Nr. 18

Die Gleichheit

lichen Hausfleiß" das Lebenslicht aus und zog dem zünftigen Handwerksmeister den goldenen Boden" unter den Füßen weg. Die mechanische Spinnmaschine, die Mulejenny", wurde erfunden, ihr folgte bald der mechanische Webstuhl. Die bewegende Riesenkraft des Dampfes ward mit der Er­findung der Dampfmaschine der gewerblichen Tätigkeit nut­bar gemacht. In England, namentlich aber auch in Frank­ reich   entstanden große mechanische Spinnereien und Webe­reien. Ihr Emporblühen wurde gerade in dem erstgenannten Staate durch die Lage an der offenen See begünstigt. Dieser Lage in Verbindung mit anderen Umständen verdankte die junge moderne englische   Textilindustrie die verhältnismäßig leichte und schon früh gut organisierte Zufuhr von über­seeischer Wolle, besonders aber von Baumwolle, die für die fabrikmäßige Spinnerei und Weberei eine immer größere Bedeutung gewann. Ihr verdankte sie gute Ausfuhrgelegen­heit für ihre Erzeugnisse. Hand in Hand mit dem technischen Umschwung vollzog sich auch ein solcher in der Nachfrage nach Gespinst beziehungsweise nach Rohstoff für die Spin­nerei. Die amerikanische   Baumwollproduktion nahm einen ungeahnten Aufschwung, die Wollproduktion außerdeutscher und überseeischer Staaten ebenfalls. Der irische und russische Flachs wurde dem württembergischen vorgezogen.

Dieser ganze Wandel der Dinge wirkte zusammen, um den württembergischen Geweben den Absatz jenseits der Meere und bald auch im Deutschen   Reiche streitig zu machen. Nicht allzu lange, so entstanden im Rheinland   und in Sachsen  mechanische Spinnereien und Webereien. Die Erzeugnisse des kapitalistischen   Großbetriebs entrissen dent hausgewerblichen und handwerksmäßigen Spinnen und Weben der württem­bergischen Bevölkerung einen auswärtigen Markt nach dem anderen. Um 1820 herum bezifferte sich der Versand der Uracher   Leinenmanufaktur nur noch auf 150 000 Gulden jährlich. Auf der Schwäbischen Alb  , auf den Fildern saßen an die 50000 Weber, hungerten und warteten auf bessere Zeiten, die nicht kommen wollten. Schließlich drang die Konkurrenz­ware im Lande selbst vor. Die englischen Maschinengarne und Gewebe und das Lausitzer Tuch wurden allmählich bil­liger, als dem württembergischen Hausgewerbe das eigene Gespinst zu stehen kam. Der Weberverdienst sant, auf 15 bis 20 Pf. pro Tag nach unserem Gelde. Der Hunger ging um im Lande.

Ein im Jahre 1810 unternommener Versuch mißlang, die mechanische Baumwollspinnerei in Württemberg   einzubür gern. Die in dem genannten Jahre in Berg   gegründeten Spinnereien gingen wieder ein. Mangel an Kohle, schlechte Verkehrsverbindungen, die übermächtige englische, rhein­ländische und sächsische Konkurrenz ließen die Bemühungen fehlschlagen. In den sechziger Jahren des vergangenen Jahr hunderts war die Not unbeschreiblich. Mehrere hundert Ge­meinden des Landes machten bankrott, die Zahl der Kon­kurse in der Geschäftswelt verdoppelte und verdreifachte sich. 1854 und 1855 wanderten aus Württemberg   allein mehr Menschen aus als heute aus dem ganzen Reiche. Nun erst war auch in Württemberg   der Boden für die Großindustrie beadert. Der 1853 vollendete Bau der Eisenbahnlinie Bretten­Mühlacker- Stuttgart- Ulm- Friedrichshafen sicherte ihr billige und regelmäßige Zufuhr des Rohmaterials. Der Mangel an Roble wurde teilweise durch die billige und doch geschulte Arbeitskraft des hungernden Volkes ausgeglichen.

Die Regierung bemühte sich um das Aufkommen mo­derner Textilbetriebe. Im Jahre 1852 bewog sie den Züricher  Großindustriellen Joh. Solivo, mit seinem Neffen Karl Fierz die erste große mechanische Baumwollspinnerei in Württemberg   mit 34 000 Spindeln in Unterhausen am Lichtenstein   zu errichten. 1853 wurde die Fabrik der Firma G. und A. Leuze in Urach   gegründet, 1855 die Bempflinger Fabrik, 1856 die Württembergische Baumwollspinnerei und Weberei in Eglingen, 1858 die Fabrik in Kuchen- Altstadt, 1864 die Gmindersche Fabrik in Reutlingen  , im gleichen Jahre die Baumwollspinnerei in Wangen   i. A., 1865 die

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Firma Eisenlohr in Reutlingen   usw. Im Jahre 1852 waren in den Spinnereien und Webereien Württembergs erst zwei Dampfmaschinen im Betrieb, 1861 bereits 47 mit 700 Pferde­kräften.

Von dieser Zeit an macht der Großbetrieb in der Textil­industrie des Landes rasende Fortschritte. In dem Jahr­zehnt 1852/61 schnellte die Gesamtzahl der Spindeln von 37 000 auf 237 000 empor. Im Jahre 1908 zählte man ihrer im ganzen schon 830 000. Und heute verfügen 21 der größeren Betriebe allein, von denen uns Zahlen vorliegen, über 864 984 Spindeln. Der Gesamtverbrauch an Baumwolle be­ziffert sich auf rund 145 000 Ballen jährlich, der Ballen zu 500 Pfund englisch  .

Geradezu unglaublich klingt es, daß sich der einfache Klein­betrieb- allerdings nur in wenigen Resten- bis zum heu­tigen Tage erhalten konnte. Noch jezt gibt es Handweber, Die in 15 bis 16stündiger Arbeitszeit täglich ihre 8 bis 9 Ellen Bettzeug herstellen. Frau und Kinder müssen aber da. bei mithelfen und etwa zwei Stunden täglich spulen. Die Ware wird in der Regel im Hausierhandel abgesezt. Der Arbeitsverdienst der Familie beziffert sich auf etwa 70 bis 90 Pf. pro Tag. Wenn es gut geht! So kämpft der Hand­weber gegen die modernen Riesenbetriebe, gegen die durch Dampf und Elektrizität bewegten Spinnmaschinen, gegen den automatischen Webstuhl, der bei seiner steigenden Lei­stungsfähigkeit kaum noch der menschlichen Aufsicht bedarf. Ein mechanischer Webstuhl älterer Konstruktion, wie er zum Beispiel in einer Uhinger Fabrik in Betrieb ist, liefert täg­lich etwa 100 Meter leichtes Baumwollgewebe, ein anderer 50 Meter Segeltuch, der dritte 30 bis 40 Meter Feuerwehr­gurt. Eine einzige Weberin hat diese drei Stühle gleichzeitig zu bedienen. Von den modernen Northropwebstühlen kann ein Arbeiter oder eine Arbeiterin gleichzeitig 20 bis 30 be­aufsichtigen!

Einige nähere Angaben mögen die Entwicklung der Textil­industrie beleuchten. Im Jahre 1882 zählte man in Württem­ berg   noch 18 334 Textilbetriebe überhaupt, darunter 12503 Haupt- und 5771 Nebenbetriebe; im Jahre 1895 war die Zahl der Gesamtbetriebe auf die Hälfte herabgesunken, auf 9513, 1907 wurden ihrer gar nur 3167 verzeichnet, darunter 2817 Hauptbetriebe und 850 Nebenbetriebe. Die Allein­betriebe haben sich von 10 320 im Jahre 1882 auf 4930 im Jahre 1895 und 1155 im Jahre 1907 vermindert. Die Zahl der Betriebe mit Mitinhabern, Gehilfen oder Motoren ging für die genannten Jahre von 2243 auf 1400 und 1162 zurück. Auch in der Textilindustrie frißt der Große den Kleinen. Der Bericht der Gewerbeinspektion für 1910 zählt an Betrieben mit Motoren oder mindestens 10 Arbeits­fräften nur noch 628 auf mit einer Gesamtarbeiterzahl von 52 113. Nach Abzug der 27 Anlagen, in denen Faserstoffe, Tierhaare und Abfälle von Lumpen verarbeitet werden, bleiben noch 601 Betriebe mit 51 358 Arbeitskräften.

In der modernen Textilindustrie herrscht die weibliche Arbeitskraft bei weitem vor. Im Gewerbeinspektionsbericht, der neueres Material bietet, finden wir für 1910 in der Textilindustrie 51 358 Arbeitskräfte verzeichnet, darunter 31 914 Arbeiterinnen. Wohlgemerkt, es beziehen sich diese Angaben nur auf die Betriebe 601 an der Zahl-, die der Gewerbeaufsicht unterstehen, weil sie Motorenkraft verwenden oder mindestens 10 Personen beschäftigen. Im Jahre 1882 hatte die Gesamtzahl der Arbeiterinnen in allen Betrieben der Textilindustrie 13 724 betragen, im Jahre 1895 21 599 und 1907 30 561. Die Zahl der Lohn­sklavinnen in der Textilindustrie steigt also ununterbrochen und rasch an. Nach dem Gewerbeinspektionsbericht für 1910 standen von den weiblichen Arbeitskräften der revisions­pflichtigen Betriebe 10 408 im Alter von 16 bis 21 Jahren; 15 932 waren über 21 Jahre alt; 5274 unter 16 bis 14 Jahren; Kinder weiblichen Geschlechts unter 14 Jahren wur­den 300 ermittelt. über die Zahl der verheirateten Frauen enthält der erwähnte Bericht leider keine Angaben. Nach den