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Die Gleichheit
teilnehmen, wie an jeder Volksabstimmung über Schulangelegen heiten. Das neue Gesetz verleiht den Frauen das Recht, in alle Ämter gewählt zu werden, die mit dem Schulwesen in Verbindung stehen, es sei denn, daß die Verfassung diese dem männlichen Geschlecht vorbehalten hat. Wie man aus den angeführten Bestimmungen ersieht, ist weder das passive noch das aktive Wahlrecht der Frauen in Schulsachen ein wirklich demokratisches. Insbesondere ist das Stimmrecht so weitgehend es erscheint, zumal im Vergleich zu dem früheren durch die Klauseln über staatliche Zugehörigkeit, Wohnort und Elementarbildung nach unten zu und gegen Einwandernde sehr beschränkt. Nicht alle geschaffenen Wählerinnen des Staates Kentucky gehen am gleichen Tage zur Urne. Die Gemeinden sind nämlich nach ihrer Größe usw. in vier Klassen geteilt, von denen zunächst nur die erste im August neue Schulräte wählt. Sie umfaßt die Kommunen in den ländlichen Unterbezirken, und in vielen davon steht gleichzeitig die Frage zur Entscheidung durch Abstimmung, ob eine bestimmte lokale Schulsteuer die erhoben werden soll. In der zweiten Klasse der Gemeinden der kleineren Städte werden die Frauen in diesem November zum erstenmal unter dem neuen Gesetz wählen, in der dritten und vierten Klasse erst im November 1913.
Die Frau in öffentlichen Aemtern.
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Eine Frau als Verteidigerin eines Soldaten vor Gericht. Ihren ersten Prozeß hat Teresa Labriola geführt, die Tochter unferes verstorbenen Parteigenossen Professors Antonio Labriola , die nach beendeten juristischen Studien zur Praxis als Rechtsanwalt zugelassen ist. Der Oberstaatsanwalt hatte freilich Einspruch erhoben gegen ihr Recht, vor den römischen Gerichten als Rechtsanwalt aufzutreten. Bemerkenswert ist, daß Teresa Labriola ihre erste Verteidigungsrede vor einem Militärgericht zu halten hatte. Sie verteidigte einen Soldaten, der unter der Anklage stand, einen Sergeanten geschlagen zu haben. Das niedrigste Strafmaß für Vergehen dieser Art beträgt vier Jahre Gefängnis. Die Verteidigerin des Angeklagten machte zusammen mit dessen anderem Rechtsbeistand geltend, der Soldat habe sich im Augenblick der Tat in großer Erregung befunden und sei deshalb dafür nicht voll verantwortlich zu machen. Sie begründete diesen Standpunkt so überzeugend, daß der Gerichtshof die Erregung als strafmildernden Umstand gelten ließ und nur auf acht Monate Gefängnis erkannte, wovon die Hälfte als durch die Untersuchungshaft abgebüßt gelten soll. Dieser Erfolg hat das Ansehen der Genossin Labriola als Juristin beträchtlich erhöht.
Die Gleichstellung der Lehrerinnen und Lehrer in Rußland ist zu verzeichnen. Ein kürzlich geschaffenes Gesetz setzt fest, daß beide für gleiche Berufstätigkeit gleiches Gehalt beziehen, ferner daß bei gleicher Hochschulbildung auch den Frauen der Weg zu den Lehrämtern der Universitäten usw. offen steht. Auch zu allen akademischen Ehrenämtern sind sie zugelassen, diejenigen an Universitäten inbegriffen.
Verschiedenes.
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Kaiserparade und Blumentagsrummel. Nein, so etwas hat fein Rabbi ben Atiba je geahnt! Das ganze reiche Berlin stand auf dem Kopf! Jawohl, auf dem Kopf! Von allen stolzen Häusern und Palästen wehten Flaggen in allen Farben, oft zehn Meter lang. Und es wimmelte von Menschen. In der Hauptsache von Militärs und Schuhleuten und Fremden. Unter den Linden lang, in der Friedrichstraße und erst recht die Bellealliance hinunter zum Tempeihofer Feld! Hurra, dort fand die Kaiserparade statt, die Herbitparade, die Sedanfeier! Alle Fürsten und auch die Fürstinnen in Uniform! Die Frauenbewegung marschiert!
Und alles ganz neu, ganz anders aufgezogen als sonst. Bei der letten Frühjahrsparade habe ich mich noch über Kesselpaufenschläger und Schellenträger aufgeregt, fremde Fürstlichkeiten beglotzt und mir den Schädel darüber zerbrochen, wie wohl alle die Berliner Maifäfer" ihre weißen Hosen gewaschen bekämen, und daß dabei sicher Waschfrauen mitgeholfen haben müßten. Lappalien sind das gegen das Neue, Außergewöhnliche der Herbstparade. Mit einem wirkungsvollen Feldgottesdienst unter freiem Himmel ein weiter Tempelhof das ganze Tempelhofer Feld!- ſo ſetzte die große Staatsaftion schon Sonntag ein. Evangelische und katholische Priester walteten ihres Amtes. Einer von ihnen predigte, man solle die eigenen politischen Meinungen und Wünsche drangeben und sich der staatsmännischen Weisheit beugen. Solche Opfer müßten gebracht werden, statt immer zu mäfeln und zu murren. Alle Verheißungen hätten freilich
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seit Sedan n'i cht Erfüllung gefunden, und neben Lorbeeren wären Dornen aufgesproßt. Der Mann paßt in unsere Welt. Ob auch Rabbiner geredet haben, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Nun lassen Sie mich aber gleich zur größten Sensation kommen. Die wurde nämlich am Paradetag selbst durch die preußisch- deutsche Luftflottille gebildet: zwölf Militärflieger, sechs Eindecker und sechs Doppeldecker, dazu noch die beiden Luftschiffe, die wäh rend der Truppenschau über dem Felde schwebien. Die Propeller surrten, daß minutenlang die Fanfaren der Reiter, die Pauken und Trompeten, das ganze klingende Spiel der Fußsoldaten nicht mehr zu hören waren, und daß alle Leute Kopf hoch, Bauch herein gen Himmel stierten. So ähnlich muß es wohl nach der Schlacht auf der katalonischen Ebene ausgesehen haben, wo die Geister der Erschlagenen noch drei Tage nach dem Kampfe in der Luft herumgetobt haben sollen. Bomben und Granaten tamen Montag glücklicherweise noch nicht aus der Höhe von den äroplanen, sonst wäre ich ganz bestimmt ausgerückt, denn ein weibliches Dienstjahr" existiert ja noch nicht.
Das weitere große Ereignis war der mit der Parade vereinte Kornblumenrummel. Weißgekleidete Mädchen und Frauen flankierten nach der Parade alle Haupt- und Nebenstraßen, befrachtet mit Bündeln der künstlichen blauen Blumen und mit Medaillen, die die Luftschifflotte fördern sollen. Vor allen Dingen aber waren die jungen Pfadfinder" zur Stelle, die auch an der Parade teilgenommen hatten. Alle diese jungen Burschen in ihrer graubraunen Tracht, den rechts hochaufgeschlagenen grauen Filzhut mit der roten Kofarde kühn aufgestülpt, trugen die Sammelbüchse nebst dem dazu gehörigen Krimskrams, bettelten jeden Vorübergehenden an und sprangen auf die Omnibusse und in die„ Elektrischen", wie sonst die Zeitungsbuben tun müssen. Eine weiße Binde mit der Inschrift„ Kornblumentag für die Reichsflugspende" prangte an aller Arm, und Hunderte von Kindern und Großen streckten bittend und bettelnd jedem die Hände entgegen und suchten die Restaurants ab, Tisch für Tisch. Es wurde gebettelt, hausiert, ge= schmeichelt, gehandelt, als ob von den anzuschaffenden Luftmordinstrumenten das ewige Heil der Menschheit abhinge. Mich aber packte ein solcher Ingrimm und Ekel vor diesem ganzen Getriebe, daß ich mich schleunigst aus dem eleganteren Teil der Reichshauptstadt verzog, um nicht gar noch mit den Berliner „ Lazzaronis" ins Handgemenge zu geraten.
Vor meinem Geist stieg ein Erlebnis auf, das ich vor wenigen Wochen hoch im Norden, in Berlin N., weit hinter der Weidendammer Brüde gehabt hatte. Zur Dämmerzeit in einer alten, schmalen Straße, wo keine zehn Meter lange Flaggen von Pruntfassaden und stolzen Palästen wehen, wo das Elend auf Socken schleicht und auf Pantinen klappert, wo die Prostitution dritten und vierten Grades blüht, wo in düsteren Bouillonkellern qualmige Lampen von der Decke hängen und fluchende Trunkenbolde allabendlich über die Trottoire schwanken. Ein dichter Menschenschwarm umstand ein Kind und einen Schuhmann, der das Kind abgefaßt hatte, ein kleines, mageres Mädchen von vielleicht sieben, wenn's aber hoch kommt acht Jahren. Es ging in Lumpen und war sehr schmußig, das edige Gesichtchen und die spindeldürren Häude schienen ungewaschen und das blonde strähnige Haar war gewiß seit Wochen nicht gefämmt. Das einzig Hübsche an dem vor Aufregung zitternden Geschöpf waren ein Paar tiefblaue, wutfunkelnde Augen, ein Paar Augen so voller Haß und voller Zorn, daß sie sogar dem Schußmann zu imponieren schienen. Er trieb die Menge energisch zurück, die hier jeden Augenblid ähnliches sieht, und nahm das Kind dann mit sich auf die Polizeiwache. Ich wartete draußen, bis das Verhör zu Ende war, bis man Name, Familie, Wohnung, Bezirk, Schule und alles notiert hatte, was in einem solchen Fall in einem ehrsamen Staatswesen notiert werden muß. Als die Kleine herausfam, frug ich sie ab. Erst wollte sie mir nicht Nede stehen. Aber ich ließ nicht locker. Ich suchte die weichsten Schmeichellaute, um die Herzensrinde des kleinen Mädchens mit den hajfunkelnden Augen zu schmelzen, und ich gewann. Lissys Verbrechen? Sie hatte gebettelt, weil„ Vadder keen Arbeet un Mudder krant, un weil se alle tosammen nig to eeten hadden". Ich suchte in meiner Tasche nach einem Fünfzigpfennigstück, aber ehe ich's noch gefunden, hatte Lissy plötzlich die kleine schmuzigmagere Rechte zur Faust geballt, schüttelte sie grimmig gegen die hellerleuchteten Scheiben der Polizeiwache und war meinen Blicken im Dunkeln entschwunden. Gestern abend habe ich die Faust ge= ballt und sie nach dem Lichtschein der Riesenstadt geschüttelt, in der nur reiche Kinder ungestraft betteln dürfen. R. R.