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Die Gleichheit
wickelten Hamburger Arbeiterbildungswesen, mit dem sich auch nicht entfernt messen kann, was in Berlin auf diesem Gebiet existiert. Gibt es doch hier bis zum heutigen Tage noch keinen Zentralbildungsausschuß. Daß man aber auch in Berlin mit der Bassivität in Bildungsfragen endlich brechen will, beweisen nicht nur die Gründungen von Bildungskommissionen in einzelnen Wahlkreisen und Vororten, sondern auch der von allen Kreisen einstimmig angenommene Antraganden Chemnizer Parteitag :„ Der Parteivorstand möge besondere Maßnahmen treffen, um die den Ausnahmebestimmungen des Vereinsgesetzes nicht mehr unterstehenden Jugendlichen in der Zeit vom 18. bis 21. Lebensjahr für die Sozialdemokratie zu gewinnen." Wird dieser Antrag, wie zu erwarten steht, vom Parteitag angenommen, so werden alle Bemühungen der Geschorenen und Gescheitelten, der Befracten und Uniformierten wirfungsloser wie bisher an dem Willen der Arbeiterklasse zerschellen.
Dazu muß man sich aber der Größe und Schwierigkeit der gestellten Aufgabe bewußt sein. Geld allein tut's freilich nicht, sonst müßten die aus staatlichen Mitteln erhaltenen Jugendvereine glänzend gedeihen. Es bedarf der ganzen mühe- und opferbereiten Hingabe eines Menschen an die Jugendarbeit und einer gründlichen Vorbereitung auf sie. Die Zentralstelle hat einen Kursus eingerichtet für die systematische Ausbildung von Funktionären für die Jugendbewegung. Was will aber dieser eine Kursus besagen, zu dem 30 Funktionäre aus dem ganzen Reiche zugelassen werden, wenn Städte wie Berlin , Hamburg , Leipzig und andere jede für sich allein nicht nur einen, sondern mehrere solcher Kurse haben müßten? Hoffentlich bedeutet dieser erste Kursus, der im Oktober stattfindet, nur den Anfang einer langen Reihe von folgenden Veranstaltungen.
Arbeitsfreudige Parteigenossinnen und Genossen sind in stets wachsender Zahl überall vorhanden; es bedarf nur noch des gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens, um auch bei den gegenwärtigen schwierigen Zeitumständen vorwärts und aufwärts zu gehen! Mathilde Wurm .
Die Frau in der Industrie und Landwirtschaft Württembergs.
Schlußkapitel.
Nur einige der Berufe und der Berufsabteilungen, die die weibliche Arbeitskraft in größerem Maße beschäftigen, konn ten in den vorhergehenden Beiträgen furz behandelt werden, etliche sind gar nur flüchtig gestreift worden. In Wirklichkeit ist das Gebiet der Frauenarbeit in Württemberg weit größer, als die Statistik es erscheinen läßt. In der Landwirtschaft und in fast allen Gewerben tritt die Frau als Mitarbeiterin des Mannes oder als seine Konkurrentin auf. Dazu kommit das Heer der weiblichen Dienst boten, die im Hause der Herrschaft wohnen, 45 205 an der Zahl. Daß ein Teil von ihnen nicht nur häusliche Dienste verrichtet, sondern auch bei gewerblichen Arbeiten der Herrschaft mit Hand anlegen muß, kann man fast jeden Tag beobachten. Es wäre eine dankenswerte Aufgabe, das zum Teil noch sehr lückenhafte Material über die Frauenarbeit in Württemberg zu ergänzen, es durchzuarbeiten und die sich daraus ergebenden Fragen gründlich zu behandeln. Eine solche Arbeit läßt sich nicht in einigen Artikeln oder in einer kleinen Broschüre bewältigen. Aber immerhin fann man einige allgemeine Schlußfolgerungen und Lehren aus den von uns mitgeteilten Tatsachen ziehen.
Die weibliche Arbeitskraft ist zu einem unentbehrlichen Bestandteil des Wirtschaftslebens in Württemberg geworden, und zwar mehr noch als in manchen anderen Bundesstaaten Deutschlands . Man denke sich hier die Frau aus der Landwirtschaft weg! Das Ackerland würde zum großen Teil veröden, Dornen und Disteln würden wachsen, wo jetzt die Hack
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frucht grünt und das Korn reift. Die Textilindustrie müßte in dem Augenblick zusammenbrechen, da man ihr verwehrte, Arbeiterinnen zu verwenden. Die Edelmetallindustrie, die Papierindustrie, das Handelsgewerbe und noch eine große Anzahl Wirtschaftsgebiete sind heute in Württemberg undenkbar ohne die Arbeitskraft der Frau. Auf dem Acker bei Wind und Wetter und hinter dem Gespann, im staubigen Fabriksaal, in der Dachkammer an der Nähmaschine, hinterm Ladentisch , am Krankenbett, bei verstaubten Folianten in den Bibliotheken und hinter den Retorten im chemischen Laboratorium: überall ist die Frau am Werk, das Wirtschaftsgetriebe im Gange zu halten, Mehrwert für das Kapital zu erzeugen. Was uns nährt und kleidet, schützt und ergözt, alles hat die Frau mit geschaffen, an allem klebt auch Frauenschweiß und nicht selten Frauenblut. Die Frau lebt und webt in dem kapitalistischen Produktionsprozeß und muß alle feine grausamen Folgen tragen. Heim und Kind muß sie hinter sich lassen, um dem Kapital zu fronden. Die Maschinenarbeit mit ihrer Spezialisierung und Vereinfachung der menschlichen Arbeit hat ihre Ausbeutung rentabel gemacht, hat das Arbeitsgebiet des Mannes eingeschränkt und den fapitalistischen Hunger nach weiblichen Händen" derart gesteigert, daß er kaum zu befriedigen ist. Was fragt das Kapital nach Familie und Kind der Proletarierin, was nach ihrer Bildungssehnsucht? Mag die Mutter sehen, daß sie ihr Kleines in einer Krippe oder bei fremden Leuten unterbringt; mag die Straße seine Heimat werden. Das Unternehmertum braucht die Arbeitskraft der Mutter, um Mehrwert daraus zu pressen, und damit basta! Von 1895 bis 1907 hat sich die Zahl der verheirateten Arbeiterin nen im Gewerbe Württembergs mehr als verdoppelt, sie stieg von 5413 auf 12 488.
Die Frau wird in der kapitalistischen Fron mit Peitschen gezüchtigt, die Mutter mit Skorpionen. Schon das Kind unter dem Herzen der erwerbstätigen Proletarierin muß hungern. Die Arbeit an der Maschine, am Webstuhl, auf dem Felde verzehrt die Kraft der Frau bis zur Erschöpfung. Was bleibt da für den werdenden Menschen? Giftige Dämpfe verseuchen das Blut der Mutter und damit das des Kindes. Ein dem Tode oder Siechtum geweihtes Geschöpf kommt zur Welt. Unzureichende Nahrung und elende Wohnungsverhältnisse lassen die Säuglingssterblichkeit in den Arbeiterquar tieren bis auf 35 Prozent der Geburten steigen und noch darüber hinaus. Wohl sucht die Gesezgebung Mutter und Kind vor den Folgen der Fabrifarbeit etwas zu schützen. Eine Ruhezeit von acht Wochen schreibt sie für Schwangere beziehungsweise Wöchnerinnen vor. Aber die Not ist stärker als der Gesetzesaft. Der württembergische Gewerbeinspektionsbericht für 1910 meldet:
Die Arbeiterinnen ihrerseits haben den erweiterten Wöchnerinnenschuß mit recht gemischten Gefühlen begrüßt. Wohl ist ihnen die längere Pflegezeit für Wöchnerinnen erwünscht, aber sie können doch nicht verstehen, daß denselben zugemutet werden kann, acht Wochen von der Arbeit wegzubleiben, solange die Krankenkasse nur zu einer sechswöchigen Unterstüßung verpflichtet ist. Wurde doch schon vorher von Wöchnerinnen öfters geklagt, daß sich die Arbeitersfrau bei der nur knapp bemessenen Unterstützung nicht die notwendige Pflege und Erholung gönnen dürfe. Und nun noch nährend vierzehn Tagen vollständiger Verdienstausfall! Infolgedessen versuchen schwangere Arbeiterinnen möglichst bis kurz vor der Niederkunft zu arbeiten, damit sie, weil dieser Zeitpunkt nicht genau vorausbestimmt werden kann, ja nicht in die Lage kommen, mehr als zwei Wochen vorher und somit im ganzen mehr als acht Wochen aussehen zu müssen. Manche Frau bekannte auch ganz offen, daß sie nach Ablauf der Unterstüßungszeit unter allen Umständen wieder zur Arbeit greifen müsse; werde sie in der Fabrik nicht angenommen, so nehmen sie Stelle als Wasch- und Buzzfrau an. Für die Heimarbeiterinnen und ländlichen Proletarierinnen fehlt auch dieser unzulängliche Schutz gegen die Ausbeutung. Was die Reichsversicherungsordnung an sozialer Fürsorge für Mutter und Kind gebracht hat, erweist nur das böse Gewissen und den schlechten Willen der herrschenden