223 Die Gleichheit Nr.lZ Daß die nahenden Frühlingsmonate zur umfassen­den Agitation, besonders auch zur Hausagita- tion benutzt werden, möchten ttnr nochmals als drin­gend notwendig betonen. Alle die Frauenmassen, die durch die Wahlbewegung aufgerüttelt worden sind, müssen wir organisatorisch und geistig erfassen, so verlangt es das Interesse der Arbeiterklasse. Bemerkt sei noch, daß vor wenigen Tagen ein Flugblatt an die Bezirke versandt worden ist, das sich andie Frauen und Mädchen der Ar­beiterklasse" wendet und die Agitation unserer Genossinnen erleichtern soll. Eine lebhafte Agitation, die wir jetzt unter den uns noch Fernstehenden entfalten, wird, abgesehen von anderem, auch eine wirksame Vorarbeit für das Gelingen unseresFrauentags " sein. Luise Zietz . Die Kinder von Lawrence. Ein klarer kalter Nachmittag im Februar. Fahler Winter­sonnenschein glänzt über den Straßen der Weltstadt New Aork, durch die das rastlose Leben flutet. Die vierte Avenue entlang rollen die elektrischen Tramways, rasseln die Wagen, wälzen sich Ströme von Menschen dahin, jeder in seinen eigenen Jnteressenkreis versunken, jeder dem eigenen Ge­schäft nachjagend oder dem eigenen Vergnügen, mit jener eigentümlichen, nervösen Hast, die den amerikanischen Groß­städter charakterisiert. Da plötzlich dringen durch den eintönigen Lärm hell und klar die Klänge der Marseillaise . Die Vorüberhastenden hor­chen auf. Dieser und jener bleibt stehen und wartet am Rande des Trottoirs auf den sich ankündigenden Zug. Mit festen Schritten, lustig blasend, kommt die Musikkapelle die Straße entlang. Het, wie schmettern die Trompeten und Posaunen das internationale Lied der Rebellion! Doch welch seltsame Schar folgt den fröhlichen Musi­kanten?! Das sind keine Männer, die zu einer politischen Versammlung marschieren. Das sind keine Frauen, die für das gleiche Wahlrecht demonstrieren. Kinder sind es, an die Ml) kleine, magere, zerlumpte Kinderl Ist dies ein neuer Kreuzzug? Spukt das graue Mittelalter im Lichte des zwan­zigsten Jahrhunderts in den Straßen New Z)orks? Ja, es ist ein neuer Kinderkreuzzug, aber nicht religiöse Schwärmerei hat ihn gebildet, und das Heilige Grab ist nicht sein Ziel. Hunger und Elend, Armut und Not haben ihn zusammen­getrieben, und sein Ziel sind fremde Heimstätten für die hei­matlosen Kinder des Proletariats. Und wo sind diese Heim­stätten? Bei den Noten, denUmstürzlern", den einzigen in diesem christlichen Lande, die zu den kämpfenden, darbenden Brüdern und Schwestern treten und zu ihnen sprechen, wie einst Jesus von Nazareth sprach: Lasset die Kindlein zu uns kommen! Staunend, voll Verwunderung über das Neue, Fremd­artige des Schauspiels, manche kopfschüttelnd und voll Un­willen, andere von aufwallendem Mitleid erfüllt, so sehen die Passanten den Zug der Kinder von Lawrence vorüberziehen. Tie Kinder selbst schreiten furchtlos und vertrauensvoll ein­her, im vollen Bewußtsein der Rolle, die sie in dem Kampfe ihrer Väter und Mütter spielen. Stolz tragen sie auf der Brust das rote Abzeichen und die Aufschriften:Wir sind die Kinder der Streiker."Seid keine Streikbrecher!"Helft den Streikern von Lawrence!" Die meisten sind blaß und schmächtig, nur dürftig gekleidet, Haut und Haare sichtlich vernachlässigt: aber auf den Zügen der älteren liegt eine Entschlossenheit, ein Kampfesmut, die Wochen der Not und der verzweifelten Kämpfe dort unauslöschlich eingegraben haben. Viele halten sich an den Händen und singen in ver­schiedenen Sprachen die Worte der Marseillaise . Nur die ganz kleinen Kinder scheinen müde und unzufrieden; hier und da rollt eine leicht zu trocknende Kinderträne über ein schmutziges Gesichtchen, und manche werden auf den Armen der Frauen getragen, die mit im Zuge marschieren, um die Kinder zu hüten und zu bewachen. Jetzt haben die Kinder den Union Square erreicht, wo sie von lauten Jubelrufen und wehenden Fahnen begrüßt wer­den. Hier findet unter freiem Himmel eine Sympathiever- sammlung statt, um die Lage der Streiker zu schildern, ihre Forderungen zu erklären und Geld zu ihrer Unterstützung zu sammeln. Auf einer Tribüne stehen Männer und Frauen, die den Kampf in Lawrence selber mitgekämpft haben, sie halten zündende Ansprachen an die versammelte Menge. Aber mächtiger als die leidenschaftlichen Worte der Redner erhebt der Zug der Kinder, der ernst und wortlos vorüberzieht, eine stumme und doch so beredte Anklage gegen die heutige Gesell­schaft: er ist ein lebendes Menetekel für das kapitalistische System. Bald ist der Zug in eine Seitenstraße eingebogen, und nun verschwindet die ganze Schar hinter den breiten Flügel­türen eines Lokals, wohin ihnen die Menge nicht folgen darf. Darinnen erwartet sie ein Fraucnkomitee der sozia­ listischen Partei und eine reich gedeckte Tafel. Und plötzlich ist alles anders, ganz anders. Kein Fahnenwehen und kein Hurrarufen mehr; keine begeisternden Klänge der Marseillaise und kein Kampfesmut in den Augen der Kleinen selber. Hier ist nur noch ein Heer von müden, hungrigen, verwahrlosten Kindern, deren Herzen nach Mutterliebe schreien. Aber die Mutterliebe ist da. Nicht die der eigenen Mütter, die für Hungerlöhne in den Webereien von Lawrence arbeiteten, bis eine Kürzung des kargen Lohnes sie in den Streik trieb, und die kämpften und darbten, bis der Hunger sie zwang, die Kinder von sich zu geben. Fremde Frauen sind es da, die die Kinder liebevoll empfangen, niit einer ganz neuen Art der Mutterliebe, die dem sozialistischen Bewußtsein und dem Verantwortlichkeitsgefühl entspringt. Mit schlichter, natür­licher Herzlichkeit begegnen diese Mütter, meist Arbeiter­frauen, den kleinen Fremdlingen. Die eine beeilt sich, den Schmutzigsten Gesichter und Hände zu waschen: die andere entledigt die ganz kleinen ihrer Mützen und Mäntel; diese trocknet einem Weinenden die Tränen und redet ihm liebe­voll zu, und jene hat eine Gruppe noch Munterer um sich ver­sammelt und plaudert und lacht mit ihnen. Und dann geht'S zum Mahl. An langen Tischen nehmen die Kinder Platz, je nach ihrer nationalen Zugehörigkeit zusammengruppiert. denn vielsprachig, wie dieses ganze Land, sind auch die Kinder von Lawrence. Hier sind Franzosen, Italiener und Deutsche, Russen und Polen , Griechen und Rumänen; hier sind Katholiken und Protestanten und Juden, fromm und ungläubig Erzogene. Ehe der Streik begann, haben sich diese Kinder, wie ihre Eltern, fremd, ja sogar oft feindlich gegen­übergestanden. Aber der gemeinsame Kampf hat die Schran­ken zwischen ihnen niedergerissen und ein Band geknüpft, da? stärker ist als gemeinsame Sprache und Religion, das Band der Klassengemeinschaft. Die Kinder werden reichlich mit Speise und Trank versorgt. Arbeiterorganisationen und ein­zelne Personen haben das Mahl besorgt, und der Wirt des Lokals hat Obst und Süßigkeiten gespendet. Heißhungrig fallen die Kleinen über die Speisen her, aber die meisten sind schon mit wenigem gesättigt, und viele, die den guten Sachen nicht widerstehen können, klagen gleich darauf über Magen­beschwerden, so daß man einen Arzt rufen muß. Einige Kinder übergeben sich. Die an chronisches Hungern ge­wöhnten Magen können gute und reichliche Kost nicht er­tragen. Nach Beendigung des Mahles wurden die Kinder in einen anderen Raum geführt, und nun beginnt die Zu­weisung der Kinder an die Pflegeeltern, für das Ksmitce eine schwierige, verantwortliche Arbeit; der Augenblick der höchsten Spannung an diesem ereignisreichen Tage für die heimatlosen Kleinen. Manchen kommt eS erst jetzt zum Bewußtsein, daß sie in der Fremde sind, und sie besinnen herzbrechend zu weinen. ES bedarf endloser Gifte und milder, liebevoller Worte, um die so berechtigten Tränen zu trocknen. Viele hingegen, die selbständigeren Naturen, sind lustig und guter Dinge und gehen daran, sich selber ihre