Nr.!Z Die Gleichheit 22» Pflegeeltern auszusuchen. Ein Knabe legt seine Hand ver- tranensvoll in die eines liebenswürdigen, alten Herrn und erklärt dem Komitee:„Ich möchte mit diesem Manne gehen." Ein kleine» Mädchen, eine mutterlose Waise, schlingt die Arme um eine Frau, die sich bereits mit dem Kinde angefreundet hat, und bittet:„Sei du meine Mama!" Das Komitee überwacht die Verteilung mit größter Gewissenhaftigkeit. Keiner erhält ein Kind, der dem Komitee nicht Persönlich bekannt ist oder dessen Heim und Familie nicht vorher geprüft wurde. Kein Kind kann abhanden kommen oder in schlechte Hände geraten. Rührend ist es, wie Männer und Frauen— einzelne bürgerliche, aber meist Proletarier sich zur Fürsorge für die Kinder drängen. Es sind viel niehr bereitwillige Pflegeeltern als Kinder vorhanden.„Gebt mir eines der Kleinen," schrieb ein armer russischer Jude vorher an das Komitee.„Meine eigene Familie fiel in Nußland der religiösen Verfolgung zum Opfer, aber dennoch nehmen wir ebenso gern ein christliches wie ein jüdisches Kind." Ein ungarischer Tischler schrieb:„Ich habe selber drei Kinder. aber meine Frau meint, wo drei satt werden, ist auch noch für ein viertes Raum: daruin bitten wir, uns eines der Kinder zu überlassen." Eine deutsche Arbeiterfrau, die linder- los ist, hat schon eine ganze Woche vor Ankunft der Kinder Kleidchen und Unterwäsche fiir das kleine Mädchen genäht, daS man ihr versprochen hatte. Einige Stunden nach ihrer Ankunft in New Aork sind die Kinder von Lawrence sämtlich im neuen Heim untergebracht. Jedes Heim ist besser als das, aus dem die Kinder der Streiker kommen. Die Mütter und Väter, die sich der Kinder annahmen, setzen ihren Stolz darin, diesen das Leben so behaglich wie möglich zu gestalten. Schon nach wenigen Tagen sind viele der vernachlässigt aussehenden Knaben und Mädchen kaum wiederzuerkennen. Sie sind gebadet und ordentlich gekämmt. Sie haben reine, neue Kleider und gehen zur Schule. An Stelle der Not und Entbehrung der verflossenen Wochen tritt für alle Ordnung und Behaglichkeit. Viele kosten zum ersten Male die Freuden einer sorglosen Kindheit. Einige haben in wohlhabenden Familien Unterkunft gefunden, und diesen dämmert eine neue Welt, eine Märchenwelt auf. Welches sind die Wirkungen der Fürsorge für die Kinder, dieses in Amerika neuen Mittels im Klassenkampf, das auch schon in Frankreich und Italien zur Anwendung gekommen ist? Die kapitalistische Presse erhebt ein Wutgeheul. Pfaffen wettern von der Kanzel gegen die Sozialisten, die Heim und Familie zerstören. Tem Stteik in Lawrence wurde ein neuer, mächtiger Ansporn gegeben, und reichlicher als zuvor flössen den Arbeitern die Mittel zur Fortsetzung ihres Kampfes zu. Die Männer und Frauen in unseren eigenen Reihen haben mit ihrem Vorgehen ein herrliches Beispiel der Solidarität, der treuen Hingabe und Opferfreudigkeit gegeben. Wie aber wird das Erlebnis auf die Kinder selber wirken? Es erheben sich Bedenken über diese Frage selbst unter denen, die für das neue proletarische Kampfesmittel Sympathien hatten. Wer- den die Kinder nicht den eigenen Eltern entfremdet werden? Wird es nicht trostlos für sie sein, aus sorgloser, freudiger Umgebung wieder in die Not des eigenen Heims zurückzukehren? Solche Bedenken sind nicht ganz unberechtigt, aber die Frage hat noch eine andere Seite. Daß diese armen Kinder einmal eine-Zeitlang gut genährt und gepflegt werden, daß sie die Sonnenseite des Lebens kennen lernen, kann nur günstig auf Korper und Seelen wirken. Wenn aber der Vergleich zwischen den günstigeren Verhältnissen der anderen und ihrer eigenen Notlage sie zum Nachdenken veranlaßt und wenn dieses Nachdenken den Geist der Rebellion in ihnen entfacht— nun, um so besser! Sie sollen ja Rebellen gegen die kavita listische Ordnung werden. Meto L.Stern, New Aork. Mädchenhandel. Was vom sozialdemokratischen Standpunkt au« zu dem neuerdings wieder aktuell gewordenen schmachvollen Kapitel deS Mädchenhandels zu sagen ist, das ist in prägnanter und konzentrierter Form in Nr. IL der„Gleichheit" zusammengefaßt worden. Hierzu sollen die folgenden Ausführungen einige Illustrationen liefern. Besitzt doch die proletarische Frauenbewegung in dem immer wiederholten Hinweis auf Prostiwtion und Mädchenhandel als grausigen Schandmalen unserer Zeit und gesetzmäßigen Erscheinungen der bürgerlichen Ordnung eine scharfe Waffe im Kampfe gegen den Kapitalismus. Prostitution und Mädchenhandel sind nur die letzten und verruchtesten Konsequenzen eines Wirtschaftssystems, das auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht. In der Sprache der Juristen charakterisiert sich der Mädchenhandel als gewerbsmäßiges Anwerben und Verhandeln von weiblichen Personen zu unzüchtigen Zwecken. Bis vor drei Jahrzehnten etwa kümmerte sich in der Öffentlichkeit niemand um die Scheußlichkeiten, die auf geschlechtlichem Gebiet im stillen mit größter Ungeniertheit vor sich gingen. Erst die grauenerregenden Mitteilungen der englischen„Pall Mall Gazette " über den„Jungfrauentribut im modernen Babylon " alarmierten die Welt. Hier wurde die Existenz eines riesenhaften Handels nachgewiesen, der Jungfrauen und Kinder in die Bordelle lieferte, als Opfer einer Lebewelt, die, von allen Genüssen übersättigt, von der Ent- jungferungsmanie besessen war. Bis auf den Kontinent dehnte dieser Mädchenhandel der Engländer sich aus. All- mcwncy gewann man immer mehr sichere Anzeichen dafür, daß ein internationaler Kauf und Verkauf von Frauenfleisch in großem Maßstab betrieben wird. Keines der sogenannten Kulturländer ist frei von diesem Verbrechen. Für den Import und Export wie für den Durchgangsverkehr kommen sie alle in Frage. Statistische Nachforschungen über die Nationalität der Opfer des Mädchenhandels haben ergeben, daß Galizien allein 40 Prozent liefert, Rußland 1k, Italien 11, Österreich-Ungarn 10, Deutschland 8 bis 10, Frankreich k, England 4, Spanien 4 und Argentinien 3 Prozent. Galizien mit seiner verhältnismäßig starken jüdischen Bevölkerung stellt nicht nur den höchsten Prozentsatz an Prostituierten, sondern auch das Hauptkontingent an Mädchenhändlern, eine Tatsache, die unsere teutschen Antisemiten mit Vorliebe anführen, um die Minderwertigkeit und Gemeingefährlichkeit der jüdischen Rasse zu erweisen. Allein auch bei dieser Tatsache sind wirtschaftliche Mächte am Werke, die sowohl das Verbrechen selbst erzeugen wie auch ihm seine Opfer zutreiben. Auf der deutschnationalen Konferenz zur Bekämpfung des Mädchenhandels zu Frank furt a. M. im Jahre 1902 führte SanitätSrat Ur. Maretzki- Berlin aus. daß die Ursachen des galizischen Mädchen- Handels in den sozialen Zuständen liegen. Von 800 000 Juden in Galizien führen drei Viertel ein Dasein, das noch weit hinter der Existenz der Stadt- und Landarmen Deutsch lands zurückbleibt. Eine sechsköpfige Familie hat kaum einen Gulden für die Woche zum Leben. Zahllose Mädchen müssen sich mit einem Wochenlohn von 14 Kreuzern begnügen. Dazu ein Tiefstand der Kultur, eine geistige Armut, die wahrhaft erschreckend sind. Die Not gerade der Juden ist darum so groß, weil sich die Erwerbsverhältnisse durch feindselige Strömungen für sie besonders schwer und ungünstig gestalten. Ist es da ein Wunder, daß sich Desperados finden, die zu Verbrechern werden, weil ihnen die Gesellschaft alle« schuldig geblieben ist? Als Glaubensgenossen erhalten sie bei den galizischen Juden leicht Eingang, als Glaubensgenossen traut man ihnen nichts Arges zu. In einer Bevölkerung, in der der Hungertyphus wütet, wird es den schmutzigen Gesellen nicht schwer, willfährige Opfer zu finden, die den glänzenden Versprechungen vertrauen und arglos in die Fremde gehen— meist nach Rußland und Argen -
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23 (15.4.1912) 15
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