Nr. 22

Die Gleichheit

der Zeit zu lesen: Tschernischewski, Pissareff, und andere. Cie öffneten ihr den Blick für die tausenderlei Erscheinungen des Unrechts und des Widersinns, die ihr überall in der Ge­sellschaft entgegentraten. In heißem Mitgefühl schlug ihr Herz für die unsäglich leidenden Volksmassen, die wehrlosen Opfer der Gutsherren, der Behörden und Wucherer. Be­sonders bestimmenden Einfluß gewannen die Ideen Tscherni­schewskis auf das heranwachsende Mädchen. Sie lehrten nicht nur die sozialen und staatlichen Verhältnisse prüfend betrachten, sondern verkündeten die Notwendigkeit und die Möglichkeit der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen auf der Grundlage einer sozialistischen   Organisa. tion der Gesellschaft. Wera Figners geistiges Leben und Streben wurde so in den gewaltigen Strom der idealen Ge­finnung gelenft, der in den sechziger und siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts die fähigsten und besten Ele­mente der studierenden Jugend Rußlands   ins Lager der Re­volution trug. Mit Hunderten ihresgleichen empfand sie die Vorteile des Besitzes und der Bildung als ein Unrecht. Waren ihre Grundlagen nicht die graufigste Not und die schwarze Unwissenheit von Millionen? Dieses Unrecht zu fühnen durch die selbstlose Hingabe an die Sache des Volfes, an den re­volutionären Befreiungskampf: das war der Gedanke, der immer mehr ihr ganzes Sein beherrschte.

Wera Figner   studierte in Rasan, Bern   und Zürich   Me­dizin. Das Recht des Weibes auf Bildung und Berufstätig­feit, auf volle Entfaltung und Betätigung aller seiner Gaben, war selbstverständlich ein Teil ihres Freiheitsideals. Als Arztin hoffte sie, manches Elend bekämpfen zu können, vor allem aber die Massen über die sozialen Ursachen ihrer Lei­den aufzuklären, ihre Köpfe zu revolutionieren und für den Sozialismus zu gewinnen. Mit nicht geringerem Eifer als in die Medizin versenkte sich Wera Figner   deshalb in das Studium der sozialistischen, der revolutionären Literatur. So war sie 1875 gerüstet, lehrend unter das Volk" zu gehen, den Bauern und Arbeitern in Rußland   das Evangelium des Sozialismus zu predigen und das heilige Feuer der Empö­rung in der studentischen Jugend zu schüren. Sie tat das zunächst unter ihrem wahren Namen, später unter falschem und in allerlei Verkleidungen. Denn es dauerte nicht lange, so heftete der Erfolg ihrer zähen Arbeit und hinreißenden Beredsamkeit die Schergen des Baren an ihre Fersen.

Die blutige Schmach- und Schreckensherrschaft des Ab­folutismus zwang die friedlichen Apostel einer kommu­ nistischen   Gesellschaftsordnung zum politischen Kampf. Und wie die Verhältnisse in Rußland   lagen, mußte dieser zeitweilig feine Spitze gegen den Baren selbst kehren. Wera Figner   wurde 1879 Mitglied des berühmten terroristischen Exekutivkomitees, das durch Attentate gegen die Person des absoluten Zaren das System des Absolutismus für immer zu vernichten wähnte. Nachdem eine Bombe im März 1881 Alexander II.   getötet hatte, kannte der weiße Schrecken" der Regierung und ihrer Werkzeuge keine Grenzen mehr. Auch Wera Figner   fiel ihm zum Opfer. Für 10 000 Rubel gab sie ein Verräter aus den eigenen Reihen in die Hände der Feinde. Die gefürchtete Re­volutionärin wurde zum Tode verurteilt, aber zu lebensläng­licher Zwangsarbeit begnadigt", an deren Stelle die Ein­schließung in den berüchtigten Kassematten der Schlüsselburg trat. Bergebens verwendeten sich einflußreiche Verwandte und Freunde bei dem Zaren selbst, um das entsetzliche Los zu wenden oder wenigstens zu mildern. Jahr auf Jahr verstrich in furchtbarem Einerlei. Wera Figner   hörte das Toben von Kämpfern und Kämpferinnen für das Glück, für die Frei­heit des Volkes, die dem Wahnsinn verfielen. Sie erfuhr, daß neben ihr teure Freunde an der Schwindsucht dahin­fiechten, daß hoffnungsvolle Gesinnungsgenossinnen wie Sophie Günzburg sich unter entsetzlichen Qualen getötet hatten. Der Kerfer mit seinen Schrecken war außerstande, die Kraft ihrer Seele zu brechen, den Glauben an die Wahr heit und Größe ihres sozialistischen Ideals zu erschüttern oder zu zermürben.

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Erst die siegreiche Revolution holte 1905 die lebendig Be­grabene aus ihrer Hölle hervor. Als blühendes, schönes Weib war Wera Figner   1883 in die Schlüsselburg   geworfen wor­den, als frühzeitig Gealterte sah sie das Licht der Freiheit wieder. Aber nicht als Müde, als Gebrochene. Mit der felsen­festen überzeugung ihrer Jugend brachte sie auch deren Taten­drang und Arbeitsfreudigkeit mit aus dem Kerker zurüd. Heute wirkt die Sechzigjährige im Ausland- wohin fie ihrer erschütterten Gesundheit wegen gehen mußte- mit der glühenden Begeisterung und selbstlosen Hingabe ihrer jungen Jahre für die Sache der Revolution. Durch Vorträge, Artikel, Flugblätter wirbt sie ihr Kämpfer und Kämpferinnen, feuert fie die Gehezten an, die kraftlos und entmutigt zusammenzu­brechen drohen. Sie sucht das Los der Gefangenen und Ver­schickten zu lindern, indem sie Gelder für sie sammelt und die Greuel des Absolutismus vor der breitesten Öffentlichkeit brandmarkt. Sie seht ihr ganzes Sein so rastlos und restlos für ihre sozialistischen Ideale ein, daß einer ihrer Freunde zu­treffend von ihr sagte: Wera Figner   ist 60 Jahre alt, aber ich glaube, wir müssen ihre 22 Gefängnisjahre davon in Ab­zug bringen, um auf ihr richtiges Alter zu kommen. Und dann haben wir noch nicht recht. In ihr wohnt die große Kraft der ewigen Jugend!" Der Jungbrunnen dieser Kraft ist die sozialistische Erkenntnis, ist die revolutionäre Leiden­schaft, die mit dem Wiedererwachen des russischen Prole­tariats die Zeiten nahen fühlt, wo die Nevolution reisiger und siegreich wiederkehrt.-

Wera Figner  , der stolzen Dulderin, der kühnen Freiheits­kämpferin den herzlichen, verehrungsvollen Schwesterngruß der deutschen   Proletarierinnen, die wie sie den sehnsuchts­schweren und doch klaren Blick unverwandt auf die empor­steigende Sonne des Sozialismus richten.

Der Bankrott der weiblichen Polizeiaſſiſtenz?

Voriges Jahr hat sich in Mainz  , dieses Jahr in Darm­ stadt   ein Sensationsprozeß abgespielt, in dessen Mittelpunkt die Einrichtung der weiblichen Polizeiassistenz stand. In Deutschland   herrscht ein nur zu berechtigtes Mißtrauen gegen alles, was Polizei heißt, und bei dem Prozeß sind unleug­bar polizeiliche Mißgriffe zutage getreten. So ist es erklär­lich, wenn diese Angelegenheit Anlaß dazu gibt, daß gegen die Polizei und die weibliche Polizeiassistenz vom Leder ge­zogen wird. Dabei wird aber nur zu leicht und zum Teil auch mit Absicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Wir halten es deshalb für angezeigt, die Ursachen des Prozesses und den Prozeß selbst zu beleuchten.

Vor 2 Jahren wurde in Mainz   auf Anregung der sozialdemokratischen Stadtverordneten eine Polizeiassistentin angestellt. Die Wahl fiel auf Frau Dr. Schapiro, eine Frau, die über eine gute wissenschaftliche Bildung und über praktische Erfahrung auf dem Gebiet der Erziehung und der Krankenpflege verfügte. Die Mainzer   Polizei ist städtisch. Das ist gewiß schon ein Vorzug vor dem preußischen System, jedoch hat die Stadtverwaltung nur Einfluß auf Personal­angelegenheiten, in den inneren Betrieb hat sie nicht hinein­zureden. Ein Beigeordneter( Adjunkt) ist Dezernent des Polizeiwesens; ihm untergeordnet, aber in seinem Reiche vollkommen selbständig ist der Leiter des Polizeiamtes, der Polizeirat. Der Polizeirat war der Vorgesetzte der Assi­stentin, er gab ihr die Aufträge im einzelnen nach einem Arbeitsprogramm, das von der Bürgermeisterei aufgestellt worden war. Danach hatte die Beamtin alle mit der Kri­minal- oder Sittenpolizei in Berührung kommenden weib­lichen Personen zu bernehmen oder anzuhören, Anzeigen gegen dritte Personen entgegenzunehmen und bei Unter­suchungen und Vernehmungen weiblicher Personen anwesend zu sein. Ferner oblag ihr die überwachung der Bordelle, die Beratung und Hilfeleistung der wegen Sittlichkeitsdelikten verurteilten weiblichen Personen sowie die Behandlung der­jenigen Fälle der Jugendfürsorge, in denen eine sittliche Ge­