Nr. 22

22. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen

Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder

Die Gleichbeit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post vierteljabrlich obne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig.

Jahres- Abonnement 2,60 Mart.

Inhaltsverzeichnis.

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Stuttgart 24. Juli 1912

Die Frauenerwerbsarbeit im Deutschen Reiche. III.- Die Erschütte­rung des Papsttums. Von W. D. Wera Figner . Der Bankrott der weiblichen Polizeiassistenz? Von b. sch. Genossinnen, fördert die Organisation der Hansangestellten! Von Jda Baar. Aus der Bewegung: Von der Agitation.- Agitation in Württemberg .

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Nochmals unfaire Agitation und Berichterstattung. Von Luise Biez. Feststellung.- Politische Rundschau. Von H. B.- Gewerf­schaftliche Rundschau. Aus der Textilarbeiterbewegung. Von sk. -Arbeitslosenzählung im Deutschen Textilarbeiterverband. Vonsk. Genossenschaftliche Rundschau. Von H. F. Notizenteil: Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Fürsorge für Mutter und Kind. Frauenstimmrecht. Sittlichkeitsfrage. Statistik zur Bevölkerungsbewegung.

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Die Frauenerwerbsarbeit im Deutschen Reiche.

III.

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Um jedoch die sich vollziehende Entwicklung klar zu erfassen, müssen wir auch fragen, wie sich die Zunahme der weiblichen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft auf die einzelnen sozialen Schichten verteilt. Die Berufszählungen des Reiches haben die erwerbstätige Bevölkerung in drei Haupt­schichten gegliedert: in Selbständige, Angestellte und Ar­beiter. Diese Scheidung berücksichtigt, ergibt ein Vergleich, daß die selbständigen Landwirtinnen von 1882 bis 1907 von 277 168 auf 328 234 gestiegen sind, um 51 066, das ist 18,42 Prozent. Die Zahl der weiblichen Angestellten ging in dem Zeitraum von 5881 auf 16 264 in die Höhe, erfuhr also einen Zuwachs von 10 383, gleich 176,55 Prozent. Beide Schichten weiblicher Erwerbstätiger haben sich von 1882 bis 1895 stärker vermehrt, sind aber von 1895 auf 1907 wieder etwas zurückgegangen. Wir sehen für den Augenblick von diesen Schwankungen ab, da sie für die Antwort auf unsere Frage ohne Bedeutung sind. Die Antwort ist klipp und klar. Der stärkste Zuwachs der weiblichen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft seit 1882 entfällt auf die Arbeite rinnen, die Taglöhnerinnen und Mägde. Ihr Heer erhielt von dem genannten Jahre bis 1907 einen Bu strom von 2002 628, es stieg von 2251 860 auf 4 254 488, das ist um 88,93 Prozent. Am stärksten ist es zwischen den beiden letzten Berufszählungen angeschwollen. Von 1895 bis 1907 nahmen die landwirtschaftlichen Arbeiterinnen um 1866 340 zu, um 78,15 Prozent. Diese Ziffern reden um so deutlicher, wenn wir ihnen den Rückgang der männlichen Ar­beiter in der Landwirtschaft gegenüberstellen. Er beträgt für die letzte Vergleichsperiode 210 663 oder 6,50 Prozent, seit 1882 aber 600 976. Die außerordentliche Zunahme der Ar­beiterinnen allein verhüllt es beim flüchtigen überblick der Erhebungsergebnisse, daß in der Landwirtschaft von 1895 bis 1907 die Zahl der erwerbenden Männer überhaupt um 255 267 zurückgegangen ist.

Zwei Tatsachen sind es, auf die diese Ziffern helles Licht werfen. Zunächst die Flucht der männlichen Proletarier und proletarisierten Klein

Zuschriften an die Redaktion der Gleichbeit find zu richten an Frau Klara Zetkin ( 3undel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bei Stuttgart . Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furtbach- Straße 12.

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bauern von der Scholle in die Industrie, in Handel und Verkehr. Ganz gleich, wie der Landbewohner die verhältnismäßig bessere Arbeits- und Existenzmöglichkeit kennen oder ahnen lernt, die ihm diese beiden großen Ge­biete unferes Wirtschaftslebens bieten. Der Teufel" mag die Versuchung in Gestalt einer neugegründeten Fabrik in das ländliche Paradies der Agrarier bringen, oder der Ka­pitalistenstaat mag den Soldaten mit dem lockenden Leben der größeren Stadt bekannt machen. Unaufhaltsam, in wach­senden Scharen kehrt der kleine Mann auf dem Lande den patriarchalischen Segnungen der Hungerlöhne, der wirt­schaftlichen und politischen Stallpeitsche den Rücken, treibt ihn die drückende Last der Hypothekensklaverei zum Ausguck nach lohnenderem Erwerb. Und wie hart auch die Fron, wie färglich die Eristenz der Ausgebeuteten in der Industrie oder in Handel und Verkehr sein mag, gemessen an den Lebens­bedingungen der landwirtschaftlichen Proletarier und recht zahlreicher Kleinbauern ist der Wechsel des Berufsgebiets ein Aufstieg. Industrie, Handel und Verkehr müssen unter den vorliegenden Umständen die Anziehungskraft von Wirt­schaftszweigen ausüben, die in raschem, kraftvollem Auf­blühen begriffen sind und eine Hebung der Lage verheißen. Dazu kommt noch, daß sich im Anschluß an die Agrikultur selbst auf dem platten Lande mächtige Industrien entwickelt haben. Es sei nur an die Rübenzuckerfabrikation erinnert und an die Branntweinbrennerei mit ihren Nebengewerben. So kommt es, daß die Fabriken und Werkstätten, daß die Bureaus, Lager- und Kaufhäuser und die verschiedenen Zweige des Verkehrsdienstes immer mehr die männliche Be­völkerung aufnehmen, die früher dem Erwerb in der Land­wirtschaft nachging. An die leeren Arbeitsplätze in Feld und Wiese, in Garten und Stall treten die Frauen. Anspruchs­loser als die Männer und durch mancherlei Bedingungen ihrer Eristenz an den Ort gefesselt, einstweilen noch be­wegungsunlustiger und bewegungsuntüchtiger als diese, müssen sie, um den Unterhalt der Familie zu sichern, den Nacken unter das Joch beugen, das die Väter und Brüder abgeworfen haben. Entgegen der Entwicklung in Industrie, Handel und Verkehr tritt die Frau in der Landwirtschaft nicht als verdrängende Konkurrentin des Mannes auf den Plan, sie rückt dort nach, wo er seine Zelte abgebrochen hat. Das ist einer der Gründe, weshalb sich der Umschwung in der Stille vollzogen hat, ohne Protest der Männer- gleich­sam unter Ausschluß der Öffentlichkeit, als Angelegenheit einzelner Familien, die die Erwerbsarbeit zwischen den Ge­schlechtern unter dem Zwang der Umstände neu regelten. Die Umwandlung der Frauen in landwirtschaftliche Arbeite­rinnen als Massenerscheinung von geradezu verblüffendem Umfang kündet noch eindringlicher als die Abwanderung der Männer die starke Proletarisierung der bäuerlichen Bevölkerung.

Dieser ihr Sinn wird noch durch andere Erscheinungen be­stätigt, die sich aus den Berufszählungen zur Kennzeichnung des Entwicklungsgangs in der Landwirtschaft ergeben. So