Nr. 18 Die Gleichheit 283 Geistcsart der Frau, ihre Vereinzelung nach der Fabrikarbeit usw. Diese Umstände wirken dem Erfolg der üblichen öffentlichen Versammlungen entgegen und heischen ein großes Maß persönlicher Kleinarbeit zur Aufklärung und Organisierung der Frauen. Sie lassen uns fleißige Hausagitation empfehlenswert erscheinen, wohlvorbereitete sonntägige Wanderversammlungen der Genossinnen eines Industriezentrums in die Nachbardörfer, eine besondere Literatur von Serien vier-, höchstens achtseitiger Broschüren, die die einzelnen Seiten einer Frage selbständig behandeln, erst in ihrer Gesamtheit ein Ganzes darstellen und möglichst in bestimniten Zwischenräumen von derselben Genossin gebracht werden sollten. Das Referat endete mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit, durch Lese- und Diskussionsabende einen Stamm theoretisch geschulter, praktisch erfahrener Genossinnen heranzubilden, die die vorliegenden Aufgaben zu erfüllen vermögen. Das vorgesehene dritte Referat der Genossin S ch r a d i n über„D i e T ä t i g k e i t der Frau im Gemeindeleben" mußte wegen Zeitmangels abgesetzt werden. Die Diskussion galt in der Hauptsache den vorliegenden Anträgen, die sämtlich den Zweck verfolgten, die Mittel und Wege zur Erwcckung der Frauen des werktätigen Volkes und zur Schu- lung der Genossinnen zu vermehren. Besonders lange wurde der folgende Antrag der S t u t t g a r t e r Genossinnen umstritten, der von Genossin Duncker mit trefflichen, sachlichen Gründen befürwortet wurde:„Zur Betreibung einer energischen und systematischen Agitation unter den proletarischen Frauen Württembergs wird eine Frauenagitationskommission gebildet, zu der vom t. Reichstagswahlkreis zwei, vom 2., 3., L. und Iv. Reichstagswahlkreis je eine Genossin gewählt wird. Die Agitationskommission hat die Aufgabe, in Verbindung mit dem Landesvorstand der Sozialdemokraten Württembergs und den in Betracht kommenden Organisationen die Agitation unter den Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen ständig zu fördern und für die prinzipielle Schulung der weiblichen Mitglieder Sorge zu tragen. Zu diesem Zwecke kommen die Mitglieder der Kommission allvierteljährlich einmal zusammen, besprechen ihre Erfahrungen und stellen den Agitationsplan für das kommende Quartal auf. Auch das Programm für etwaige Lese- und Diskussionsabende der Genossinnen wird von ihnen beschlossen." Genossin Zietz empfahl statt seiner folgenden Antrag:„Die weiblichen Vorstandsmitglieder in den einzelnen Kreisen bilden die Frauenagitationskommission, die durch die weiblichen Vorstandsmitglieder des Kreises untereinander und mit dem Landesvorstand in Verbindung stehen." Schließlich gelangte der Stuttgarter Antrag mit �3 Stimmen zur Annahme. Angenommen wurden ferner Anträge aus Eß lingen , Gmünd, Heidcnheim, Schorndorf und Ulm , den Landesvorstand zu beauftragen, wo irgend möglich die Parteiorganisationen zu veranlassen, Frauengruppen ins Leben zu rufen und ihnen zur Weiterbildung der Genossinnen einen Leiter zu geben. Die Konferenz trat auch den Anträgen aus Stuttgart und H e i l b r o n n bei, es möge in naher Zukunft eine Sekretärin für die Frauen agitation angestellt werden. Anträge, die die Überweisung von Agitationsmaterial an die Genossinnen wünschten, wurden dem Landesvorstand überwiesen, nachdem die Genossinnen Zietz und Zetkin an das vom Frauenbureau herausgegebene Material erinnert hatten. Der Antrag des Genossen Wolf- Cannstatt, das Referat der Genossin Zetkin als Broschüre herauszugeben, fand durch die Erklärung seine Erledigung, die jetzt in der„Gleichheit" veröffentlichte Artikelserie über die Frauenarbeit in Württemberg werde nach Abschluß als billiges Heftchen erscheinen. Nachdem die Konferenz noch unter Beifall einstimmig einer Resolution Stuttgart beigepflichtet hatte, die die Verabreichung von Alkohol an Kinder streng verurteilt, fanden die Verhandlungen mit einem kräftigen und begeisterten Schlußwort des Genossen Hilden - b r a n d ihr Ende. Nun ist es an den Genossinnen, die vielen Anregungen der Tagung praktisch zu verwerten. Politische Rundschau. Bei der Beratung des Reichskanzleretats am 17. Mai behandelte der Reichstag die Drohung des Kaisers, die Verfassung Elsaß - Lothringens in Scherben zu schlagen. In der Haltung der bürgerlichen Redner zu diesen Worten kam nicht einmal ein schwacher Abklatsch der Entrüstung zum Ausdruck, die im November 1W8 die bürgerlichen Parteien wegen des täppischen Eingriffs des persönlichen Regiments in die auswärtige Politik erfüllte. Der Reichskanzler hatte daher einen leichten Stand, als er als Prügeljunge für die Worte seines Herrn austrat. Er verschmähte dabei allerdings nicht einmal die faule Ausrede, daß Wilhelm II. nicht mit dem Staatsstreich gedroht, sondern auf die gesetzliche Aufhebung der reichsländischen Verfassung angespielt habe, als er von: „Scherben schlagen" sprach. So blieb ihm der Sturm völlig erspart, der 1908 seinen Vorgänger umheulte. Es war ein Säuseln nur, das Gerede der Sprecher des Zentrums, der Nationalliberalen und des Fortschritts. Viel mehr Entrüstung verbrauchten die Herrschaften gegen die Sozialdemokratie. Deren erster Redner, Scheidemann , geißelte die kaiserliche Äußerung nach Gebühr und kennzeichnete die angedrohte Einverleibung der Reichslande in Preußen mit Recht als die Androhung der. schärfften Strafe, der Zuchthausstrafe, und als gleichbedeutend mit der Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes. Diese ungeschminkte Feststellung des empörenden Umstandes, daß die große Mehrheit des preußischen Volkes aus Staatsbürgern zweiter Klasse besteht, daß daS Wahlrecht in Preußen tausendmal schlechter ist als in den eroberten Neichslanden, diese Brandmarkung der preußischen Junkerherrschaft versetzte vor allem die Konservativen in helle Wut. Sie tobten wie Besessene und der Reichskanzler nutzte die Gelegenheit zu einer theatralischen Demonstration aus. An der Spitze der gesamten Bundesratsvertreter verließ er den Saal, weil der Präsident Kämpf den sozialdemokratischen Redner für seine Kennzeichnung des preußischen Staats nicht sogleich zur Ordnung rief. Es wurden Posten ausgestellt, um ahnungslose Bundesratsvertreter von dem Betreten des Saales abzuhalten, und die Herren kehrten erst wieder in den Saal zurück, nachdem der angstschwitzende fortschrittliche Präsident endlich auf Grund des Stenogramms den nachträglichen Ordnungsruf erteilt hatte. Unter den bürgerlichen Parteien waren schon die wildesten Gerüchte im Umlauf. Man sprach von einer Präsidentenkrise, ja selbst von Reichs- tagsauflosung, für den Fall, daß der Präsident Kämpf sich bockbeinig erweisen würde. Aber dieser dachte nicht daran und machte sein Versäumnis schleunigst wieder gut. Hatte er doch schon vorher über den sozialdemokratischen Redner einen Hagel der unglaublichsten, ungerechtfertigtsten Ordnungsrufe hemiedergehen lassen. Damit war alles wieder in bester Ordnung, und die bürgerlichen Parteien konnten sich in der allgemeinen Entrüstung über die Sozialdemokratie finden und die unbequeme Abrechnung mit dem Selbstherrschertum darob — vergessen. Der zweite sozialdemokratische Redner, Genosse Lensch, konnte in seinem Schlußwort das völlige Versagen der bürgerlichen Parteien feststellen. Sie haben sich dem persönlichen Regiment unterworfen, und sie wagen kaum noch eine Einwendung zu murmeln, Ivenn der Kanzler, der angebliche verantwortliche Leiter der Reichspolitik, sich als der Prügeljunge dieses Regiments bekennt. Kurz vor dem Straßburger Friihstücksgcspräch haben die Junker im preußischen Abgeordnetenhaus den längst geplanten Streich gegen die verhaßten sozialdemokratischen Vertreter geführt. Genosse Borchardt hatte sich trotz mehrfachen präsidialen Befehls nicht auf seinen Platz begeben, sondern war vor der Rednertribüne stehen geblieben, als der parteiische Junkerpräsident seine Aufforderung an ihn, den Sozialdemokraten, nicht aber an die Abgeordneten anderer Parteien richtete, die ebenfalls die Rednertribüne belagerten und Zwischenrufe machten. Daraufhin schloß der Präsident Freiherr v. Erffa plötzlich den Genossen Bor'chardt von der Sitzung aus und forderte ihn auf, den Saal zu verlassen. Selbstverständlich weigerte sich unser Genosse, dies zu tun. Unsere Fraktion hatte ja von Anfang an die Rechtsgültigkeit des gegen sie gemachten Paragraphen der Geschäftsordnung bestritten, der dem Präsidenten die Macht verleiht, Abgeordnete zum Verlassen des Sitzungssaales zu zwingen. Dieser Paragraph steht im Widerspruch zu den Reichsgesetzen. Da Borchardt im Saale blieb, so ließ der Präsident ein Polizeikommando aufmarschieren, und dieses Polizeiaufgebot schleppte den sozialdemokratischen Abgeordneten zweimal gewaltsam aus dein Saal hinaus. Zugleich vergriffen sich die Polizeifäuste auch an Genossen Leinerr, weil dieser nicht freiwillig Platz machte, als die Polizisten sich an Genossen Borchardt heranmachten. Mit dieser Schändung des Parlaments aber ist es den Junkern noch nicht genug. Ihr Präsident hat seine Leistung in der denkwürdigen Sitzung noch übergipfelt durch einen Strafantrag gegen Borchardt wegen Hausfriedensbruchs, und der Staatsanwalt hat schnell noch eine Anklage wider Borchardt und Leinert wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angefügt. Schon hat die Geschäftsordnungskommission des Abgeordnetenhauses beschlossen, daß das Haus die beiden sozialdemokratischen Abgeordneten zur Strafverfolgung ausliefern, gleichzeitig auch Strafantrag gegen den Vorwärts stellen soll wegen angeblicher Beleidigung des Hauses. Und bei der Zusammensetzung dieser Vertretung der Besitzenden ist mit ziemlicher Sicherheit darauf zu rechnen, daß das Plenum diesen Beschlüssen beitritt. Die Sozialdemokratie hat ihrer Empörung über diese rohen Versuche, d:e Verteidiger der Besitzlosen im Geldsacksparlamcnt mundtot zu
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23 (29.5.1912) 18
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