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Die Gleichheit
plaren abgefeßt. Das von dem Verlag des„ Työläisnainen" herausgegebene Weihnachtsblatt für Kinder, Joulutaru" hatte eine Verbreitung von 12000 Exemplaren.
Unsere Bewegung hatte im letzten Jahre keine besonders ins Auge fallenden äußeren Ereignisse zu verzeichnen. Dafür dürfen wir aber hoffen, daß die ruhige innere Arbeit der Aufklärung und Erziehung des weiblichen Proletariats im sozia Itstischen Sinn um so tiefer und nachhaltiger gewirkt hat, und daß ihre Spuren unverwischbar sind. Hilja Pärssinen.
Die Frau als Spiegel.
Wenn man sich der Leute erinnert, die einem von früher Kindheit an nähergetreten sind, wenn man sie als ökonomische Charakterfiguren wertet, als Typen, in denen sich die wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit überhaupt und ihrer Umgebung im besonderen widerspiegeln: so merkt man, daß man eine ganze ökonomische Ahnengalerie durchschritten hat. Ich bin in Südwestdeutschland aufgewachsen, in einer industriell früh entwickelten Gegend. Meine Kindheit fällt in eine Zeit, da der Kapitalismus auch schon in Deutschland dem Farben spiel des Wirtschaftslebens seinen Grundton gab. Die Bersönlichkeiten, deren Eigenart auf den Knaben einwirkte, stellen sich mir heute gleichsam als Glieder der historisch- ökonomischen Stufenleiter dar, als Verkörperungen bestimmter wirtschaftlicher Entwicklungsstufen. Soweit diese Charakterfiguren meinem Gedächtnis besonders gegenwärtig geblieben sind, waren es Frauen. Es dürfte daher die Leser der„ Gleichheit" interessieren, mit ihnen Bekanntschaft zu machen.
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Da waren zunächst drei uralte Mütterchen. Noch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts geboren, traten sie mit den Anschauungen der vorkapitalistischen Feudalzeit in meinen Gesichtskreis. Das älteste dieser Mütterchen war eine Nähterin und verdankte einem Sergeanten der französischen Revolutionsarmee das Leben. Die Greisin hatte zu einer Zeit das Licht der Welt erblickt, als der Name Napoleon in der französischen Armee noch nicht bekannt war. Diese brachte damals in Süd westdeutschland den Hütten den Frieden und den Palästen den Krieg. Dieses fast zur lebendigen Sage gewordene Mütterchen oder vielmehr Jüngferchen es hatte die Leiden und Freuden des Chestandes niemals kennen gelernt- saß schon als weiß haarige Greisin in dem altmodischen Erkerzimmer meiner Großmutter, als ich noch ein ganz kleiner Junge war, und es saß noch dort und flickte unermüdlich mit fingerdicken Nähten die grobe Gesindewäsche, als ich anfing, mich mit Ehestandsgedanken zu tragen. Fast hundert Jahre war es alt geworden, das Miekäthchen- Marie Katharine-, wie es allgemein genannt wurde, und mindestens 80 Jahre davon hatte es sich mit Weißzeugnähen schlecht und recht ernährt. Einen Spiegel seiner Zeit konnte man es insofern nicht nennen, als es sich nicht einmal um die geschichtlichen Ereignisse gekümmert hatte, die sich in seiner nächsten Nähe abspielten und die oft recht auffälliger Natur waren. Das Miekäthchen war die vollkommenste Verkörperung des politischen und sozialen Indifferentismus. Es konnte uns Kindern weder von Napoleon , noch von den Kosaken, weder vom Jahre 1813, noch vom Jahre 1848 etwas erzählen, und der alte Wilhelm war ihm ebenso unbekannt wie Robert Blum oder Friedrich Hecker . Dagegen war das uralte Persönchen mit den Familienverhältnissen der Kleinstädtischen Patrizier, die feinen Kundenkreis bildeten, durch viele Generationen hindurch bis in die kleinste Einzelheit aufs innigste vertraut. Hier zeigte es ein phänomenales Gedächtnis, das ganz ausgezeichnet das Wesentliche vom Unwefent lichen schied, indem es alles Wesentliche völlig vergaß, alles Unwesentliche aber aufs sorgsamste festhielt. Und dennoch war das Mietäthchen ein historisches Spiegelbild, cin Typus der indifferenten Lohnarbeiterinnen jener Übergangszeit, der Lohn arbeiterinnen, die mit den bescheidensten Ansprüchen für einen jämmerlichen Tagesverdienst in den Häusern der besser situ
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terten Spießbürger arbeiteten und sich als zu diesen Häusern gehörende Familiensklaven fühlten.
Die beiden Altersgenossinnen des Miekäthchen waren ziet Mutterschwestern meiner Großmutter, also meine Urgroßtanten. Im Gegensatz zu der alten Nähterin als Patrizierinnen der ehemals ziemlich selbständigen Stadt bekundeten sie einen außerordentlich lebhaften Geist und zeigten für alle politischen und öffentlichen Vorgänge ein sehr großes Interesse. Auch die harmlosesten Geschehnisse pflegten sie mit außerordentlich abenteuerlichem und romantischem Beiwerk zu bekleiden. Ein Mohr, der sich auf dem Jahrmarkt sehen ließ, war ein Menschenfresser, dem der Totengräber heimlich Proviant liefern mußte. Ein bei einem unbedeutenden Diebstahl erwischter Ladendiener avancierte zum Räuberhauptmann einer geheimen Bande, ein vermögender Handwerksmann zum Goldmacher oder Finder einer Kriegskasse, die in der Napoleonszeit vergraben worden war. Ein geschickter Arzt, dem ein Luftröhrenschnitt bei einem der Erstickung nahen Rinde gelungen war, wurde zu einem zweiten Doktor Faust erhoben, der mit dem Teufel im Bunde set. Man kann sich kein unschuldigeres Wochenblättchen denken, als die Zeitung" unserer Stadt, seine politischen Nachrichten hinkten um manche Wochenlänge den Zeitereignissen nach. Aber kaum hatten die lebhaften Urgroßtanten einen Blick hineingeworfen, so konstatierten sie auch schon mit einer jeden Widerspruch ausschließenden Bestimmtheit, daß wir am Vorabend eines großen Kriegs ständen. Für uns Kinder war ein Besuch bei den Alten unterhaltender als ein Puppentheater. Und wie interessant war es erst in ihren Behausungen, die mit dem wunderlichsten Trödel angefüllt waren. Da gab es eine Unmenge historischer Reliquien, unter anderen auch ein Kaffeekännchen, das Napoleon I. benützt haben sollte. Die Echtheit der Reliquien war freilich nicht beglaubigt und eristierte wohl nur in der Phantasie ihrer Besitzerinnen. Und welch schauerlich schöne Märchen die Urgroßtanten erzählen fonnten! Da war zum Beispiel die Geschichte von dem Männ chen auf der Küchentreppe, die durfte nur am hellen Tage und auch nur bei grellem Sonnenschein erzählt werden, da sie so gruselig war, daß man sich bei trübem Wetter oder abends dabei zu Tode ängstigen konnte. Aber die romantischen Begebenheiten existierten für die beiden Urgroßtanten nicht nur in den Märchen, sondern noch in viel umfangreicherem Maße in der ganz alltäglichen Wirklichkeit. Merkwürdig, was sich da alles zutrug! Da huschten im Burghof des Städtchens nachts blaue Flämmchen über das Pflaster, hüpften bis zur Kirche und verschwanden dort in der Gruft der toten Naubritter, irrlichtelierende arme Seelen, die keine Ruhe finden fonnten. Dann trieb sich wieder in einem sonst sehr prosaisch aussehenden Hohlweg ein Kobold herum, der sich den Passanten nachts auf den Rücken hockte und ihnen den Hals umdrehte, wenn sie es wagten umzublicken. Dann hatte wieder ein Maulwurf auf dem in einen Kinderspielplatz umgewandelten alten Stirchhof Goldstücke aus der Erde geworfen, die ein Handwerksbursche aufhob, der zum reichen Manne wurde.
So geschah täglich irgend ein Märchenwunder. Und erst die Träume! Jede der lebhaften Urgroßtanten hatte jede Nacht ihren bedeutsamen Traum, und ein Hauptteil ihrer Tagesarbeit bestand darin, herzhafte Leute für die Verwirklichung ihrer Träume zu suchen, die sich meist mit der Hebung vergrabener Schäze beschäftigten. Einmal tat auch meine Großmutter einer der alten Tanten den Gefallen, sie auf einer Schatzsuche zu begleiten. An einer ganz bestimmten Stelle hatte die Urgroßtante eine Urne stehen sehen, nämlich in einem schmalen Wege, einem Heckenpfädchen zwischen zwei Gärten hinter dem Kirchhof. Die Urne war bis oben mit Goldstücken gefüllt. Die beiden alten Damen machten sich also auf zu dem abgelegenen Pfädchen und spähten nach der im Traume geschauten Stelle. Die Stelle war natürlich da, statt des goldgefüllten Topfes aber lag breit etwas ganz anderes auf dem Wege, das nur für die Landwirtschaft Wert hatte. Die schatzwütige Urgroßtante war jedoch schnell mit einer sehr natürlichen" Erklärung des Tatbestandes bet der Hand. Der Traum
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