348

Die Gleichheit

Anlaß einer Forderung für bürgerliche Turnvereine in schärfster Weise erklärt, daß sie die Sozialdemokratie nicht als gleichberech tigte Partei behandeln will. Die sozialdemokratische Fraktion hat das zur Begründung ihrer Etatablehnung genommen, die nach den Parteitagsbeschlüssen ohnehin hätte erfolgen müssen.

In Frankreich hat die Kammer ein freilich etwas verstümmel tes Zehnstundentagsgesetz für die Industrie angenommen. Es hat nun allerdings noch die Klippe des Senats zu umschiffen. Ebenso die Wahlreform, die das Proportionalwahlsystem bringt. In der Kammer wurde sie gegen den größeren Teil der Radikalen, der Regierungspartei, durchgebracht, die bei der gerechten Berücksichtigung der Minderheiten für ihre Herrschaft fürchten. Beim Streit der französischen Seeleute hat sich die bürgerliche Republik wieder ganz als der Staat der Kapitalisten erwiesen. Nicht allein, daß sie Truppen gegen die Streifenden aufgeboten hat, sie hat auch durch Maßnahmen verschiedener Art die Reeder unmittelbar in ihrem Widerstande bestärkt. Ähnliches ist aus einer anderen bürgerlichen Republik, aus der Schweiz zu melden. Hier trat in Zürich die Arbeiterschaft in einen eindrucksvollen, eintägigen Generalstreif, um gegen die unerhörte Parteilichkeit der Behörden zugunsten der Unter­nehmer Einspruch zu erheben.

In Italien ist es auf dem Kongreß der Sozialisten zu einem Ausschluß jener Abgeordneten gekommen, die sich anläßlich des legten Attentats auf den König zu monarchischen Huldigungen verstiegen und den Krieg gegen die Türkei mehr oder minder ent­schieden gebilligt haben. Die Ausgeschlossenen und mit ihnen Aus­getretenen wollen eine reformistische sozialistische Partei gründen. Eine reinliche Scheidung ist dieser Aft indes nicht, da die sozialistische Partei immer noch eine reformistische Mehrheit behält.

In Portugal ist es zu mehreren, anscheinend aber erfolglosen monarchistischen Butschen gekommen.

Die Türkei wird durch den Aufstand der Albanier und Meu­tereien in der Armee erschüttert, die ziemlich weit um sich greifen. Sie haben bereits zum Rücktritt des einst fast wie ein Diktator ge= bietenden Kriegsministers Mahmud Scheftet Pascha geführt, der seinerzeit die Gegenrevolution des jetzt entthronten Sultans niederwarf. Die Tragweite dieser Vorgänge läßt sich zurzeit noch nicht übersehen.

Gewerkschaftliche Rundschau.

H. B.

In kürzester Zeit ist die Statistik über die Gewerkschaften im Jahre 1911 zu erwarten. Sie wird uns genau und zahlenmäßig die Entwicklung unserer Organisationen aufzeigen und sicher eine starke Aufwärtsbewegung feststellen. Ihr ist die Statistitüber die Gewerkschaftskartelle vorausgegangen. Diese bringt zwar nur einen Ausschnitt aus der gewerkschaftlichen Betätigung zur Darstellung, gibt aber doch schon einen Maßstab für die Ent­widlung der Organisationen. So kann aus den Ergebnissen eben dieser Statistik der sichere Schluß gezogen werden, daß die Ge­werkschaften im vergangenen Jahre mindestens eine Viertelmillion neuer Streiter gewonnen haben. Die Zweigvereine des Ver­bandes der Hausangestellten, die bisher unter" son­stigen angeschlossenen Organisationen" geführt wurden, sind nun mehr den Gewerkschaften zugerechnet worden. Auch der Land­arbeiterverband wurde dieses Mal in die Statistik auf­genommen, nachdem eine nennenswerte Anzahl seiner Zweig vereine den Kartellen beigetreten ist. Im Jahre 1911 bestanden 707 Startelle, 23 mehr als im Vorjahr; ihnen waren 4261 Gewerk­schaften mit 2 160 728 Mitgliedern gegen 1892 953 im Vorjahr an­geschlossen. Den Startellen sind nur örtliche Aufgaben zugewiesen. Die wichtigste davon ist die Werbearbeit unter den Un= organisierten. 2324 allgemeine und 1107 Versammlungen für einzelne Berufe dienten diesem Zwed. 82 Kartelle haben zur Betreibung der Agitation unter den Arbeiterinnen und der Ver­tretung ihrer besonderen Interessen Arbeiterinnenagita tionstommissionen eingerichtet oder weibliche Ver trauenspersonen eingefeßt. Die Zahl dieser Kommissionen ist mit 17 sehr gering und hat gegen die früheren Jahre stark ab­genommen. Dagegen ist die Zahl der weiblichen Vertrauens­personen in den letzten Jahren erheblich gestiegen. 1911 waren in 77 Orten solche Beauftragte tätig. Neben der Agitation wenden die Kartelle in den letzten Jahren in wachsendem Maße ihre Tätigkeit den Bildungsbestrebungen zu. An 362 Orten bestehen Bildungsausschüsse, und 346 beträgt die Zahl der Ju­gendkommissionen, die wohl als ein Glied der Bildungs­bestrebungen betrachtet werden dürfen. Die Jugendkommissionen werden in den meisten Fällen wie auch die Bildungsausschüsse nicht von den Gewerkschaften allein, sondern in Gemeinschaft mit

Nr. 22

der sozialdemokratischen Partei unterhalten. Gerade für die Klä­rung und Vertiefung des Wissens, der theoretischen Erkenntnis des Proletariats muß das Wort gelten: Partei und Gewerkschaften sind eins! 547 Sartelle hatten gemeinsam Bibliotheken, 87 Lesezimmer, und an 52 Orten bestanden Referenten­nachweise. Zur Durchführung der Arbeiterschutzbestimmungen bestanden 135 Beschwerdekommissionen und 235 Bau­arbeiterschuhkommissionen. Es gab 67 Gewert schaftshäuser, 14 mehr als im Vorjahr. Herbergen in eigenem Betrieb unterhielten 31 Kartelle, in 322 Orten haben die Kartelle ihre Herbergen in Castwirtschaften, die ständig ihrer Kon­trolle unterstehen. Arbeitersekretariate wirkten an 102 und Rechtsauskunftstellen an 198 Orten. Angaben über Einnahmen und Ausgaben liegen von 675 Kartellen vor. Diese hatten insgesamt eine Einnahme von 1797 248 Mart, darunter allein 283 855 Mark als den Ertrag von Gammellisten für die ausgesperrten Tabakarbeiter, über 25 000 Mark haben die Kar­telle noch aus ihren eigenen Kassen hinzugefügt. Die gesamten Ausgaben beliefen sich auf 1 600 435 Mart. Die Kartelle haben die ihnen in der Gewerkschaftsbewegung zugewiesenen Aufgaben zum Nußen der Ausgebeuteten erfüllt. Die Statistik zeigt uns, daß in ihnen reges Leben herrscht, das für die Zukunft weitere tüchtige Leistungen erhoffen läßt.

Die Aussperrung der Metallarbeiter in Hannover nahm zwar nicht den von den Unternehmern gewünschten Umfang an, doch schwächte starker Zuzug Arbeitswilliger die Stellung der Streifenden. In wiederholten Verhandlungen stritten die Parteien hart um den Unterschied zwischen der Forderung der Arbeiter und dem Zugeständnis der Unternehmer in der Frage der Arbeitszeit­verkürzung. Die Arbeiter wollten die 56stündige Arbeitswoche haben, die Unternehmer nur die 57stündige bewilligen. Die Ver­handlungskommission der Arbeiter empfahl in Bersammlungen die Annahme der Unternehmervorschläge, da gegenwärtig nicht mehr zu erreichen sei und die eine Stunde Unterschied in der Woche größere Opfer nicht lohne. Auf die Versammelten blieb diese Auffassung jedoch ohne Eindruck, fie lehnten die Vorschläge ab. Schließlich ließen sich die halsstarrigen Unternehmer herbei, noch eine halbe Stunde Arbeitszeitverkürzung zuzugestehen, also die wöchentliche Arbeitszeit auf 562 Stunden festzusetzen, jedoch erst vom 1. Juli 1913 ab. Eine von 400 Vertrauensmännern besuchte Versammlung stimmte dafür, den Streikenden die Annahme dieses Kompromisses zu empfehlen. Nur mit sehr knapper Mehrheit nahmen die Arbeiter diese Vorschläge an. Neben der Arbeitszeit­berkürzung erhalten sie 3 Pfennig Stundenlohnerhöhung. Nach dreimonatelangem Kampfe ist dieses Ergebnis sicher nicht sehr be­friedigend. Immerhin ist es ein Erfolg, daß die verkürzte Arbeits­zeit in den Metallverarbeitungsbetrieben Hannovers allgemein ein­geführt wird. Dieses zähe Ringen zeigt, welch heiße und lang­wierige Kämpfe in der nächsten Zeit gerade für die Verkürzung der Arbeitszeit geführt werden müssen. Im Eisenhütten­werk in Thale a. Harz legten etwa 600 Proletarier die Arbeit nieder, weil der Unternehmer ihre geringen Forderungen ablehnte. Seit etwa 20 Jahren sind die Löhne dieser Ausgebeuteten nicht er­höht worden. Ein ungeheures Aufgebot von Gendarmen ist vor dem Walzwerk und in dessen nächster Nähe stationiert, um die wenigen Arbeitswilligen zu schützen und den Lohnsklaven die alte Lehre einzupauken, daß die Staatsgewalt das Werkzeug ihrer Feinde ist.

In der Görlizer Waggonfabrik dauert der Streik nun schon über ein Vierteljahr. Von den etwa 150 Streitbrechern, die geworben waren, stehen nur noch etwa 80 in Arbeit. Da diese Hingebrüder wie Apachen gehaust haben, so mußten manche von ihnen dem Protest der öffentlichen Meinung weichen und das Ge­biet ihrer verdienstvollen Tätigkeit anderswohin verlegen.- Im Hamburger Hafen ist nunmehr auch die Lohnbewegung der Seeleute zum Abschluß gebracht worden. Damit ist für sämtliche Hafenarbeiter die Lohnbewegung friedlich und erfolgreich beendigt. Der Unternehmerverband für das Baugewerbe rüstet fieberhaft für den Ablauf des nächsten Tarifvertrags im Früh jahr des kommenden Jahres. Wir haben an dieser Stelle schon er­wähnt, wie die Orts- und Bezirksvereine dieser Scharfmacher­organisation heben. Nun hat der Zentralverband an die ihm an­geschlossenen Verbände ein Rundschreiben erlassen, in der er daran erinnert, daß für das nächste Jahr eine große Bewegung im Bau­gewerbe zu erwarten ist. In den Gebieten, wo in den nächsten Mo­naten die Bautätigkeit ungünstig zu werden droht, sollen die Ver­bände nach seinem Rat die Behörden, Architekten und Industriellen darauf aufmerksam machen, daß möglicherweise im Sommerhalb jahr 1913 mit einer längeren Arbeitseinstellung gerechnet werden