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Die Gleichheit
Nr. 22
wärtigt, die wütenden Hetzereien gegen das„gottlose" liberale Kapital, die noch vor kaum zwanzig Jahren das gesellschaft- liche und politische Leben im Ruhrrevier beherrschten. Es sei als Zeichen des Umschwunges vermerkt, daß die scharfmacherische„Rheinisch-Westfälische Zeitung", die in wütenden Ausfällen gegen den Papst sich hervortut, in diesem Kampfe als Mitarbeiter katholische Geistliche und Zentrumsabgeordnete aufmarschieren lassen kann. Weil die Arbeiter stärker als die Besitzenden an die Jenseitshoffnungen gefesselt sind, stellen sie das vermeintlich religiöse Interesse ihrem Klasseninteresse voran. Das erklärt, weshalb es ihnen noch nicht allgemein zum Bewußtsein gekommen ist, daß ihnen in diesem erbaulichen Zwist die Rolle des Handlangers kapitalistischer Zwecke zugewiesen wurde. Für sie gilt gefühlsmäßig immer noch das als Zweck, was die katholische Bourgeoisie schon längst als Mittel der Wahrnehmung ihrer eigenen Klasseninteressen benutzt: die religiöse Überzeugung! Diese dient auch als Aushängeschild für die christlichen Gewerkschaften, die als Werkzeuge der kapita listischen Herrschaft unbedingtes Vertrauen genießen. Der Verlauf der Familienfehde hat das schlagend bestätigt. Den glänzenden Nachweis für die Berechtigung dieses Vertrauens haben die christlichen Gewerkschaften bei der letzten Neichs- tagswahl und durch den Massenstreikbruch im Nuhrrevier erbracht. Kein katholischer Arbeiter ist so kurzsichtig, rkicht zu erkennen, 5aß die Sozialdemokratie als Partei der Proletarier seine wirtschaftlichen und politischen Bedürfnisse besser vertritt, als er das von den Vertrauensmännern der Großindustriellen und Agrarier erwarten dürfte. Trotzdem hielten katholische Arbeiter diesen Leuten die Steigbügel und ließen sich als Sturmgarde gegen die Sozialdemokratie mißbrauchen. Zur Gefolgschaft ihrer Ausbeuter sammelten sie sich aus religiösen Gründen, die in der Hauptsache auch den schmachvollen Streikbruch rechtfertigen müssen. Der katholische Proletarier hat noch nicht erkannt, daß der Kapitalismus als Köder für seine Angel das religiöse Gefühl des arbeitenden Volkes mißbraucht. Die arbeiterschädliche Rolle der christlichen Gewerkschaften bildet freilich für den Papst keinen Grund, diese Organisationen zu verbieten: seine Feindschaft gegen sie wurzelt lediglich in ihrer Jnterkonfessionalität und in ihrer Neigung, sich seiner Autorität zu entziehen. Die Bestrebungen und Grundsätze der katholischen Bourgeoisie müssen allmählich, den Gläubigen unbewußt, auch auf die Arbeiter abfärben. Der gutgläubige katholische Arbeiter würde jetzt noch, einem Machtwort des Papstes folgend, der interkonfessionellen Gewerkschaft untreu werden. Der Papst jedoch kann aus Rücksicht auf die Bedürfnisse der Besitzenden dieses Machtwort nicht sprechen. Er kann nicht an einen ernstlichen Kampf gegen die Ziele der Bourgeoisie denken, weil die kapitalisti schen Interessen stärker als Konfession und Weltanschauung sind und daher einen Sieg des pästlichen Gebots unmöglich machen. Das ist die eine bedeutungsvolle Erscheinung in der Auseinandersetzung zwischen den Modernisten und den Orthodoxen im Katholizismus. Der Papst weicht vor den kapita listischen Interessen zurück und muß deshalb auf die Vernichtung der interkonfessionellen Gewerkschaften verzichten, die seiner Überzeugung nach geboten wäre. Dieser Sieg des Kapitalismus im Kampfe gegen das Papsttum erschüttert dessen Grundlagen. Die Leitungen der christlichen Gewerkschaften lehnten sich offen auf und verweigerten bewußt den Gehorsam, ohne daß ein Bannstrahl von Rom die Frevelnden zu Boden gestreckt hätte. Dies Unerhörte, kaum Glaubliche, ist das wichtigste Ereignis. Im Einklang mit den entsprechenden Erklärungen der Führer galt es bei den Katholiken bisher als selbstverständlich, daß man einem etwaigen Verbot der christlichen Gewerkschaften sich fügen werde, sich fügen müsse. Und nun erklären die Wortführer der Kölner Richtung rund heraus, daß die christlichen Gewerkschaften auch gegen den Willen des Papstes nach Form und Ziel weiter bestehen und wirken würden! Und Rom schweigt I Der Vatikan duldet die Ankündigung der Gehorsamsverweige
rung! Die Autorität des Papstes hat einen schweren Schlag erlitten. Nachträgliche, beschönigende Erklärungen, Schweigegebote und noch so kunstvolle Auslegungen können diese Tatsache nicht mehr aus der Welt schaffen. Ohne Widerspruch zu finden, konnten die christlichen Gewerkschaften aussprechen: in der Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen sind die Arbeiter selbständig, unabhängig vom Papstl— Diese Tatsache kann nicht ohne zersetzende Wirkunz bleiben. Die Zentrumspolitiker täuschen sich selbst darüber nicht, aber Rom und vor allem die Arbeiter suchen sie darüber hinwegzutäuschen. Und zwar suchen sie das zu erreichen, indem sie Entrüstung heucheln über die Erschütterung, die die bischöfliche Autorität durch die orthodoxe Berliner Richtung erleidet. Soweit sich die Bischöfe nicht der politischen Herrschaft des kapitalistischen Staates beugen müssen, sind sie doch nur Handlanger des Papstes, in ihrem Tun stark abhängig vom jeweiligen Willen des Heiligen Stuhles. Die Autorität des Papstes, des kraft seines Amtes allein Unfehlbaren, scheint für das Zentrum nicht niehr in Frage zu kommen. Das kapitalistische Interesse geht vor! Jedoch schlechte Beispiele verderben gute Sitten! Es kann nicht ausbleiben, daß— zwar nicht plötzlich, aber allmählich und dafür unabwendbar— auch bei den Arbeitern das Bewußtsein erstarkt, daß sie in der Vertretung ihrer wirtschaftlichen und politischen Klasseninteressen von religiösen, konfessionellen Erwägungen frei und ungehindert entscheiden dürfen und müssen. Deshalb ge- währt uns der Verlauf der Auseinandersetzung hohe Befriedigung. Bisher war bei dem katholischen Arbeiter die Autorität des Papstes, die Allmacht der katholischen Kirche in allen Lebensfragen das schwerste Hindernis für uns. Sie bildete die feste Grundlage des aus Fanatismus und Fatalismus erbauten Walles, an dem sich die Wellen unserer Bewegung brachen. In diesen Wall schlugen die Kölner Bresche. Von dem Bedürfnis der katholischen Bourgeoisie nach Bewegungsfreiheit vorwärts getrieben, erschütterten sie die Autorität des Papstes, des Oberhauptes der Kirche, die doch einer der zuverlässigsten Schutzpfeiler ihrer Klassenherrschaft war. Das ist der bleibende Sinn des Streits, seine geschichtliche Folge, ohne die ihm nur die Bedeutung' eines Froschmäusekriegs zukäme. Denn was der Papst verliert, werden Zentrum und Modernisten auf die Tauer nicht halten können. Als lachender Dritte erntet die Sozialdemokratie. v.
Wera Figner . Wera Figner , die am 8. Juli ihren 60. Geburtstag gefeiert hat, gehört zu jenen russischen Revolutionärinnen, aus die alle stolz sein müssen, deren Herz für die Freiheit schlägt. In ihrem Leben verkörpert sich das opferreiche Martyrium, aber auch das kühne Heldentum, deren Vereinigung den Wegbereitern der Revolution in Rußland unbeugsame Kräfte im Kampfe und höchsten persönlichen Zauber verleiht. Von den Tagen an, wo sich den jungen Mädchen ihres Kreises die Gärten des Lebens öffnen, bis an die Schwelle des Greiscn- alters kennt sie nur ein Ziel: die Befreiung des arbeitenden Volkes durch den Sozialismus von jeglicher Knechtschaft und Ausbeutung. 22 Jahre der Einkerkerung in einem der scheußlichsten Gefängnisse der ganzen Welt— in der Schlüsselburg— haben ihren Gedanken und ihren Willen nicht um Haaresbreite von der Verfolgung dieses Zieles abzulenken vermocht. So steht Wera Figner vor uns, ein erhebendes Beispiel der Bürgertugenden, die auch die Frauen im Ringen für die höchsten Menschheitsrechte einzusetzen vermögen. Wera Figner wurde am 8. Juli 1852 in einem Dorfe bei Kasan in begüterter und gebildeter Familie geboren. Tie Seele des begabten Kindes reifte rasch in einer Zeit und einer Umgebung, die durchtränkt waren mit der Überzeugung, daß in Rußland weitgehende soziale und politische Umwandlungen notwendig seien. Der landläufige Unterricht in einem Institut befriedigte schon die Elfjährige nicht mehr. Wera Figner begann die großen sozialen, politischen Kritiker