Nr. 15
Die Gleichheit
bie Wohnungen besonders der minderbemittelten Bevölkerungsschichten, die durch ihren Beruf an die Stadt gebunden sind und denen die Mittel fehlen, sich auf den Höhen anzubauen. Eine Zweigimmerwohnung fostet 350 Mart und darüber, eine Dreizimmer wohnung kommt auf 517 bis 549 Mark und noch mehr zu stehen. Dabei sind die Wohnungspreise noch ununterbrochen im Steigen begriffen, dank einer geradezu ungeheuerlichen Bodenspekulation und ber Untätigkeit der Gemeindeverwaltung angesichts des Wohnungselends. 27 bis 44 Prozent seines Jahreseinkommens muß ber Arbeiter für seine Wohnung opfern. Elende Löcher, die den Reichen zur Unterbringung ihrer Haustiere zu miserabel fein würden, dienen als Wohn- und Schlafräume für Menschen und müssen teuer bezahlt werden.
Der Sozialdemokratische Verein Stuttgart, der einen ener gischen Kampf gegen die Wohnungsmisere führt, hat in einer fleinen Broschüre, Wohnungselend in Stuttgart ", Verlag des Sozialdemokratischen Vereins Stuttgart , Tatsachen und Zahlen über die Wohnungsverhältnisse der Stadt bekanntgegeben, die wir der Beachtung der Genossinnen für ihre Agitation empfehlen. Sie werden zumal auch gute Dienste tun bei der Kleinarbeit, dem aufklärenden Worte von Frau zu Frau. Es ist ja die Proletarierin, die am schwersten unter dem Wohnungselend leidet. Das läßt auch das Schriftchen flar hervortreten. Damit die Familie die hohe Miete aufbringen kann, muß bie Frau mitverdienen. Die Mutter ist gezwungen, in die Fabrik oder zum Waschen usw. außerhalb des Hauses zu gehen. Die Kinder müssen fremder Obhut überlassen werden. Oder die Mutter verrichtet Heimarbeit, die Familie nimmt fremde Schlafgänger in die Wohnung auf, so beengt auch der Raum schon an und für sich ist. In jedem Falle verdoppelt und verdreifacht sich die Arbeitslast der Frau. Und wie schwer ist es, Ordnung und Sauberkeit in einer engen Wohnung aufrechtzuerhalten, der es womöglich nicht bloß an Luft und Licht, auch an Wasserleitung, Gas usw. fehlt. Aber alle Arbeitslast und Sorge um den Mietzins ist leicht zu tragen im Vergleich zu der furchtbaren Qual, die Krankheit, Siech tum und frühes Hinsterben der Kinder dem Mutterherzen bereiten. Der zarte Kindesförper ist gegen die schädlichen Einwirkungen der feuchten, dumpfen und lichtlosen Wohnung" am wenigsten widerstandsfähig. Wie stark das Wohnungselend die Kindersterblichkeit beeinflußt, wird in dem Schriftchen daran nachgewiesen, daß in einem Stuttgarter Bezirk mit sehr elenden Wohnungsverhältnissen, Gaisburg , im Jahre 1910 auf 100 Geburten 84,4 Sterbefälle von Säuglingen entfielen; in einem anderen Bezirk mit einer Bevölkerung der gleichen sozialen Schichtung, Gablenberg , nur 17,1 vom Hundert; in einem dritten, Ostheim , nur 6,4 vom Hundert. Der lettgenannte Bezirk ist ztoar ebenfalls vorzugsweise von Arbeitern bewohnt, doch befindet sich hier eine auf gemeinnütziger Grundlage errichtete WohnungsKolonie. Der Verfasser des Schriftchens bemerkt zu den vorstehen. den Zahlen:
" Hunderte zarter Menschenknospen welken vor der Zeit dahin. Kaum hat sich das Auge dem Lichte erschlossen, kaum hat die Mutter das kleine, hilflose Wesen ans Herz genommen, so stirbt es auch schon wieder dahin. Kein Mittel, keine Pflege will nüzen. Vergeblich wacht die Mutter Nächte hindurch, vergeblich sucht fie das fliehende Leben zu halten. Alle Liebe, alle Aufopferung ist umsonst. Und die christliche Gesellschaft, die den herodianischen Kindermord mit Tränen der Rührung beklagt und dem sagen. haften königlichen Mörder Flüche ins Grab nachsendet, läßt diesen biel scheußlicheren Mord an ungezählten Menschentnospen stumpf und gleichgültig geschehen. Sie bringt es sogar fertig, die weinende Mutter mit der Behauptung trösten zu wollen:, Es ist Gottes Wille. Ach nein, nicht, Gottes Wille' knickt so früh das junge Leben. Das Wohnungselend fordert diese Opfer."
Aus dem Bericht des Stuttgarter Stadtarztes für 1909/10 wirb nachgewiesen, daß von 14 825 auf ihren Ernährungszustand unter fuchten Volksschulkindern nur 2761 als gut genährt bezeichnet wer den konnten, daß Tausende und aber Tausende dieser Kinder als ungenügend genährt und blutarm befunden wurden. Dazu kommt ein Heer von Krankheiten: Rachitis, Drüsen- und Augenleiden, Tuberkulose usw. Neben der schlechten Ernährung ist das Wohnungselend eine der stärksten Wurzeln dieser furchtbaren Bu stände. Wer aber trägt mit den Kindern am härtesten Leid und Qual? Ist es nicht die Mutter? Und ist sie es nicht, die unter den größten Opfern von ihren Lieblingen den Einfluß der Wohnungsmifere abzuwehren sucht? Wahrhaft erschütternde Bilder bieten sich oftmals dem Besucher, aber auch Bilder eines stillen Heldentums, das in seiner schlichten Größe alle Ruhmestaten welterobernder Menschenschlächter überragt." Die Frauen allerorts, die
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gleich unseren proletarischen Schwestern in Stuttgart unter dem Wohnungselend leiden, werden aus eigener Erfahrung solche Bilder des Wohnungselends tennen. Sie werden nicht säumen, mit Hand anzulegen im Kampfe gegen diese Plage, der nur das große Befreiungsringen des Proletariats erfolgreich entgegenzutreten bermag.
Frauenstimmrecht.
m.
Für die Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts in Holland werden unsere Genossinnen ebenfalls am 12. Mai durch einen besonderen Frauentag demonstrieren. Auch diese Veranstaltung findet mit der Unterstüßung der sozialdemokratischen Partei statt. Daß unsere Schwestern in den Niederlanden heuer die Initiative zu einer solchen Demonstration ergreifen können, bekundet bie Fortschritte, die die proletarische Frauenbewegung bant unermüdlicher Arbeit unter schwierigen Umständen gemacht hat.
Die Beteiligung der Frauen am Wahlkampf in Kopen hagen. Wie wir seinerzeit mitgeteilt haben, ist in Dänemark ein Gesetz für die Kommunalwahlen eingeführt worden, das auch den Frauen das Bürgerrecht in der Gemeinde verliehen hat. Den Frauen, insoweit sie mit steuerzahlenden Männern verheiratet oder felbständige Steuerzahlerinnen find. Im Jahre 1909 ist zum ersten Male auf Grund dieses Gesetzes gewählt worden, das die Wahlperiode auf vier Jahre festsetzt. Später gelangte ein Ergänzungs gesetz für Kopenhagen allein zur Annahme. Danach muß die Kommunalvertretung in der Landeshauptstadt aufgelöst und eine Neuwahl ausgeschrieben werden, wenn die Steuern 20 Prozent über die Grundtage erhöht werden sollen. Diese Notwendigkeit lag dieses Jahr vor.
Die Ausgaben der Kommune Kopenhagen für soziale Ein richtungen find in den letzten Jahren beträchtlich gestiegen, weil die Sozialdemokratie einen starken Einfluß auf die Kommunals verwaltung ausüben und nötige Reformen durchsezen konnte. So find die Aufwendungen für die Altersversorgung, die nichts mit der Armenpflege gemein hat, in den letzten zehn Jahren von 1 Million Kronen auf 2/2 Millionen Kronen gewachsen. Dank der Sozialdemokratie wurde der durchschnittliche Unterstüßungsbetrag pro Person von 158 Kronen jährlich auf 268 Kronen er höht. Die Ausgaben für die Volksschule stiegen in den gleichen zehn Jahren von 2 Millionen Kronen auf 5%. Millionen Kronen, und ebenso find die Aufwendungen für die Krankenhäuser, für die Armenpflege usw. in die Höhe gegangen. Die Sozialbemo fratie wies mit Stolz auf ihre vorwärtsdrängende Tätigkeit in der Gemeinde hin und entwickelte vor den Wählern mit voller Gemütsruhe ihre Forderungen auf höhere Einnahmen der Gea meinde. Ihr Erfolg bei der Wahl ist ein schöner Beweis von der sozialen Reife der Arbeiterklasse.
Die Gegner hatten getan, was sie nur konnten, um die Sozial. demokratie bei den Wählern anzuschwärzen. Sie entfalteten eine gewaltige Agitation gegen die Erhöhung der Steuern und appela lierten namentlich an die Frauen, die ihrer Meinung nach gegen die Sozialdemokratie stimmen mußten, weil diese durch ihr Wirten das bescheidene Einkommen der Familien in den unteren Klassen geschmälert haben sollte. Das bürgerliche Rasen gegen die Erhöhung der Steuern hatte aber einen ganz anderen Grund als die Rücksicht auf die Arbeiterfamilie. Das neue Steuergese brachte nämlich die mit dem Einkommen steigende Steuerleistung. Eine Steuersumme von 1 200 000 kronen wird danach derart verteilt, daß nur 300 000 Aronen von den Steuerzahlern mit einem Einkommen von unter 2000 Kronen pro Jahr aufgebracht werden müssen, während 900 000 kronen von den Steuerzahlern mit einem Einkommen über 2000 Kronen zu entrichten sind. Die oberen Klassen müssen also bis zu einem gewissen Grade nach ihrem Vermögen steuern, aber da bei ihnen die Gerechtigkeit" ein berhaßter Begriff ist, kann man sich leicht vorstellen, daß die vorgeschlagene Steuererhöhung ihre Wut bis zur Siedehike trieb. Die Arbeiterfrauen ließen sich jedoch ebensowenig wie die Arbeiter selbst von dem hysterischen Geschrei gegen die Sozialdemo kratie und ihre kommunale Politik irreführen. Sie verstanden ganz gut, daß diefe Politik gerade auf die Interessen der Arbeiterklaffe zugeschnitten ist, und daß ein gutes Schulwesen, eine humane Altersversorgung, die Unterstüßung der Arbeitslosen, eine berbesserte Krankenpflege in den Hospitälern usw. von weit höherer Bedeutung ist als ein paar Kronen weniger Steuern.
Die Kopenhagener Arbeiterorganisationen beteiligten fich mit boller Energie am Wahlkampf. Außer den öffentlichen Wählerversammlungen wurden Versammlungen der Gewerkschaften ver