese gleiches mit gleichem vergälten. Indes wurde es den Landesorganisationen gestattet, auch Abkommen mit an­deren Parteien zu schließen, das heißt auch mit der Rechten und dem Zentrum. Der Einfluß des geschäftsführenden Ausschusses der Nationalliberalen war überdies so gering, daß er ein Ab­kommen der Schlcswig-Holsteiner Nationalliberalen mit den Land- bündlern und Konservativen gegen den Fortschritt nur bedauern, aber nicht verhindern konnte. Der Fortschritt ging ein klein wenig weiter. Zwar forderte er auch vorerst zur Unterstützung der Nationalliberalen auf, obgleich einen erheblichen Teil ihrer Kandi­daten waschechte Reaktionäre bildeten. Zwar wagte der Fortschritt nicht einmal die Losung für die Sozialdemokratie gegen die Blau­schwarzen auszugeben. Aber er forderte seine Wähler wenigstens auf, den Blauschwarzen keine Stimme zu geben. Das genügte schon, um die Konservativen und das Zentrum in wilde Wut zu versetzen. Sie erließen sofort Aufrufe, worin sie drohten, die Liberalen überall gegen die Sozialdemokratie im Stiche zu lassen, indem sie Wahlenthaltung übten. Indes ließen sie vorsichtig die Brücken ins liberale Lager stehen: wo besondere Abmachungen auf Gegenseitigkeit getroffen werden könnten, da sollten sie voll­zogen werden. Die Sozialdemokratie allein hielt sich allen Zwei­deutigkeiten fern. Sie versprach allen den Liberalen Unter­stützung gegen Rechte und Zentrum, die die auf dem Parteitag von Jena 1911 geschaffenen Stichwahlbedingungen anerkannten. Diese Bedingungen enthalten die Verpflichtung zur Ablehnung aller Anschläge auf das Reichstagswahlrecht und das Koalitions­recht, aller Ausnahmegesetze und Versuche, Ausnahmebestim­mungen in das Strafrecht einzuschmuggeln, sowie zur Ablehnung der Erhöhung aller Zölle und Steuern auf Lebensmittel. Der Reichskanzler ließ dieNorddeutsche Allgemeine Zeitung" jeden Tag Gift speien über den Verrat des Liberalismus an der bürger­lichen Gesellschaft. Indes kam es ja gar nicht so schlimm, wie er getan hatte. Der Fortschritt verübte zwar am ersten Stichwahl­tag Verrat, aber nicht an der Reaktion, sondern an seiner eigenen Wahlparole und an der Sozialdemokratie. Nicht weniger als 13 Wahlkreise lieferte er am 23. Januar den Blauschwarzen aus, so daß die Sozialdemokratie an diesem Tage nur 8 Mandate Rostock , Hameln , Kassel , Eschwege -Schmal­ kalden , Würzburg , Dresden-Altstadt, Löben und Freiberg durchweg ohne Fortschrittshilfe gewann, während sie dem Fortschritt zu 13 Mandaten verhalf. Besonders schmählich verhielt sich der Fortschritt in Sachsen , wo er Antisemiten und Konservativen durchhalf, um das Mandat von Plauen vor der Sozialdemokratie zu retten. Diese Preisgabe der politischen Ehre war indes vergebens. Am 22. Januar fiel Plauen trotzdem der Sozialdemokratie zu. Dieser Tag war wieder ein reicher Erntetag unserer Partei. Sie eroberte 27 Sitze Hildes­ heim , Einbeck -Northeim , Kottbus-Sprcmberg, Oschersleben - Halber st adt, Jerichow , Bitte r- feld-Delitzsch, Dessau -Zerbst , Bernburg -B al­len st edt, Weimar -Apolda , Jena -Neustadt, Al- tenburg, Plauen , Breslau-Ost, Görlitz , Hagen , Köln , Höchst- Homburg, Frankfurt a. M,. Darm­stadt, Erbach -Bensheim , Heilbronn , Ansbach - Schwabach , Bayreuth , Kaiserslautern , Straß- burg-Land, Kolmar und Metz . Auch an diesem Tage hat der Fortschritt vier Wahlkreise ohne Einschränkung der Reaktion ausgeliefert. In den anderen, die die Sozialdemokratie gewann, und in denen seine Stimmen in Betracht kamen, hat er sich ge­teilt. Und zwar fiel der größere Teil meist der Reaktion zu, so daß die Sozialdemokratie in vielen dieser Wahlkreise nur infolge ihres Vorsprunges oder durch Reserven siegte. Von besonderer Bedeutung war die Eroberung Kölns durch die Sozialdemokratie. Der Verlust des heiligen Kölns ist für das Zentrum ein schwerer moralischer Schlag. Der Fortschritt und die Jungliberalen haben hier in der Mehrheit gegen, die Rechts­nationalliberalen für das Zentrum gestimmt. Das Zentrum hatte alles aufgeboten, um den wichtigen Sitz zu retten es hatte den Nationalliberalen zu diesem Zweck ein weitgehendes Abkommen angeboten. Aber diese mußten mit der antiklerikalen Stimmung der Kölner Jungliberalen rechnen und schloffen das Abkommen daher nur für das R u h r r e v i e r und Düsseldorf ab. Das Zentrum sollte Essen, Dortmund und Düsseldorf , die Nationalliberalen Bochum und Duisburg -Oberhausen erhalten. Die Rechnung war indes ohne die Sozialdemokratie und den linksstehenden Teil der Nationalliberalen gemacht. Das Zentrum spielte zwar Duisburg und Bochum , wo die christ­lichen Bergarbeiter gegen den Vertreter des freien Bergarbeiter­verbandes Huö aufgepeitscht worden waren, den Nationallibe­ralen in die Hände. Selbst aber konnte es nur noch einmal das Essener Mandat behaupten, während Dortmund und Düs­ seldorf der Sozialdemokratie verblieben. Der Verlust von Bochum und Duisburg ist für die Sozialdemokratie frei­lich sehr schmerzlich, indes kann sie aus ihrem Stimmenzuwachs in diesen beiden Kreisen wie auch in Essen, der weit größer als der der Bürgerlichen ist, die Gewißheit schöpfen, daß ihr das Nuhrrevier bald im ersten Wahlgang gehören wird. Außer Düsseldorf und Dortmund gewann die Sozialdemokratie am 25. Januar noch die Mandate von Elberfeld -Barmen, Lennep-Mettmann, Altena -Iserlohn , Sorau - Forst, Kalau-Luckau, Potsdam-Ost Havelland, Nordhausen , Grünberg-Frey st adt und Strie- gau-Schweidnitz . Am letzten Stichwahltag hatte der Fort­schritt zu den sozialdemokratischen Siegen einiges beigetragen, wenn er auch noch lange nicht das getan hat, was seine politische Pflicht war. Viele Mandate erfocht die Sozialdemokratie vom Fortschritt, so am 22. Januar Görlitz , wo der Vater der Arbeiterentrech­tung in den Krankenkassen, Herr M u g d a n, in den Sand rollte, und Hagen , das Eugen Richter ein Menschenalter vertreten hatte; am 25. Januar Nordhausen , das nicht minder lang im fortschrittlichen Besitz gewesen, und wo der Führer vr. Wiemcr unterlag. Sonst ist von den Stichwahlergebniffen noch bemerkens­wert, daß der Edle von Oldenburg auf Januschau , einer der ruppigsten Vertreter des Junkertums und Staatsstreich­politiker, in Elb in g durch einen Freikonservativen verdrängt wurde. Gleich in zwei Stichwahlen ist der Führer der Bauern­bündler Or. Nösicke durchgefallen, nachdem sein Kampfgenosse Or. Hahn schon in der Hauptwahl durchgerasselt war. Dafür wird vr. Ortel, der begeisterte Vertreter der Prügelstrafe, den Reichstag wieder zieren. Die Sozialdemokratie kann mit freudiger Genugtuung auf die Stichwahlen zurückblicken. Sie hat eine ganze Anzahl von Man­daten durch das Aufgebot von Reserven noch aus eigener Kraft gewonnen. Dort, wo ihr ein Teil liberaler Wühler oder die Wahl­enthaltung der Rechten und des Zentrums zum Erfolg verholfcn hat, tat sie nichts, was gegen ihre Grundsätze verstieß, um diese Hilfe zu erlangen. Mit reinem Schilde verlätzt sie das Feld des zweiten Wahlganges, das für die bürgerlichen Parteien eine Stätte unwürdigen Schachers oder erbärmlichen Verrats war. Das Zentrum wird das gerettete Essener Mandat teuer zu bezahlen haben die Abkommandierung der katholischen Ar­beiter zugunsten der nationalliberalen Scharfmacher wird in proletarischen katholischen Kreisen die Erkenntnis des arbeiter­feindlichen Charakters des Zentrums mächtig fördern. Die Wahl 1912 ist der Anfang vom Ende des Zentrums als Partei prole­tarischer Massen die Entwicklung, die jetzt einen kräftigen Ruck vorwärts getan hat, wird es allmählich auf die ländlichen Kreise der katholischen Gebiete zurückwerfen. Man darf sich diese» Prozeß allerdings nicht allzu schnell vorstellen. Es wird noch harter Kämpfe bedürfen, bis er sich durchsetzt, aber der Anfang ist gemacht.