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Die Gleichheit

Berufs- und Gewerbezählungen ist die Zahl der verhei­rateten Frauen in allen Textilbetrieben Württembergs von 2086 im Jahre 1895 auf 5096 im Jahre 1907 gestiegen. Sie hat sich also in dieser Zeit mehr als verdoppelt.

über die Entlohnung der Textilarbeite­rinnen liegen nur spärliche Nachweise vor. Aus begreif­lichen Gründen. Einen Anhaltspunkt zur Beurteilung ihres Verdienstes geben die Berechnungen der Ortsfranken fasse Göppingen , die viele Textilarbeiterinnen zu ihren Mitgliedern zählt. Der Durchschnittslohn der Arbeiterinnen wird dort auf 2,05 mt. pro Tag ange­geben. Eine 2ohnstatistik des Textilarbeiter verbandes, die im zweiten Halbjahr 1910 aufgenommen wurde, berechnet den durchschnittlichen Wochenlohn der Ar­beiterin in einer Göppinger Spinnerei auf 14,77 Mk., den der Weberin auf 14,69 m. und denjenigen der Arbeiterin in der Färberei auf 14,75 Mr. Die meisten der befragten Ar­beiterinnen schaffen im Afford. Dabei ist wohl zu beachten, daß sich an der Statistik nur organisierte Arbeiterinnen beteiligt haben, die erfahrungsgemäß die höher qualifizierten sind und verhältnismäßig bessere Löhne haben. In der Sindelfinger Weberei und anderwärts bleiben die Verdienste der Arbeiterinnen hinter den angegebenen jam­mervollen Sägen noch zurück. Von 200 Arbeiterinnen, die 1910 Mitglieder der Ortskrankenkasse Stutt gart wurden, und unter denen sich Spulerinnen, Weberinnen und andere Tertilarbeiterin nen befanden, hatten fast die Hälfte, 45 Prozent, einen Wochenverdienst von 9 Mt. und darunter, und nur 9,5 Prozent verdienten mehr als 12 Mr. wöchentlich. Das Ein­fommen war auch für das Alter der größten Leiftungsfähig­feit nicht besser. 41 Prozent der betreffenden Arbeiterinnen von 19 bis 25 Jahren mußten sich mit dem Hungerlohn vou 9 Mr. und weniger in der Woche begnügen, nur 10,6 Pro­zent von ihnen erreichten den Verdienst von 12 Mt. und darüber. Nach privaten Mitteilungen, an deren Glaub­würdigkeit wir feinen Zweifel haben, sollen in einer Uhinger Tertilfabrik es die besten Arbeiterinnen auf 15 bis 16 Mt. wöchentlich bringen. Doch find solche Verdienste selten. Wird Ware minderer Qualität hergestellt, so sinkt der Lohn bis auf 6 Mk. wöchentlich und noch dar­unter. Dabei wohnt fast in allen Siten der Textilindustrie ein großer Teil der Arbeiterinnnen eine bis anderthalb Stunden von der Arbeitsstätte entfernt und muß diese Strecke täglich zweimal wandern. Der Arbeitstag ist für sie entsprechend 2 bis 3 Stunden länger. Für die anstrengende und aufreibende, teilweise auch ungesunde Arbeit und bei den heutigen hohen Lebensmittelpreisen und Mieten ist also der Verdienst der Textilarbeiterinnen ein erbärmlicher.

Für die Herren Aktionäre und Aufsichtsräte kommen etwas höhere Entbehrungslöhne" heraus. Ein paar Zahlen mögen das dartun: Süddeutsche Baumwollspinnerei in Kuchen: Kapital 2 Millionen Mark, Reingewinn 1909/10 920 108 Mark, Dividende( nach reichlichen Abschreibungen, Rück­stellungen usw.) 8 Prozent. Reingewinn seit 1905/06 4 397 164 Mark. Württembergische Baumwollspinnerei und Weberei bei Eßlingen a. M.: Kapital 2304 000 Mart, Reingewinn 1909 396 763 Mart, Dividende 10 Prozent. Ge­samtreingewinn seit 1905 2 380 262 Mark. Baumwollspin­nerei Wangeni. Algäu: Kapital 1 Million Mark, Rein­gewinn 1909/10 132 779 Mart, Dividende 8 Prozent. Ge­samtreingewinn seit 1905/06 527 940 Mark. Mechanische Buntweberei Brennetin Stuttgart: Rapital 4 Mil­lionen Mark, Reingewinn 1909/10 528 817 Mark, Dividende nicht veröffentlicht. Gesamtreingewinn in den letzten fünf Jahren 2417 289 Mart. Vereinigte Filzfabriken in Giengen an der Brenz : als Dividende 1910 verteilt 472 500 Mart, 9 Prozent. Vereinigte Trifotfabriken A.-G. in Vaihingen a. Fildern, Filialen in Untertürkheim , Herrenberg und Blieningen: Rapital 2 300 000 Mart, als Dividende verteilt 116 000 Mark, Stammaktien 4 Prozent,

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Borzugsaktien 7 Prozent. Mechanische Buntweberei vorm. Kolb& Schüle A.-G. in Kirchheim u. 2.: Kapital 1 200 000 Mark, Gewinn 1910 228 588 Mark, Dividende 9 Prozent.

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Man sieht, die Arbeit in der Textilindustrie lohnt sich einigermaßen für die Herren Kapitalisten. Weniger für die in den den Textilfabriken beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter, die den goldenen Segen schaffen müssen. Die Löhne find jedoch offenbar den Textilindustriellen noch nicht niedrig genug. Die gesetzliche Einführung des Zehnstunden­tags für die Arbeiterinnen wurde in etlichen Betrieben zu Lohnsenkungen ausgenügt. Der Aufsichtsbeamte für den zweiten Gewerbeinspektionsbezirk, Oberamtsbezirk Stuttgart Amt und Böblingen und den Schwarzwaldkreis mit Aus­nahme der Oberamtsbezirke Calw und Neuenbürg , schreibt darüber im Jahresbericht für 1910: Die Einführung des zehnstündigen Höchstarbeitstags für Arbeiterinnen brachte in manchen Betrieben der Arbeiterschaft auch Lohnverminde­rungen, so u. a. in Spinnereien und Webereien, die erst im Berichtsjahr von der elfstündigen Arbeitszeit zur zehnstin­digen übergegangen und dabei die Akkordfäße in der früheren Höhe belassen oder nur unbedeutend erhöht hatten: in solchen Fällen konnten nur besonders tüchtige Arbeiter und Arbei­terinnen auf ihren früheren Affordverdienst kommen, wäh rend Durchschnittsarbeiter darunter blieben. In verschiede­nen Betrieben wurde auch erhoben, daß im Taglohn beschäf­tigte Arbeiterinnen dadurch eine Lohneinbuße erlitten, deß ihnen an den Samstagen und Vorabenden der Festtage nicht wie früher der volle Taglohn, sondern nur acht Zehntel des­selben bezahlt wurde."

Die niedrige Entlohnung der Arbeiterinnen zeitigt um so größere übel, als der ausbeutende Kapitalismus die Arbeit in der Textilindustrie für den weiblichen Organismus nach­teilig gestaltet. Es sei nur an die große Staubentwicklung erinnert, an die mangelhaft oder gänzlich fehlende Ventila­tion, an ungenügende Schußvorrichtungen, plötzliche Tempe­raturschwankungen, die Erschütterungen des Bodens, das lange Stehen usw. Die schlechten Löhne gestatten aber keine Ernährung, die den Körper gegen diese Einflüsse kräftigen fönnte. So ist es nicht verwunderlich, daß die Lungentuber­kulose in den Kreisen der Textilarbeiterinnen zahllose Opfer fordert und daß bei ihnen erschreckend viel Fehlgeburten vorkommen. Die Säuglingssterblichkeit ist nachgewiesener­maßen in Gebieten der Textilindustrie weit über normal. In einem württembergischen Bezirk dieser Art betrug fie früher bis zu 48 Prozent! Das kann nicht überraschen. Die aus­gemergelte Mutter darf meist das Neugeborene weder selbst nähren, noch pflegen. Das Kapital beansprucht ihren Dienst. Man sieht aus diesen Angaben, wie bitter not den Textil­arbeiterinnen die Verbesserung ihrer jammervollen Lohn- und Arbeitsverhältnisse tut. Leider haben noch die wenigsten von ihnen verstanden, daß das unentbehrliche Mittel dazu die gewerkschaftliche Organisation ist. Der Gait Süd des Tertilarbeiter- und-arbeiterinnenverbandes, dre noch über Württemberg hinausgreift, zählte Ende 1910 erst 3224 Mitglieder, darunter waren nur 1053 weibliche. Noch nicht einmal vier Prozent der Textilarbeiterinnen ge­hörten ihrer Organisation an! Der ausgedehnte Arbeitstag, der noch durch den oft stundenweiten Weg zwischen Heim und Arbeitsstätte verlängert wird, die elenden Löhne, die dadurch erzwungene ungenügende Ernährung, mit einem Wort: die gesamte elende Lage der Textilarbeiterschaft erschwert die Organisierung der Lohnsklavinnen in den Spinnereien und Webereien. Die armen Frauen, denen das Kapital das letzte Quentchen Arbeitskraft abpreßt, denen die bittere Sorge um das bißchen trockene Brot lebenslang nicht von der Seil: weicht, sind in ihrer Mehrzahl zu abgeradert und zu zermürbt, als daß sie sich leicht zu energischem Handeln aufraffen könn­ten. Dazu kommt ein Terrorismus der Unternehmer, der faum zu überbieten ist. In den meisten Textilbetrieben bc­deutet das Bekanntwerden der Zugehörigkeit zur Organisa­