Nr. 21

Die Gleichheit

Bericht in Steele . Er hatte die lange Reise zur Gerichtsstätte in banger Erwartung gemacht. Mit wachsendem Erstaunen wird ihm im Laufe der Verhandlungen flar, daß er wegen derselben Sache berurteilt werden soll, wegen der er von demselben Vorsitzenden schon einmal verurteilt worden ist! Schon hatte der Vertreter der Antlage den Strafantrag gestellt, da schwingt der Angeklagte sich zu dem Einwand auf: er sei doch schon einmal wegen derselben Sache verurteilt worden! Der Richter sieht den Angeklagten uns gläubig an. Er fragt den Belastungszeugen, ob das wahr sei. Der bestätigt es mit dem Bermert, daß ja der Vorsitzende selbst die Verhandlung geleitet habe. Da dämmert's auch dem Vorsigenden. Der Missetäter tann gehen. Schwer ist es, angesichts solcher Zustände im Lande der vollendeten Rechtsgarantien noch ruhiges Blut zu bewahren! Arbeiterfrauen! vergeßt es nicht, wie unseren Brüdern im Ruhrgebiet mitgespielt wird, die um besseres Brot für fich, ihre Frauen und Kinder fämpften. Und erzählt euren Kindern bom Rechtsstaat Preußen- Deutschland . Auf daß die Drachenfaat preußischer Justiz tausendfältige Früchte für die Arbeiterbewegung trage.

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And der Textilarbeiterbewegung. Vor furzem wurde gemeldet, daß in Bühl bei Gebweiler im Elsaß ein größerer Teil der Fabrit von E. Rogdet während des Betriebs eingestürzt sei. Mehrere Per sonen wurden dabei teils schwer verlegt, teils sofort getötet. Wenn bie Hinterbliebenen der Getöteten jezt auch von dem Unternehmer mit etwas entschädigt werden, so lann ihnen das doch nicht ihren Berlust ersezen. An der Firma wird es für inmmer hängen bleiben, das Leben ihrer Arbeiter dem Brofit zuliebe aufs Spiel gesetzt zu haben. Aber dies ist das Wesen der fapitalistischen Produktionsweise, daß sie den Profit höher wertet als den Menschen. Wie müssen übrigens dort im Elsaß die orts- und gewerbepolizeilichen Besichti gungen beschaffen sein? Wo es sich um die Fabrikanten handelt, drücken die Behörden gern die Augen zu. Geht es hingegen wider ftreifende Arbeiter, so ist ihr Amtseifer so groß, daß sie selbst vor einem Rechtsbruch nicht zurüdscheuen. Das zeigt uns die soeben be endete Bewegung in der Baumwollspinnerei zu Lengenfeld i.V. Deren Belegschaft forderte zehn Prozent Lobnerhöhung, weil durch Berspinnen seinen Materials der bisherige Lohn nicht mehr erreicht werden fonnte. Die Firma lebute jedwedes Zugeständnis ab, es fant zum Streit. Schon nach wenigen Tagen erschien nachstehende Ver öffentlichung:

Streifposten stehen.

Da das Stehen von Streitposten anläßlich des Ausstandes in ber Baumtvollspinnerei auf der Bismarckstraße und den beiden Ecken ber Bismarckstraße und der Reichenbacherstraße zu Beläftigungen von Einwohnern und Verkehrsstörungen geführt hat, wird hiermit das Streifpoftenstehen auf den genannten öffentlichen Verkehrsräumen sowie das Begehen der Bismardstraße untersagt.

Zuwiderhandlungen werden auf Grund von§ 366 Ziffer 10 des Strafgesegbuchs mit Geldstrafe bis zu 60 Mark oder Haft bis zu 14 Tagen bestraft werden.

Wir richten im übrigen an alle Beteiligten das Ersuchen, die größte Ruhe und Ordnung zu bewahren und sich jeder Belästigung und Ausschreitung streng zu enthalten, widrigenfalls wir uns gezwungen sehen würden, das Streitpostenstehen überhaupt auf allen Straßen und Pläzen zu verbieten.

Lengenfeld i. V., 8. Juni 1912.

Der Stadtrat.

Der Proletarier darf und muß in baufälligen Baraden zu mög lichst billigen Löhnen arbeiten, bis ihm das Dach über dem Kopf zusammenstürzt, auf die Gefahr hin, dabei erschlagen zu werden. Besinnt er sich aber auf seine Rechte und beansprucht er menschen­würdigeren Lohn, so findet sich schon eine Behörde, die feststellt, daß durch den Streit die Interessen der Allgemeinheit leiden. Dann müssen die wunderlichsten Paragraphen herhalten, in diesem Falle der berühmte grobe Unfugsparagraph, um die Arbeiter in ihrem Recht zu verkürzen. In Lengenfeld werden in Zukunft streifende Arbeiter sich Luftfahrzeuge zum Streifpostenstehen bedienen müssen. Dem Stadtrat von Lengenfeld, dürfte es aber durchaus nicht schaden, wenn er sich verschiedene oberlandes- und reichsgerichtliche Ent­scheidungen über die Berechtigung zum Streifpostenstehen etwas näher ansehen würde. Ein größerer Stampf, der bereits 14 Wochen bauert, spielt sich auf dem historischen Boden des Weberelends, in Bangenbielau im Eulengebirge ab. Dort ist es die schwerreiche Firma Mauthner, die ihren Arbeitern die Löhne in einer Zeit beschmeiden will, wo von Tag zu Tag sämtliche Lebensbedürfnisse im Preise steigen. In der vom Textilarbeiterverband im Jahre 1911 aufgenommenen Lohnstatistik beziffert sich der Durchschnittslohn der Weber in Langenbielau auf 14,11 Mart, der der Weberinnen auf 9,78 Mart in der Woche. Diese Hungerlöhne wollte die Firma noch um 10 bis 15 Prozent herabdrücken. Die Arbeiterschaft lehnte

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fich einmütig dagegen auf. In einer Unterredung, die der Leiter des Unternehmens fürzlich mit unserem Genoffen Feldmann hatte, wies er darauf hin, daß der Textilarbeiter des Westens mehr leiste als der schlesische. Wenn man das zugeben wollte, wer trägt dann die Schuld daran? Nur die schlesischen Textilmagnaten! Sie haben seit nunmehr 80 Jahren die schlesischen Weber ausgesogen; sie haben ihnen so erbärmliche Löhne bezahlt, ihr Leben zu fristen, daß Unter­ernährung und Minderleistungsfähigkeit die unvermeidbaren Folgen find. Vor 68 Jahren packte die schlesischen Weber die Verzweiflung, sie zerstörten die Villen ihrer Aussauger und zerschlugen die Ma schinen. Heute sind sie im Textilarbeiterverband zusammengeschlossen, heute zerstören sie feine unschuldigen Maschinen und Häuser mehr. Sie wissen, daß die Ursache ihres Elends die kapitalistische Aus­beutungswirtschaft ist. Der gehen sie zu Leibe. Sie tämpfen den organisierten Kampf des Proletariats. Die Hartnädigkeit der Firma läßt ein langes Ringen erwarten. Diese Aussicht schreckt die Kämpfen­sk. den nicht. Ihre Organisation ist gerüstet.

Notizenteil. Dienstbotenfrage.

Selbstmord der Dienstmädchen und gesetzlicher Arbeiterschuh. Zu dieser wichtigen Frage hat ein Artikel im Bayerischen Bater land" Stellung genommen, der Frauensch u" betitelt ist. Mit Recht wird dort behauptet, daß die Dienstmädchen, die Selbst mord begehen oder Versuche dazu machen, oft im Widerspruch zu ihrem ganzen Charakter handeln, so daß man wie vor einem Rätsel steht. Daher ist es notwendig, nach den Ursachen der Selbsta mordgedanken zu forschen.

Das Dienstmädchen ist kein Automat, der zur gleichen Stunde aufgezogen wird, um dann tagein tagaus ohne Störungen sein Werk zu verrichten. Das Dienstmädchen ist und bleibt ein weibs licher Mensch, und ihr Körper ist den periodisch wiederkehrenden Vorgängen im Leben des reifen Weibes unterworfen, das Mutter werden soll. Diese monatlichen Vorgänge verlaufen nicht immer glatt, sondern treten mit gesundheitlichen Störungen auf und be­einflussen das Gemütsleben. Außerdem darf man nicht vergessen, daß auch während dieser Zeiten das Dienstmädchen oft unter wahn­finnigen Schmerzen die häuslichen Arbeiten weiterverrichten und mit ansehen muß, wie die gnädige Frau" sich in der gleichen Lage oft in übertriebener Weise pflegen läßt. Bürgerliche Damen, die in der Offentlichkeit mit ihren Taten der Nächstenliebe" prunken, haben häufig für die Leiden der Dienstmädchen feinen Gedanken übrig. Es fällt ihnen nicht ein, auf den Gesundheits­zustand ihrer Hausangestellten Rücksicht zu nehmen. Unbekümmert um den periodischen Zustand des Mädchens werden die schwersten häuslichen Arbeiten angeordnet. Da findet ausgerechnet in den fritischen Tagen die große Wäsche statt. Von früh bis abends muß das Dienstmädchen dann am Waschfaß stehen, im falten Wasser pantschen, die schwere nasse Wäsche schleppen usw. Trotz der furcht baren Schmerzen muß das Mädchen stöbern, Fenster puzen, Möbel rüden, überhaupt schwere, förperlich anstrengende Arbeit verrichten. Wenn die Hausangestellten jahrelang unter solchen Umständen malträtiert werden, so ist es kein Wunder, daß ihnen schließlich während der monatlichen Periode die schwärzesten und grau­sigsten Gedanken aufsteigen. Sich selbst und die ganze Welt ver­wünschen viele in jenen Stunden des fürchterlichen Schmerzes. Es braucht nicht viel anderen Anlaß und manche werden zu Selbst­mörderinnen. Wenn nicht blißartig der Gedanke an Eltern, Ge­schwister oder Freunde auftauchen würde so wäre die Zahl der Selbstmorde unter den Dienstmädchen eine maßlos hohe. In richtiger Erkenntnis der Sachlage weist der angeführte Ar­tifel auf das Fehlen jeglichen gesetzlichen Arbeiterschußes für die Dienenden hin. Keine gefeßliche Vorschrift regelt für die fünf­viertel Millionen Dienstmädchen in Deutschland die Arbeitsver­hältnisse und begrenzt insbesondere die tägliche Arbeitszeit, so daß die Hausangestellte in den Beiten förperlicher Schonungsbedürf­tigfeit nicht bis zur Erschöpfung überanstrengt werden darf. Das unerfahrene und abhängige Mädchen soll sich selbst schüßen. Statt des gesetzlichen Schutzes der Arbeit lernen die Dienenden den ge= seglichen Zwang zur Arbeit kennen. Die Gefindeordnungen legen ausdrücklich fest, daß die Mädchen allen Anordnungen der Dienst­herrschaft unbedingt Folge zu leisten haben. Beharrliche Arbeits­berweigerung fann sofortige Entlassung zur Folge haben. Damit find auch in den kritischen Tagen die Hausangestellten jeder Un­vernunft und Willkür der Hausfrauen preisgegeben. Auf Schonung haben sie keinen Anspruch. Nur auf dem Wege der Selbsthilfe können sie sich die gebührende Rücksicht erringen; Selbsthilfe durch den Zusammenschluß in ihrer Organisation, dem aus ange..

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