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Die Gleichheit

waren den anwesenden Gegnern natürlich nicht angenehm. Dafür zeugte am deutlichstent der Verlauf der Versammlung in Gebstedt  . Agrarier mit einem Landbesitz von über 100 Hektar versuchten durch allerhand Zwischenrufe die Versammlung zu stören, aber ihre Flege­leien hatten nicht den gewünschten Erfolg. Als sie den vorzeitigen Schluß der Versammlung erzwingen wollten, ließ die Referentin ihnen eine derartige Abfuhr zuteil werden, daß sie vor Wut mit erhobenem Krückstock auf sie eindrangen und erklärten, von einer Frau ließen sie sich überhaupt nichts sagen. Die meisten Anwesenden brachten jedoch zum Ausdruck, daß sie das Referat zu Ende hören wollten. So schloß die Versammlung erst nach vierstündiger Dauer, und auch die standalierenden. Herren hörten bis zuletzt zu, wenn­gleich sie vorher erklärt hatten, keine Zeit zu haben. Die Herren müssen sich nun mit noch Ärgerem abfinden: daß jezt über ihren Wahlkreisen das rote Banner weht. Berta Lungwiz.

Die Reichstagswahlbewegung in Chemnitz   setzte mit neun großen Volksversammlungen ein, die zu dem Thema Stellung nahmen: ,, Die Teuerung und die herrschenden Klassen." Die Versammlungen, die auch von Frauen stark besucht waren, waren so überfüllt, daß eine regelrechte Agitation unmöglich war. Dafür erzielten die Ge­nossinnen im Januar gute Erfolge in drei Frauen- und Wähler­versammlungen, in denen Genossin Schlomer- Lübeck wirkungs­voll über Die Frauen im Reichstagswahlkampf" sprach. Trotz des sehr schlechten Wetters waren die Säle überfüllt, die Frauen be= kundeten durch ihr massenhaftes Erscheinen und ihren Beifall das regste Interesse an dem Wahlkampf. Es wurden über hundert Gleichheits  " leserinnen und eine Anzahl weiblicher Parteimitglieder gewonnen. Am Wahltag selbst ward der Tätigkeitsdrang der Ge­nossinnen nicht gestillt. Die Gegner machten uns wenig Arbeit, und die Zahl der Genossen, die helfen wollten, war schon ohne die Genossinnen zu groß. So brachten einzelne Genossinnen ihre Teil­nahme an der Wahl dadurch zum Ausdruck, daß sie die Zettel­verteiler zum Teil auch die gegnerischen mit heißem Kaffee und Stollen bewirteten, was diese bei der strengen Kälte mit großer Freude aufnahmen. Jetzt nach der Wahl wollen wir eine Haus­agitation zur Werbung weiblicher Mitglieder vornehmen. Der große Sieg der Partei ist uns ein Ansporn zu verdoppelter Tätigkeit, die uns zu immer größeren Siegen führen soll. M. Schlag.

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Am 10. Januar fand in Solingen   eine öffentliche Frauenver­sammlung statt, in der Genossin Agnes- Düsseldorf über das Thema referierte: Die Frauen und die Reichstagswahl". Die Versamm lung zeigte, daß die proletarischen Frauen im Wahlkreis Solingen  für den Reichstagswahlkampf starkes Interesse hatten. Der große Saal des Gewerkschaftshauses und ein anschließender kleinerer waren bis auf den letzten Platz besetzt. Genossin Agnes wurde in ihrem Vortrag oft von stürmischem Beifall unterbrochen. 12 neue Mit­glieder gewann die Parteiorganisation an dem Abend. Wir sprechen an dieser Stelle den Wunsch aus, daß die Frauen so zahlreich wie in dieser öffentlichen Veranstaltung auch in den Mitgliederversamm lungen erscheinen mögen, in denen keine auswärtige Referentin spricht. Sophie Christmann.

Von der Wahlarbeit der Genossinnen im neunten han­noverschen Wahlkreis. Nach fast vierzigjährigem Ringen ist es der Sozialdemokratie gelungen, den neunten Hannoverschen Reichs­tagswahlkreis, eine Hochburg der Nationalliberalen, zu erobern. Es war ein harter Kampf, und er hat den Genossinnen und Genossen manche harte Stunde gebracht. Den Gegnern war es etwas Neues, daß die Frauen bei der Wahlarbeit halfen. Beim Flug­blattverbreiten auf den Dörfern wurde ich zuerst mit Gelächter und Verhöhnungen empfangen. Als die Gegner aber die Aus­dauer der Genossinnen sahen, nahmen sie uns schon etwas höf­licher auf allerdings mit Ausnahmen. So zum Beispiel verteilte ich am Tage vor der Stichwahl in dem Dorfe Amelgaßen Flug blätter und Stimmzettel. Eine der Dorfgrößen konnte es nicht übers Herz bringen, mich ungeschoren zu lassen. Als ich dem Herrn ein Flugblatt und einen Stimmzettel anbot, herrschte er mich an: Machen Sie, daß Sie mit Ihrem Mist von meinem Hofe kommen." Auf meine Entgegnung, daß das doch nicht sein Ernst sei, ergriff er eine Heugabel und bedrohte mich mit Schlägen; nur meiner Ruhe ist es zu verdanken, daß kein Unheil geschah. Ob die Gegner wirklich glauben, durch solche Mittel die proletarischen Frauen von der Agitation abzuhalten? Auch an den Wahltagen spotteten die Gegner über die Mitarbeit der Genossinnen und äußerten vielfach noch die altbackene Ansicht, daß die Frauen im politischen Leben nichts zu suchen hätten, sondern sich mehr um den Haushalt kümmern sollten. Wie erfolglos ihr Bemühen war, die sozialdemokratischen Frauen von der Wahlarbeit zurückzuschrecken, zeigte der Umstand, daß sich an den beiden Wahltagen eine Anzahl Genossinnen zum Stimmzettelverteilen einfand. Auch bei der Verkündung der Wahl­

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ergebnisse waren sehr viele Frauen anwesend. Es ist jetzt die Pflicht der Genossinnen und Genossen, die freudige Kampfes- und Sieges. ſtimmung nicht ungenutzt verfliegen zu lassen, damit die Organi­sation in Hameln   sich festigt und ausbreitet. Wir dürfen nicht auf den Lorbeeren des Sieges ausruhen, sondern müssen die neu ge= wonnenen Mitstreiter schulen und neue Mitkämpfer und-kämpfe­rinnen gewinnen. Rosa Helfers  .

Ewald Buchheim+. Ein Genosse, der seit mehr als drei Jahr­zehnten in treuer Arbeit dem Befreiungskampf des Proletariats ge­dient hat, ist am 3. Februar in Stuttgart   unerwartet schnell einem tückischen Leiden erlegen: Ewald Buchheim. Genosse Buchheim entstammte den Streisen der unteren Postbeamten, wo Sorgen und Entbehren zur standesgemäßen" Eristenz gehört. 1872 fam er, faum der Schule entwachsen, als Ausläufer in die Volfsbuchhandlung, welche von der jungen sozialdemokratischen Partei in den siebziger Jahren in Leipzig   gegründet worden war. Die Intelligenz und der Eifer des anstelligen Bürschleins fielen dem kundigen Blick unseres Julius Motteler   auf, der damals die Volksbuchhandlung leitete. Der spätere rote Postmeister" nahm sich Buchheims an und bildete ihn zum Kaufmann und Buchhändler aus. Die Stürme des Sozialisten­gesetzes vernichteten das Leipziger Parteigeschäft, und als der aus Hamburg   ausgewiesene Genosse Dietz 1881 daran ging, aus seinen Trümmern in Stuttgart   Buchhandlung und Druckerei neu aufzu­bauen, siedelte auch Genosse Buchheim nach dort über. Er wurde der Leiter der buchhändlerischen Abteilung des Geschäfts und hat in diesem seinen Wirkungskreis redlich sein Bestes für die Aus­dehnung des Verlags getan, der wie fein zweiter in der Partei die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus gefördert und populari­siert unter die Massen getragen hat. Als Leiter der buchhändlerischen Abteilung hat Genosse Buchheim länger als zwei Jahrzehnte dem Versand der Gleichheit" vorgestanden, von der Zeit an, wo sie als kleines Blatt in wenigen Tausenden von Exemplaren hinausging, bis heute, wo ihre Auflage von fast 100000 der Stolz der Genos­sinnen ist. Gründliche berufliche Sachkenntnis und mancher wertvolle praktische Rat seinerseits haben die Verbreitung der Zeitschrift ge­fördert. Es versteht sich, daß sich Buchheim schon früh zu einem durchgebildeten, überzeugten Sozialdemokraten entwickelt hatte. Er stand lange Jahre mit im Vordertreffen unseres Kampfes und wurde wieder und wieder auf Ehrenposten gestellt, bis ihn Kränklichkeit zur Schonung zwang. Wo immer er wirkte, da gab er schlicht und zuverlässig sein Bestes in dem frohen Bewußtsein, daß auch die wenig nach außen tretende Arbeit ein notwendiges Glied in der Kette des Kampfes ist, der das Proletariat seiner Befreiung ent­gegenführt. Sein Andenken wird bei uns in Ehren bleiben.

Politische Rundschau.

Der Kaiser hat den Reichstag am 7. Februar im Schlosse mit einer Thronrede eröffnet. In dieser kündigte er außer den Rüstungs­vorlagen und den dazu gehörigen Steuerforderungen nur noch einen Gesezentwurf über die Staatszugehörigkeit an und unterstrich da­durch kräftig die Tatsache, daß der neue Reichstag vor allem Be­willigungsmaschine für den Imperialismus sein soll. Und sicherlich werden sämtliche bürgerlichen Parteien dieser Aufgabe bereitwilligst all ihre Kräfte leihen. Die Weltmachtspolitik ist der Boden, auf dem sich die bürgerlichen Parteien zuerst finden werden, um einen ein­heitlichen Block gegen die Sozialdemokratie zu bilden.

So wortkarg die Thronrede im übrigen in bezug auf die Gesetz­entwürfe ist, die dem Parlament unterbreitet werden sollen, so reich ist sie an allgemeineren Ausführungen über die Absichten der Reichs­regierung. Sie laufen alle auf den einen, für die verprügelten Junier und Zentrumsmänner tröstlichen Satz hinaus: Wir machen keine Zu­geständnisse an den Volkswillen, wir pfeifen auf das Wahlergebnis! So versichert der Kaiser, daß die Grundlagen unserer Zollpolitik auch fünftig nicht verlassen" werden, das heißt, daß die Raubzoll­politik weitergeführt werden wird. Und gleich im Eingang seiner Rede betont er, das Ziel seines Handelns sei, das feste Gefüge des Reiches und staatlicher Ordnung unversehrt zu erhalten". Das soll wohl eine Warnung für die Sozialdemokratie und eine Beruhigung für den Bürgersmann sein, dem die sozialdemokratischen Siege Alp­drücken bereiten. Vielleicht verbirgt sich auch die Ankündigung einer Buchthausvorlage, eines Gesezentwurfes zur Erdrosselung des Koali­tionsrechts hinter diesen Worten. Das werden wir ja bald wissen. Vorerst wissen wir, daß die Regierung sich weigert, aus dem Er­gebnis der Reichstagswahlen zu lernen, wie wir's nicht anders er­wartet haben. So schnell geben herrschende Klassen und ihre Ver­tretungen ihre Stellung nicht auf. Die Regierung hat um so weniger Veranlassung dazu, als sie die besten Hoffnungen hat, aus Kon­servativen, Zentrum und Nationalliberalen eine Mehrheit zu bilden,