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Die Gleichheit
pflege praktisch ausgebildet. Viele dieser Heime" beherbergen nur zwei bis drei oder vier Schwestern, in manchen anderen dagegen trifft man zwanzig und mehr Pflegerinnen an. Da es für die Unternehmerin vorteilhaft ist, recht viele Schwestern zu haben, so wird natürlich jede Bewerberin um den Eintritt aufgenommen. Ob die„ Schwestern" sich wirklich für die Krankenpflege eignen, kommt nicht ausschlaggebend in Betracht.
Fast tausend Pflegerinnen leben in Berlin allein in Bribatheimen, und davon ist sicher eine sehr große Zahl geradezu schändlicher Ausbeutung anheimgefallen. Gegen diese Ausbeutung den Kampf aufzunehmen, ist zweifellos dringend nötig, zumal da auch in zahlreichen anderen Orten Deutsch lands ähnliche Unternehmen mit den gleichen Mißständen aufgekommen sind. In dieser Hinsicht wird es sich zunächst darum handeln, die Öffentlichkeit aufzuklären. Für die Ausgebeuteten solcher Institute dürfte im Klagewege bei geschick ter Prozeßführung die Aufhebung der Verträge trotz ihrer raffinierten Abfassung durchzusetzen sein. Diese Verträge verstoßen zweifelsohne gegen die guten Sitten. Zu untersuchen wäre jeweils auch, ob ein Heim" die Vermittlung ausgebildeter" oder staatlich geprüfter" Pflegerinnen verspricht. Läßt sich dies genau feststellen und wird nachgewiesen, daß nicht entsprechend ausgebildete Schwestern zur Pflege hinausgeschickt werden, so liegt Betrug vor. Die betriebsame „ Oberin" spiegelt dann dem Publikum die falsche Tatsache vor, daß es ausgebildete& Personal bekommt. Nur für solches würden die Kranken die Pflegefäße von 5 Mt. täglich aufwenden. Werden entgegen der Ankündigung nicht ausgebildete Pflegerinnen entsandt, so ist eine Vermögensschädigung der Kranken gegeben. In diesem Falle würde sich zum Beispiel die nicht ausgebildete Schwester unwissentlich der Beihilfe zum Betrug schuldig machen. In vielen Fällen werden auch aus diesem Gesichtspunkt heraus Verträge wie die angezogenen leicht ungültig erklärt werden, weil sie gegen die guten Sitten verstoßen. Dem Publikum wäre zu empfehlen, in Fällen solcher Art rücksichtslos die Anzeige wegen Betrugs zu erstatten. Die öffentliche Meinung muß dann dafür sorgen, daß exemplarische Bestrafung betrügerischer Oberinnen eintritt. Dadurch dürfte anderen gleichgesinnten Seelen die Lust am Geschäft verdorben werden. Das liegt auch im Interesse der verdienstvollen guten Heime", die es zweifellos gibt. Bei dem heutigen Stand der Dinge kommen sie ohne ihr Verschulden in üblen Ruf und leiden außerdem unter der unlauteren Ronkurrenz.
Nicht vergessen darf übrigens werden, daß auch bei verschiedenen Orden und Verbänden die Ausnutzung der Krankenschwestern eine hochgradige ist. Allerdings wird hier der Tatbestand durch religiöse oder humanitäre Gesichtspunkte nicht selten so verschleiert, daß die frühzeitig Aufgeriebenen und Geopferten sich selbst nicht klar darüber werden, daß mit ihrer Kraft und Menschenliebe Raubbau getrieben wird, der zu vermeiden wäre. Wer die Macht religiöser Ideen und sozialer Organisationen kennt, der weiß auch, daß im Kampf gegen die Mißstände, unter denen die Krankenpflegerinnen leiden, die freien Schwestern vorausgehen und bessere Berufsbedingungen erringen müssen. Und da handelt es sich nicht am wenigsten darum, der schändlichen Ausbeutung zu Leibe zu gehen, der gerade so viele Pflegerinnen in privaten ,, Heimen" preisgegeben werden, die in Wirklichkeit nicht humanitäre Einrichtungen, sondern bloße kapitalistische Profitmühlen sind. Junge, unerfahrene Mädchen, die sich aus idealem Sinne dem Beruf der Krankenpflege zuwenden wollen, mahnen wir dringend, sich vor dem Eintritt in ein freies Heim" genau den vorgelegten Vertrag anzusehen oder ihn von sachkundigen Personen prüfen zu lassen. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Auch die kleidsamste Schwesterntracht entschädigt nicht für den vorzeitigen Zusammenbruch der Kraft und die herben Enttäuschungen, die unvermeidlichen Folgen gewissenloser, gewinnsüchtiger Ausnutzung.
P. M. Grempe.
Aus der Bewegung.
Nr. 25
130371 weibliche Mitglieder auf insgesamt 970 112 Organisierte zählte die deutsche Sozialdemokratie am 30. Juni 1912 laut Bericht des Parteivorstandes an den Parteitag zu Chemniz. Am gleichen Tage des Vorjahres betrug die Zahl der Parteimitglieder 836 562, darunter 107 693 weibliche; fie stieg mithin im letten Tätigkeitsjahr um 15,9 Prozent, und zwar die der Männer um 15,2 Prozent und die der Frauen um 21 Prozent. Außer in Posen, Görlik, im Saargebiet und in Meiningen wuchs die Zahl der Mitglieder in allen Agitationsbezirken, und zwar am stärksten in Chemnitz mit 43 Prozent. Im Verhältnis zu den Stimmen, die bei der letzten Reichstagswahl für die Sozialdemokratie abgegeben wurden, weisen die Bezirke des Nordwestens die höchste Zahl Organisierter auf. An erster Stelle steht Hamburg mit 44 Prozent, dann kommt Lübeck mit 40,8 Prozent und Schleswig- Holstein mit 39,8 Prozent. An letter Stelle stehen Posen mit 9,5 Prozent, Elsaß- Lo thringen mit 5,9 und Sattowiß mit 5,4 Prozent. Die Zahl der weiblichen Parteimitglieder ging nur in 5 Agitationsbezirken zurück, und zwar in Görlik, Kattowi, Hessen , Gotha und Sachsen- Meiningen . In 646 Orten sind nunmehr Frauen als Vorstandsmitglieder tätig. Die Zahl der Abonnenten der„ Gleichheit" hat im Berichtsjahr das erste Hunderttausend überschritten, sie stieg von 94 500 auf 107 000. Auch die Jugendbewegung schreitet vorwärts. Die Zahl der Abonnenten der„ Arbeiterjugend" hob sich von 65 500 auf 80 100, und Jugendausschüsse, die im vorigen Jahre in 454 Orten bestanden, gibt es jetzt in 574 Orten.
Von der Agitation. In Celle hielt die Unterzeichnete im Auftrag der Leitung des Wahlvereins Ende Juni in einer Frauenmitgliederversammlung einen Vortrag über:„ Die Frau in der politischen Organisation." Ihre Ausführungen und Anregungen fanden die volle Zustimmung der Genossen und Genossinnen. Künftig sollen in Celle regelmäßig monatliche Frauen= bildungsabende stattfinden. Außer durch den„ Volkswillen" für Hannover und Umgegend sollen die Genossinnen zu diesen Veranstaltungen durch eine weibliche Bestellkommission eingeladen werden, die mit den Einladungen eine Werbearbeit für die„ Gleichheit" und den„ Volkswillen" verbindet. Ferner werden zur Belebung der proletarischen Frauenbewegung alle zwei bis drei Monate öffentliche Frauenversammlungen stattfinden.
In Hamburg II sprach die Unterzeichnete in zwei Frauenagitationsversammlungen, und zwar in Uhlenhorst über:„ Die staatsbürgerlichen Rechte der Frau" und in Eppendorf = Winterhude über:„ Die seruelle Erziehung in Schule und Haus". In Uhlenhorst waren ungefähr 100, in& ppendorf- Winterhude 150 Genossinnen erschienen. Daß ge= rade über die sexuelle Aufklärung der Kinder allseitig Vorträge gewünscht werden, beweist, wie stark die Frauen die Lücke und die falschen Maßnahmen im heutigen Erziehungssystem auf diesem Gebiet empfinden.
e. g.
Aus den Organisationen. Daß es in Zittau i. S. vorwärts geht, hat die am 21. Juli abgehaltene Kreiskonferenz des ersten sächsischen Reichstagswahlkreises bewiesen. Mit Genugtuung konnte der Vorsitzende der Zahlstelle Zittau feststellen, daß diese Tagung ein Ereignis für die Frauenbewegung im Kreise bedeute, da zum erstenmal Frauen an einer solchen Konferenz teilnähmen. Und zwar waren es die Zahlstellen Zittau , Reichenau und Leutersdorf , die weibliche Delegierte entsandt hatten. Im ganzen Kreise sind nach dem Bericht des Kreisvorsitzenden 94 Frauen politisch organisiert. Eine geringe Bahl gewiß- un gefähr nur 5 Prozent der Gesamtmitgliedschaft, aber doch immerhin ein Keim, der sich weiter entwickeln wird. Einem Antrag des Kreisvorstandes, den Frauen die„ Gleichheit" ab 1. Oftober dieses Jahres zu liefern, wurde von verschiedenen Seiten die Forderung entgegengestellt, die Zeitschrift schon ab 1. August einzuführen. Nach langer Debatte wurde der 1. Oktober 1912 als Einführungsdatum festgesetzt. Hoffentlich machen die organisierten Frauen die Bedenken einiger Genossen gegenstandslos, die darin gipfelten, daß den Frauen bei ihrer großen Arbeitslast sehr wenig Zeit zum Lesen der„ Gleichheit" übrig bleiben würde. Mit der großen Arbeitslast hat es leider gewiß seine Richtigkeit. Jedoch trotzdem muß von den Genossinnen das Blatt gelesen werden, das für sie geschaffen worden ist. Es ist ihnen als Leitfaden für ihre Arbeit, für die Werbung neuer Mitglieder und die Weiterbildung der gewonnenen unentbehrlich. Um den Frauen ein tieferes Eindringen in den Sozialismus zu ermöglichen, sollten Artikel der„ Gleichheit" bei den Frauenzusammenkünften durchgesprochen werden,