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Die Gleichheit

fährdung der Kinder vorlag oder zu befürchten war. Die Fürsorgetätigkeit sollte ganz besonders auch zuteil werden den obdachlos und mittellos Aufgegriffenen oder sich frei­willig als obdachlos und mittellos Meldenden, den gefähr­deten Jugendlichen und Kindern, die freiwillig von Eltern und Vormündern zugeführt werden, den weiblichen Ge­fangenen und ihren in Not und Bedrängnis geratenen Fa­milien oder den alleinstehenden Frauen und Mädchen. Das Tätigkeitsfeld der Polizeiassistentin war also sehr umfang­reich, und ihre Aufgaben waren recht mannigfaltig. Zum Teil sollte sie Polizist, zum Teil beratende, ermahnende und schließlich aufhelfende Mutter sein.

Die Rechtsquellen für die Befugnis der Polizeiassistentin waren die allgemeinen gesetzlichen, die polizeirechtlichen und die polizeiverwaltungsrechtlichen Bestimmungen, Verord­nungen und Anweisungen. Die Verkoppelung dieser ver­schiedenen Befugnisse in der Tätigkeit einer Person, für die im Verwaltungskörper ursprünglich kein Platz vorgesehen war, führte naturgemäß zu kleinen Reibereien im bureau­kratischen Betrieb. Nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil die verknöcherten und spießbürgerlichen Bureaukraten eine Frau in ihrem Reiche als konkurrierenden Eindringling mit Argwohn und Mißgunst ansahen. Nichtsdestoweniger war Frau Dr. Schapiro bald in der Verwaltung heimisch, und ihr Wirken fand günstige Beurteilung. Der Dezernent des Polizeiwesens hatte ihr bei ihrer Anstellung eingeschärft, nicht nach strafbaren Handlungen zu suchen, sondern die Sachen an sich herankommen zu lassen und überall mit der größtmöglichen Schonung und Milde vorzugehen. Insbe­sondere solle sie sich nicht um regelrechte Liebesverhältnisse fümmern, solange kein öffentliches Ärgernis vorliege. Da mit diese Richtlinien eingehalten wurden, ließ er sich regel­mäßig Bericht erstatten und besprach die vorliegenden An­gelegenheiten und die Art ihrer Behandlung mit der Assi­stentin und dem Polizeirat durch.

Frau Dr. Schapiros Arbeit hielt sich in dem angedeuteten Rahmen, und sie bewährte sich außerordentlich segensreich. Ein Blick in den ersten Tätigkeitsbericht der Polizeiassistentin zeigt, in welch großer Zahl von Fällen sie in Ermangelung anderer Instanzen helfend eingreifen und gerade als Frau die geeignetsten Maßnahmen entweder vorschlagen oder selbst durchführen konnte. Ihrem Betreiben ist unter anderem auch eine Umänderung der Bordellordnung zu danken, die durch zweckmäßige Bestimmungen der unglaublich gewissen­losen Ausbeutung der Freudenmädchen durch die Bordell­inhaber eine Grenze zieht. Zu der Zeit, als die Assistentin ihre Amtstätigkeit begann, trat auch eine Polizeiverordnung gegen die Animierkneipen in Kraft, die auf Anregung der Stadtverordnetenversammlung erlassen worden war. Wir erwähnen das nur, weil die Durchführung dieser Verordnung der Assistentin Arbeit brachte, die den Animierkneipen­besitzern ebenso unangenehm war wie die erwähnte Bordell­ordnung den Bordellbesizern. Endlich wurde der Kreis derer, die sich durch das Wirken der Polizeiassistentin unangenehm berührt fühlten, noch durch diejenigen jungen und alten Lebemänner vermehrt, die unerfahrene Mädchen mit mehr oder weniger Raffinement verführten und sie dann in ihrem Elend sizen ließen.

Nach etwa dreivierteljähriger ungestörter Tätigkeit der Assistentin erschienen gegen sie Angriffe im Mainzer   Neue­sten Anzeiger". Dieses Nachrichtenblatt genießt in den Kreisen der Theaterwelt wegen seiner Besprechungen einen gewissen Ruf, gilt sonst aber allgemein als Sensationsblatt. In den betreffenden Artikeln wurden Frau Dr. Schapiro ,, gemeingefährliche Schnüffelei"," Ungeseglichkeiten" und ,, rücksichtsloses Draufgängertum" zum Vorwurf gemacht. Die Bürgermeisterei ging den Beschuldigungen nach, forderte Material und Angaben ein und veranstaltete unter Hinzu­ziehung von Stadtverordneten eine gewissenhafte Unter­suchung. Von den Beschuldigungen blieb so gut wie nichts übrig. Begründete Anstände gab es allerdings in zwei

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Fällen, die jedoch dem Kritiker nicht bekannt gewesen waren. Die Assistentin hatte im Auftrag der Kriminal­ polizei   Lockspizeldienste verrichtet, um zu ermit­teln, ob ein Geschäft Abtreibungsmittel verkaufe und ob eine Frau gewerbsmäßige Abtreibungen vornehme. Der Dezer­nent für das Polizeiwesen wußte davon nichts und erklärte nachdrücklich, er würde es gern gesehen haben, wenn die Assi­stentin solche Aufträge zurückgewiesen hätte. Daß ein ultra­montaner Stadtverordneter die Betätigung der Assistentin auf dem Gebiet der Jugendpflege rügte, wollen wir nur der Vollständigkeit halber erwähnen. Er vermißte die reli­giösen Gesichtspunkte in der Fürsorgetätigkeit, ihm paßte die liberale Auffassung der Beamtin nicht.

Kaum hatte die Stadtverordnetenversammlung der arg gekränkten und insbesondere persönlich angegriffenen Be­amtin einstimmig ihr Vertrauen bekundet, als die Angriffe in derselben Zeitung in noch schärferer Form wieder aufge­nommen wurden. Neben der Assistentin wurde auch der Polizeidezernent persönlich angegriffen. Gegen Frau Dr. Schapiro wurde der Vorwurf der seruellen Perversität und des Amtsmißbrauchs erhoben, der Beigeordnete Berndt sollte sich der Heuchelei, der Zwiespältigkeit zwischen pri­vatem und amtlichem Leben schuldig machen. Heimlich sei er Don Juan und Faust, öffentlich Alba und Torquemada   usw. Jetzt erst wurde Beleidigungsklage gegen den Herausgeber und Chefredakteur des Neuesten Anzeiger" erhoben. Vorher war dem Redakteur Gelegenheit geboten, durch Abgabe einer einfachen Erklärung die Anklage zu vermeiden. Trotzdem sein Hauptgewährsmann in der Stadtverordnetenversamm­lung seine Angriffe als auf falscher Information beruhend preisgab, beharrte der Redakteur auf seinem Standpunkt. Daß der Prozeß das nötige Relief erhielt, dafür sorgte ein berüchtigtes Korrespondenzbureau, das die Prozeßberichte ent­stellt in auswärtige Blätter brachte. Auf Grund dieser irre­führenden Berichte nahm dann die Presse von wenigen Ausnahmen abgesehen- Stellung gegen die Mainzer  Polizeiassistentin. Der angeklagte Redakteur wurde zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Eine harte Strafe, wie sie von den Gerichten sonst nur über sozialdemokratische Preß­sünder verhängt wird.

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Das Reichsgericht hob das Urteil auf und verwies die Klage nach Darmstadt  . Dort wurde der Prozeß in er­weitertem Umfang und großer Gründlichkeit vom 18. Juni bis 9. Juli verhandelt. Die Aufhebung des Urteils durch das Reichsgericht war durch einige Rechtsirrtümer der Vor­instanz begründet. Die Mainzer   Richter hatten nicht ge­prüft, inwieweit vielleicht für einige Angriffe dem Ange­klagten der Schutz des§ 193( Wahrung berechtigter Inter­essen) zuzubilligen sei. Das Reichsgericht verurteilte außer­dem die Lockspitelei der Polizeiassistentin und erachtete in einigen Fällen als nicht genügend nachgewiesen, daß die Sistierungen, Untersuchungen und Androhung von Unter­suchungen gesetzlich gerechtfertigt gewesen waren. Bei den Verhandlungen der Darmstädter   Strafkammer legten die Verteidiger des Angeklagten den Nachdruck hierauf und ver­langten den Nachweis, daß die Polizei gesetzlich berechtigt sei, so vorzugehen, wie geschehen. Da nun in Hessen   ge­setzliche Bestimmungen über Einzelheiten der Handhabung der Sittenpolizei fehlen und das Gebiet der Jugendfürsorge noch sehr unvollkommen entwickelt ist, ließen sich einige Rechtsverletzungen der Polizeiassistentin feststellen. Zum Beispiel ist eine zwangsweise Untersuchung und medizinische Behandlung auch dann als unberechtigter Eingriff in die persönliche Freiheit aufzufassen, wenn die Gefahr der über­tragung von Geschlechtskrankheiten besteht, und das um so mehr, als ja die Männer nicht diesen Maßnahmen unter­worfen werden. In Fürsorgefällen stellen die Maßnahmen für die jungen Schüßlinge sehr oft Eingriffe in das Eltern­recht dar. Man regt sich nur deshalb nicht darüber auf, weil die Eltern recht häufig versagen und der Schutz des Kindes und das höhere Interesse der Allgemeinheit allem Bedenken