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Die Gleichheit

über verschiedene Geschäfte verhängt, die mit Arbeiterkleidung handeln, die in der Heimarbeit angefertigt wird. Einer der vom Bohlott betroffenen Geschäftsleute erhob Klage mit der Begrün­dung, daß dieser Boykott wider die guten Sitten verstoße. Der höchste deutsche Gerichtshof sprach auch wirklich eine Verurteilung aus. Kennzeichnend für das soziale Verständnis unserer höchsten Richter ist vor allem die gänzlich haltlose Begründung des Urteils. Zuerst muß das Reichsgericht in diesem zugeben, daß die Heim­arbeit mit schweren übeln verbunden ist, daß in ihr schlechte Löhne gezahlt, Kinder schon in frühestem Alter zur Arbeit herangezogen werden und die Arbeitsräume, weil sie zugleich als Koch-, Schlaf­und Wohnräume dienen, unhygienisch sind. Dann aber erklärt es, daß die Heimarbeit eine Erwerbsmöglichkeit für viele Arbeiter und Arbeiterinnen bietet, namentlich aber für solche, die sich nicht im Vollbesitz ihrer Arbeitskraft befinden. Eine Abschaffung der Heimarbeit werde allen in ihr beschäftigten Personen schwersten Eintrag tun. Wegen dieser einander entgegenstehenden Interessen, die auf beiden Seiten schußwürdig seien, müßten Gesetzgeber und Verwaltungsbehörden mit der größten Behutsamkeit und Zurüd­haltung an die Regelung der Heimarbeit herangehen. Es wäre unerträglich und deshalb sittlich unerlaubt, wenn eine Gruppe einseitig Beteiligter es unter­nehmen wollte, so bedeutungsvolle und weit­tragende Fragen der Wirtschaftspolitik vermöge der in ihre Hand gegebenen Machtmittel zum Schaden anderer Voltsteile auf dem Wege des 3wanges und der Geschäftssperre gewaltsam auszutragen. Bis zu den Ohren der hohen Herren in Leipzig scheint der Lärm der tausendfachen Kämpfe vieler Bevölkerungs­schichten um sozialen Schuh noch nicht gedrungen zu sein. Fast alle Bevölkerungsschichten bis zu den akademischen Ständen hin­auf kämpfen um die Beseitigung beruflicher Übelstände und wenden dabei auch das Mittel der Selbsthilfe an. Nur sehr wenige be­siken die selbstzufriedene Nachtwächtertugend oder können warten, bis der Vater Staat mit größter Behutsamkeit und Zurückhal­tung" für sie etwas tut. Wenn wie in diesem Urteil ausge­sprochen ist organisatorische Selbsthilfe verboten sein soll, dann müßten nicht allein die Gewerkschaften ihre Tätigkeit völlig ein­stellen, sondern jedes Bestreben irgendwelcher sozialer Schichten müßte aufhören, ihre Lage unter Anwendung irgend welcher or­ganisatorischer Mittel zu verbessern. Die soziale Selbsthilfe wäre erwürgt und alles würde mit verklärtem Blicke zum Regierungs­himmel emporbliden, von dem die soziale Besserung kommen soll. Nun sind aber die Fortschritte der Sozialpolitik nicht durch das Vorangehen des Staates erreicht worden, sondern erst durch den Druck der vorwärtsdrängenden Arbeiterbewegung. Und zur Be= feitigung sozialer übelstände haben die Betroffenen nicht nur das Recht, sondern sogar die sittliche Pflicht, auf dem Wege der Selbst­hilfe vorzugehen.

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In der Nahrungsmittelbranche muß die Arbeiterschaft gerade jetzt wieder Gebrauch von der Waffe des Boykotts machen. Die Ratesfabrik von Harry Trüller in Celle verweigert ihren Arbeitern gerechte Arbeitsbedingungen, und der Inhaber wies jede Vermittlung zurück, auch die des Generalsekretärs der Konfumbereine, dessen Lieferant die Firma ist. Wir haben bereits früher auf den Fall und die Pflicht der Proletarier hingewiesen. Gleichfalls muß der Boykott verhängt werden über die Firma Heine& Co. in Halberstadt , Spezialfabrik für Halber­städter Würstchen. Hier werden den Fleischergesellen bescheidene Forderungen abgeschlagen. Dabei soll die Fabrif im letzten Jahre 360 000 Mt. überschuß erzielt haben. Auch hier wurde die Vermitt­Iung des Sekretärs der Konsumbereine abgelehnt.

Die Bremer Tabatarbeiter haben den Fabrikanten eine Forderung auf zehnprozentige Lohnerhöhung eingereicht. Eine Antwort steht noch, aus.

Die bürgerliche Presse berechnet zurzeit mit großem Fleiße die Kosten des lebten Bergarbeiterausstandes und ermangelt nicht, daraus weise Schlußfolgerungen für die Arbeiter zu ziehen, deren Wohl ihr ja so sehr am Herzen liegt. Nach den Angaben des Oberbergamtes in Dortmund ist für die Berg­Teute, die an diesem großen zehntägigen Streik beteiligt waren, ein Lohnausfall von beinahe 42 Millionen Mark entstanden. Dazu kommen noch 47/10 Millionen Mark Lohnverlust aus den Strafschichten. Der Schaden, der den Grubenbesitzern aus der ver­minderten Kohlenbeförderung erwuchs, wurde noch nicht ange­geben. Und zahlenmäßig nicht zu erfassen ist der Verlust, den die Industrie infolge Kohlenmangels erlitten hat. Groß ist natürlich das Gewimmer über den frivolen Streik", durch den die Arbeiter geschädigt wurden, und über den Schaden am Nationalreichtum".

Nr. 26

Die Arbeiter danken für dieses heuchlerische Mitleid. Es bestätigt ihnen nur, daß ein gut organisierter Kohlengräberstreit die nach­haltigste Wirkung auf unser Wirtschaftsleben und die bürgerliche Gesellschaft auszuüben vermag, und daraus werden sie die richtige # Nuzanwendung schon zu ziehen wissen.

Aus der Tegtilarbeiterbewegung. Im Frühjahr d. J. wurde in den Göppinger Buntwebereien eine Lohnbewegung geführt, die den Webern neben anderen Zugeständnissen eine Lohnerhöhung von 1,20 Mt. in der Woche brachte. Die Arbeite= rinnen mußten damals ihre Forderungen fallen lassen, da sie zu mangelhaft organisiert waren. Bei der Firma Buzz& Söhne wurden die Forderungen der Arbeiterinnen später wieder auf­genommen. Die Firma machte jedoch keine Zugeständnisse, und die Arbeiterinnen traten, nachdem sie vorher gekündigt hatten, am 17. August in Streit. Einige Tage später erschien in allen acht Göppinger Buntwebereien folgender Anschlag:

am

Die Rollerinnen und Spulerinnen der Firma Buzz& Söhne dahier haben bei derselben Forderungen auf Erhöhung der be­stehenden Lohntarife gestellt. Diesem Verlangen ist die Firma nach bester Möglichkeit nachgekommen. Trotzdem sind 17. August die Rollerinnen und Spulerinnen in den Ausstand ge= treten, wodurch die Firma zu einer erheblichen Einschränkung des Betriebs gezwungen worden ist. Die ausständigen Arbeite­rinnen werden vom Deutschen Textilarbeiterverband unterstützt. Unter diesen Umständen sehen sich die übrigen Buntwebereien, insbesondere unsere Firma, außerstande, diejenigen Arbeiter weiter zu beschäftigen, welche dieser Organisation angehören und hierdurch zur Unterstüßung der zu Unrecht im Ausstand verhar­renden Arbeiterinnen indirekt beitragen. Zur Durchführung der Aussperrung der im Verband deutscher Textilarbeiter Organi­sierten werden wir am 31. dieses Monats zunächst unseren sämt­lichen Arbeitern in der durch die Arbeitsorduung vorgeschriebenen Form fündigen. Wir sind aber bereit, soweit technisch nötig ist, diejenigen Arbeiter, welche uns in glaubwürdiger Weise durch Unterschrift erklären, der fraglichen Organisation weder jetzt an­zugehören, noch ihr seit dem 1. Januar 1912 angehört zu haben, weiter zu beschäftigen, ihnen gegenüber die Kündigung als ge­schehen(?) zu betrachten. Soweit die Weiterbeschäftigung solcher Arbeiter nicht möglich sein sollte, werden wir dieselben auch ohne Anerkennung einer Rechtspflicht angemessen unter­stützen. Unsere Kündigung ist hinfällig, falls und sobald die Diffe­renzen bei W. Buzz& Söhne geendet sein werden. Göppingen , 29. August 1912.

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wenn

NB. Die oben erwähnten Erklärungen nehmen wir schon von heute an auf unserem Kontor entgegen."

Sind die Forderungen der Arbeiterinnen vielleicht so schwin­delnd hohe, daß die Firma sie nicht bewilligen konnte und daß sie einen Aussperrungsbeschluß der Göppinger Unternehmer recht­fertigten? Durchaus nicht! Die Arbeiterinnen fordern kaum eine Mark Lohnerhöhung in der Woche. Wir machen aber auch gar nicht in erster Linie die Göppinger Fabrikanten für den Aus­sperrungsbeschluß verantwortlich. Diese Herren, die sich vor den Arbeitern bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit so gern als die Herren im Hause" aufspielen, sind ja schon längst in Lohnfragen als bestimmende Faktoren in ihren eigenen Be­trieben ausgeschaltet. Da haben sie nichts tau seggen". Der Verband süddeutscher Textilarbeitgeber mit dem Sitz in Augsburg ist es, der in diesem Falle scharf macht und die Aussperrung verfügt. Es ist ein heiliger Grundsah dieser Unternehmerorganisation, die Löhne und besonders die der Ar­beiterinnen auf dem möglichst niedrigsten Stand zu halten. Nach neueren Meldungen beabsichtigen die Augsburger Scharfmacher, die Aussperrung über ganz Württemberg auszudehnen. Welche Gewissenlosigkeit von diesen Ausbeutern, eine solche Aus­sperrung wegen einer Forderung zu verfügen, die im Jahre kaum 1000 Mt. Mehrkosten verursachen dürfte und die das Gedeihen der Firma Bub& Söhne nicht im mindesten beeinträchtigt. Dieser Beschluß ist ein Schlag gegen die Organisation der Arbeiter. Nur die Organisierten sollen ausgesperrt werden. Das Koalitionsrecht der Arbeiter will man niedertreten. Viel Glück, ihr Herren! Wir fürchten euch nicht! Die Arbeiterinnen mögen es sich aber gesagt sein lassen: sie dürfen jetzt auch keinen Augenblick länger ihrer Organisation gleichgültig gegenüberstehen. Wenn es nach dem Willen der Unternehmer geht, werden sie stets nur als Arbeits­tiere, niemals aber als Menschen behandelt werden. Aus den fämpfenden Arbeiterinnen der Firma Buzz& Söhne muß fich) jetzt eine Sturmtolonne bilden, sie müssen ihre Arbeitsschwestern in den Wohnungen aufsuchen, sie aufflären und für den Verband