Nr. 26
Die Gleichheit
Klassen. Ist das Kind unter Qualen und Entbehrungen geboren, hat der Tod versäumt, die zarte Menschenknospe vor der Zeit zu knicken, so steigert sich noch die Qual der Mutter. Sie ist gezwungen, das Heim verfallen, den Herd erkalten zu lossen. Jede Tiermutter kann ihre Kleinen pflegen und behüten, doch die Proletariermutter kann es nicht.
Fast am schlimmsten ist das Los der Heimarbeiterin. Der elende Lohn zwingt sie nicht nur selber, unmenschlich lange zu schuften, die Nacht zum Tage zu machen, oft genug muß sie auch ihre Kinder schon in der frühesten Jugend ins Arbeitsjoch spannen, muß ihnen Jugendfreude und Sonnenschein rauben. Um ein Stückchen Brot! Der Jahresbericht der Gewerbeaufsichtsbeamten Württembergs für 1910 zeichnet davon folgende erschütternde Bilder:
In der Textilindustrie bestand die in den Oberämtern Nürtingen und Urach erhobene Kinderarbeit vorwiegend in der Ausfertigung, das heißt dem Abschleifen, Zusammennähen und Umhäkeln von Kinderjädchen. Die Lohnfäße betragen für das Abschleifen und Zusammennähen von 1 Dutzend Jäckchen je 10 Fis 12 Pf., für das Umhäkeln 25 bis 30 Pf.; hierbei ist aber an jedem Jäckchen dreimal um den Hals, zweimal um die Ärmel und einmal um das ganze Jäckchen zu häkeln. Ein Kind von etwa 12 Jahren kann nach ein- bis zweijähriger Übung einen Kittel, das Dußend zu 30 Pf., in einer halben bis dreiviertel Stunden umhäkeln, darf aber hierbei kaum von der Arbeit aufsehen...
Im Bekleidungsgewerbe wird die meiste Kinderarbeit in der Endschuhmacherei sowie in der Korsett- und Arbeiterkleiderfabrifation geleistet. Diese Industrien finden sich in den Oberämtern Balingen , Gmünd, Tübingen und Urach . Beim Endschuhmachen, das vorwiegend in abgelegenen Gegenden, zum Beispiel auf dem Heuberg, betrieben wird, beteiligen sich vielfach schon sieben- und achtjährige Kinder, selbst fünf- und sechsjährige versuchten schon zu arbeiten. Das Material( Tuchabfälle) stellt der Arbeitgeber, der in der Regel nur Heimarbeiter beschäftigt. Das Zuschneiden der Ware in schmale Streifen erfolgt durch die Mutter, das Flechten ( auf Holzformen) besorgen die Kinder. Der Lohn für ein Paar Kinderschuhe beträgt 4 bis 6 Pf., für ein Paar Frauenschuhe bis zu 10 und 12 Pf. Ein geschicktes Kind kann ein Paar Kinderschuhe in dreiviertel Stunden fertig bringen...
Die Kinderarbeit in Gruppe VI( Maschinen, Werkzeuge, Instrumente) betraf Beschäftigung der Kinder für die Uhrenindustrie des Schwarzwaldes, meist Spindelstecken, wobei für 100 Spindeln, ir. welche je 6 bis 10 fleine Stifte zu stecken sind, 7 bis 10 Pf. be= zahlt werden. Zu dieser wenig lohnenden, mühsamen Arbeit werden schon fünf- bis sechsjährige Kinder herangezogen. Denn nur dadurch, daß dieses Stecken von klein auf betrieben wird, erreicht manches Kind eine solche Fertigkeit, daß es in fünfviertel bis anderthalb Stunden 600 bis 1000 Stifte stedt. Die jüngeren Kinder fassen die Stiftchen mit ihren Fingerchen, die älteren verwenden hierzu zängchen...
Mit anerkennenswertem Freimut weist der Gewerbeinspektionsbericht auf die Ursachen dieser grauenhaften Kinderfflaberei hin und bekennt zugleich die Ohnmacht der heutigen Gesellschaft, gegen diese Schande, dieses Verbrechen anzufämpfen. Er schreibt:
Da, wo das Lohneinkommen der Eltern selbst für die notwen= digsten Lebensbedürfnisse nicht ausreicht und leider sind diese Fälle bei zahlreicher Kinderschar, auch wenn Vater und Mutter dem Erwerb nachgehen, nicht vereinzelt, wird auch die gesetzwidrige Nachtbeschäftigung der Kinder nicht auszurotten sein, solange nicht eine Hebung der wirtschaftlichen Lage eintritt. Ebensowenig ist auch bei nicht zahlreicher Familie Aussicht auf Einhaltung des Kinderschutzgesetzes vorhanden, wenn der Vater krank oder die Mutter Witwe ist und der Kampf um das tägliche Brot dazu zwingt, die Kinder zu zu langer Arbeit anzuspornen. Die Beamtinnen ließen es sich angelegen sein, Ortsvorsteher und Geistliche auf unterstützungsbedürftige Familien aufmerksam zu machen. Ob aber mit den für Unterstüßungszwecke bisher zur Verfügung stehenden Mitteln auch nur der augenblicklichen Not gesteuert werden kann, bleibt fraglich.
Das sind keine Ausnahmezustände, wie man früher gern behauptete. Wir lesen in dem Gewerbeinspektionsbericht für 1911:
Die größtenteils auf 1. Dezember des Berichtsjahres eingekom menen Listen der Schulen ergeben die so sehr erwünschte Übersicht
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der Kinderarbeit in Württemberg , die viel weiter verbreitet und von größerem Umfang ist, als bis jetzt angenommen wurde. Es werden in den Listen rund 13 000 Kinder als gewerblich beschäftigt aufgeführt. Aus den Aufstellungen ist ersichtlich, daß in den Städten die Heranziehung von fremden Kindern eine sehr starke ist und daß insbesondere bei diesen Kindern die Bestimmungen des Gesetzes meist umgangen werden...
Die Folgen solcher Zustände machen sich nur zu deutlich bemerkbar. Die Jahresberichte des Stuttgarter Stadtarztes, des Schularztes von Gmünd und anderer ärzte zeigen die verheerenden Wirkungen, die die kapitalistische Produktionsmeise mit ihren Begleiterscheinungen auf die proletarische Jugend ausübt. Von 14 352 Volksschülern Stuttgarts , die der Schularzt im Jahre 1909/10 untersuchte, war nur ein Fünftel ausreichend genährt, von 9890 Stadtfindern 18,6 Prozent, von 4435 Vorortskindern 20,8 Prozent. Bei mehr als 3000 Kindern, 23,3 Prozent der Stadtkinder, 20,1 Prozent der Schüler aus den Vororten, wurde Unterernährung, chronischer Hunger festgestellt.
Nicht nur ihre Arbeitskraft und die ihrer Kinder muß die Frau und Mutter dem Kapital ausliefern. Auch ihre Gesundheit, ihre Gliedmaßen, vielleicht ihr Leben verlangt dieses als Opfer. Die gewerbliche Unfallstatistik für 1910 verzeichnete im ganzen Deutschen Reiche 2811 schwere Betriebsunfälle erwachsener Arbeiterinnen und 280 von weiblichen Jugendlichen. Die Süddeutsche Tertilgenossenschaft allein meldete 105 schwere Unfälle von erwachsenen und jugendlichen Arbeiterinnen. In der Landwirtschaft fallen aber auf dem Schlachtfeld der Arbeit noch bei weitem mehr weibliche Opfer. Von 1899 bis 1910 stieg in ihren unfallversicherungspflichtigen Betrieben die Zahl der schwerverletzten erwachsenen Arbeiterinnen von 14526 auf 17167, die der weiblichen Jugendlichen, auf die dies Los fiel, von 422 auf 566. An der Gesamtzahl der schweren Unfälle in der Landwirtschaft waren die erwachsenen Arbeiterinnen im Jahre 1899 mit 28,3 Pro. zent beteiligt, im Jahre 1910 jedoch mit 30,5 Prozent. Bei der geschilderten Entwicklung der Frauenarbeit in Württemberg ist es mit Händen zu greifen: wie die Proletarierinnen des Landes ihren Teil an der kapitalistischen Produktion von Reichtum haben, so auch an der kapitalistischen Produktion von Krüppeln. Und zwar, wie die Dinge liegen, gerade auch auf dem Gebiet der landwirtschaftlichen Arbeit. Die Frau ist wie der Mann ,, reif" geworden, ihr Blut auf dem Schlachtfeld der Arbeit zu versprißen, sollte sie da nicht auch ,.reif" für politische Rechte sein?
Wie nun hat die kapitalistische Entwicklung mit all ihrer Not und Sorge, mit Entbehrungen und Hunger, mit dem Hinausgestoßenwerden ins gesellschaftliche Leben auf den Charakter der Frau eingewirkt? Das weibliche Proletariat verroht," sagt das honette Bürgertum ,,, die verbrecherischen Neigungen haben auch unter den Frauen zugenommen." Die Wissenschaft stellt dazu anderes fest. Der Berliner Landgerichtspräsident Geheimer Oberjustizrat Lindenberg veröffentlichte in der Deutschen Juristenzeitung" vom 1. März 1912 eine Statistik über den Anteil des weiblichen Geschlechtes an den Verbrechen oder Vergehen gegen die Reichsgesetze. Danach kamen auf 100 Verurteilte im Jahre 1864 18,6 Frauen und Mädchen, im Jahre 1909 15,8. In der Zeit von 1884 bis 1909 ging der Prozentsatz der weiblichen Verurteilten zurück; bei Verbrechen und Vergehen gegen die Person von 15,3 auf 14,6, gegen das Vermögen von 24,3 auf 17,6. Dafür haben allerdings die Sünden der Frau auf einem anderen Gebiet erheblich zugenommen. Im Jahre 1884 waren unter 100 Verurteilten, die sich gegen den Staat, die öffentliche Ordnung oder die Religion vergangen hatten, 9,5 Frauen, 1909 jedoch 14. Aber beweist das etwa wirklich eine zunehmende Verrohung des weiblichen Proletariats"? ist nicht die Gefahr, mit allerlei Gesezesbestimmungen in Konflikt zu kommen, für die in das wirtschaftliche und