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Die Gleichheit

Stelle bloßer Spiegelfechterei zu sehen oder aber vor aller Augen weiter vor diesem zu Kreuze zu kriechen. Wie un­dankbar ist doch der Kaiser! Bedingungslos haben die Libe­ralen soeben erst der Wehrvorlage zugestimmt, und nun mißhandelt Wilhelm II. ihr Lieblingskind, den konstitu­tonellen Gedanken. Erst wollten sie es gar nicht glau­ben. Als aber an der bitteren Wahrheit nicht mehr zu aweifeln war, trösteten sie sich damit, der Kaiser sei wieder falsch unterrichtet" gewesen. Und sie fetten all ihre Hoffnung auf den besser zu unterrichtenden Kaiser. Sie be­tonten dabei, daß sie von Anfang an den widerspenstigen Geist gemißbilligt hätten, den die elsaß - lothringische Ab­geordnetenkammer gegen die Regierung befundet habe. Die Taten des Landtags waren gewiß nichts weniger als revo­lutionär. Trotzdem aber brauchte man nicht erst den Kaiser über sie ,, falsch zu unterrichten", um den selbstherrlichen Zorn heraufzubeschwören. Der Absolutismus und die Reaktion sind eben in den letzten Jahren in Deutschland von den Liberalen aller Abschattungen so verwöhnt worden, daß sie nicht mehr den geringsten Widerspruch vertragen. Und das elende Verhalten des Fortschritts im Reichstag bei der Ver­handlung über das Straßburger Kaiserwort muß ja das Selbstherrschertum zu weiteren übergriffen geradezu heraus­fordern. Auch der feige Verrat, den die Fortschrittler an sich selbst begingen, indem sie den polizeilichen Ausschluß des Genossen Borchardt aus dem preußischen Abgeordnetenhaus billigten, fann unmöglich die Achtung der Reaktion vor der Volksvertretung erhöhen.

Die Sozialdemokratie begrüßt jedes Wort und jedes Er­eignis, das den Massen unverhüllt das zeigt, was heute Wirklichkeit ist. Sie gibt sich keine Mühe, die Worte des Kaisers milder auszulegen, als sie gemeint find. Aber eben­sowenig fürchtet sie diese Worte. Als vor einem Jahre die Verfassung in den Reichslanden eingeführt wurde, wußte die Sozialdemokratie, daß durch deren Buchstaben die preu­Bische Herrschaft noch lange nicht gebrochen war, die vierzig Jahre lang auf Elsaß- Lothringen gelastet hatte. Solange die Herrschenden in Preußen die Vertreter des Volkes durch Polizei zum Abgeordnetenhaus hinausschleifen laffen kön­nen, wird auch die freieste Verfassung in den anderen Bundes­staaten der Arbeiterklasse nicht die Macht verleihen, die Ent­wicklung im Deutschen Reiche vorwärts zu zwingen. Und es ist nur gut, daß die preußische Reaktion selbst den Kampf über die Grenzen Preußens hinausträgt. Die Sozialdemokratie jammert am letzten darüber, daß durch die Worte des Kaisers beleuchtet worden ist, welch zerbrechliches Ding die Heilig­keit der Verfassung eigentlich ist. Sie kann von oben oder von unten zerschmettert werden. Darüber entscheidet die ge­schichtliche Entwicklung, die sich nicht ohne Scherben voll­zieht. Es war der Dichter des Proletariats, der in des ,, Weltgerichtes Wettern und Flammen" die Zeit kommen sah, da die lezte Krone wie Glas zerbricht".

Die Frau in der Industrie und Landwirtschaft Württembergs.

III.

kz.

Ein mehr als hundertjähriges Drama findet in unserer Zeit seinen Abschluß. Der letzte Akt spielt sich vor unseren Augen ab. Es ist der Untergang des hausge­werblichen Kleinbetriebs in der Textilin dustrie. Die Statistik zeigt darüber nur kalte Zahlen; aber hinter ihnen verbirgt sich eine lange Geschichte von zähem Kampfe und qualvollem Verbluten, von Hunger und Verzweiflung. Wir wollen versuchen, die Tragödie der haus­gewerblichen Spinnerei und Weberei in Württemberg mit wenigen Strichen anzudeuten, zum besseren Verständnis der heutigen Entwicklung der Textilindustrie des Landes.

Schon im frühen Mittelalter bildete das hausgewerbliche Spinnen und Weben für die landwirtschaftliche Bevölkerung

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Nr. 18

Württembergs wichtige Beschäftigungszweige, von denen in großem Maße ihr Wohlstand abhängig war. Wie im vorigen Artikel dargelegt wurde, überwiegt in der württembergischen Landwirtschaft bei weitem der Zwergbetrieb. Die rein land­wirtschaftliche Arbeit nimmt aber nur einen Teil der Zeit und Kraft des Kleinbauern und der Seinen in Anspruch. Sie liefert der Familie nur einen Teil des Lebensbedarfs. Was diese an Wäsche und Kleidung bedurfte, das mußte früher das hausgewerbliche Spinnen und Weben erzeugen, und möglichst darüber hinaus noch ein Mehr, das verkauft werden konnte. Die kleinbäuerliche Wirtschaft lieferte einen sehr großen, wenn nicht den größten Teil des Gespinstes, das die zünftigen Webermeister in den württembergischen Städten verarbeiteten, Neben dem städtischen Handwerk er­zeugte sie auch selbst nicht unbeträchtliche Mengen von Ge­weben. Zumal die gröberen Stoffe, die für den Alltagsge­brauch auf den Markt kamen, waren hausgewerbliche Er zeugnisse der kleinbäuerlichen Familie. Fast in jedem Bauern­hause war außer den Spinnrädern auch ein Webstuhl zu finden. Die Rohmaterialen Flachs, Hanf und Wolle- produzierte der Bauer zum größten Teil selber. Was er da­von nicht in der eigenen Wirtschaft verarbeiten konnte und wollte, das brachte er auf den Markt. Der auf den Fildern bei Stuttgart gebaute Flachs galt als der beste in Württem­ berg . Leinen, später auch Barchent, dazu wollenes Tuch waren das Haupterzeugnis der hausgewerblichen Weberci im Lande. Für die Leinenweberei waren Urach und Blaubeuren , Schorndorf und Stuttgart die wichtigsten Mittelpunkte, wo die Ware zusammenströmte, und von wo aus sie über die Landesgrenzen hinaus in das Reich, sogar über See ging. In Ravensburg , Leut­ kirch , Wangen , Gmünd, Heidenheim und dem umgebenden Landgebiet blühte die Barchent­weberei. Die Stoffe der Ebinger und Göppinger Zeugmacher hatten einen vorzüglichen Ruf. Im fie3­zehnten und achtzehnten Jahrhundert bildeten die Wollge­webe der Calwer 8eughandlungskompanie einen Welthandelsartikel. Um 1780 herum, als die Blüte­zeit der hausgewerblichen Weberei längst vorbei war, setzte die Uracher Leinenmanufaktur jährlich doch noch über zwei Millionen Ellen Leinwand im Werte von über 600 000 Gulden im Ausland ab.

Der Verfall der einst so blühenden Erwerbszweige begann bereits im siebzehnten Jahrhundert; im achtzehnten Jahr­hundert ging es unaufhaltsam herab. Und das gerade in der Zeit, wo das württembergische Volf schwer unter den poli­tischen Verhältnissen zu leiden hatte. Kriege verwüsteten das Land, die in der Hauptsache durch die Eitelkeit und das Geldbedürfnis der regiernden Fürsten heraufbeschworen wurden. Franzosen und Österreicher hausten gleich fürchter­lich. Ebenso unbarmherzig wie die einfallenden Feinde plin­derten die württembergischen Herzöge das unglückliche Land. Es genügt, einige Namen zu nennen. Karl Alerander( 1733 bis 1737) ließ durch seinen Leibjuden Süß Oppenheimer das Land aussaugen, daß die Not des Volkes zum Himmel schrie. Herzog Karl Eugen ( 1737 bis 1793) schlug durch seine Mätressenwirtschaft, seine Genußsucht und Verschwendung dem Volkswohlstand die tiefsten Wunden. Das Tertilge­werbe des Landes litt schwer durch die hohen Zollschranken, die die Nachbarstaaten aufgerichtet hatten. Jedoch als ge­fährlichster Feind seiner Blüte, ja seiner Eristenz erschien der Kapitalismus auf dem Plane. Anfangs noch nicht im Lande* selbst, sondern außerhalb seiner Grenzen.

Von seiner ersten Lebensstunde an erweist sich der Kapita­lismus als eine international wirkende Macht, die Grenzen und Meere überspringt. Es war die Entwicklung des mio­dernen, fabrikmäßigen Großbetriebs im Tertilgewerbe mit seinem Drum und Dran, der in einem unerbittlichen Ringen das altväterliche Spinnen und Weben niederwarf. Der Kon­furrenz seiner billigen, massenhaften Produkte konnte dieses nicht standhalten. Der Großbetrieb blies so dem ,, bäuer­