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Die Gleichheit

ditf je 10 000 Erwachsene gezählt in Berlin   141,94 Männer, 45,73 Frauen; in Frankfurt   a. M. 150,49 Männer, 39,85 Frauen; in Wilhelmshaven   215,16 Männer, 61,91 Frauen, in Königsberg   163,71 Männer, 41,04 Frauen; in Saarlouis  156,34 Männer, 59,62 Frauen; in der Stadt Braunschweig  105,48 Männer, 13,45 Frauen( unvollständige Angabe).

In Braunschweig   ist die Prostitution faserniert. Die Sta­tistik zeigt uns mit aller Deutlichkeit, daß die Kasernierung nicht ihren angeblichen Zweck erfüllt: eine bessere ärztliche Kontrolle der Dirnen herbeizuführen. Von den 732 ge­schlechtskranken Männern führten nämlich 384 ihr Leiden auf Ansteckung durch Prostituierte zurück.

Die starke Verbreitung der Geschlechtskrankheiten in der sogenannten besseren" Gesellschaft bildet auch eine große Gefahr für viele Proletariertöchter. Man geht wohl nicht fehl, wenn man einen großen Teil der Erkrankungen von Frauen und Mädchen auf Ansteckung durch bessere Herren zurückführt. Wir schließen das unter anderem auch aus der großen Zahl geschlechtskranker Dienstmädchen. Nach den Prostituierten stellten diese den höchsten Prozentsaz der ge­schlechtskranken Frauen, die von der Braunschweiger   Statistik erfaßt worden sind. Im Herzogtum Braunschweig   ermittelte die letzte Berufszählung rund 11 600 Dienstmädchen und 45 000 Arbeiterinnen aller Art. Die Dienstmädchen stellten 28 Geschlechtskranke, die Arbeiterinnen nur 8. Die Zahl der Geschlechtskranken steht also in beiden Gruppen im umge­fehrten Verhältnis zur Zahl der Berufsangehörigen. Auch wenn man nicht aus dem Auge verliert, wie unvollständig das vorliegende Erhebungsmaterial ist, scheinen doch die absoluten und relativen Zahlen als Stichproben sehr beacht­lich. Unseres Dafürhaltens lassen sie zutage treten, daß die Arbeiterin sich schon eine größere wirtschaftliche Unabhängig­keit von ihrem Brotherrn", eine größere Macht persönlicher Freiheit und sozialer Achtung errungen hat als die Dienende. Sie verdankt das dem politischen und gewerkschaftlichen Kampfe der Arbeiterklasse, der auch die ausgebeutete Frau wehrhaft gemacht hat und um so besser schüßt, je mehr sie selbst an ihm teilnimmt, in steigendem Grade durch die öffentliche Kritik die Aufmerksamkeit auf ihre Lebensbedin­gungen zwingt und sich würdigere Arbeitsverhältnisse er­trott. So weit sind leider die Dienstmädchen noch nicht. Ihr Elend verkriecht sich noch viel zu viel in das Dunkel der ..patriarchalischen Beziehungen" zu der Herrschaft; ihre Aus­nugung und ihre Gebundenheit wird durch die Gesindeord­nungen befestigt. Wie groß auch die Summe des erfahrenen Unrechtes ist, finden und hören die Mädchen doch oft genug: ,, es ist fast in allen Stellen das gleiche". So schweigen sie, dulden alle Unbill und werden schließlich Opfer der Baschagelüfte ihrer Herren, deren Söhne oder Besucher, die ihnen die Ehre rauben und womöglich den Körper verseuchen. Die Tatsache ist unbestreitbar, sie wird auch durch den hohen Prozentsatz bestätigt, den die Dienenden zur Prostitution liefern. Ab­gesehen von anderen Umständen, die ein unerfahrenes, ver­sklavtes Dienstmädchen leicht dem reichen Lüstling in die Arme stoßen, tut das die Furcht vor häufigem Stellenwechsel, vor dem schlechten Zeugnis im Dienstbuch, diesem Rache­mittel der Herrschaft und Steckbrief für die Dienende. Die praktischen Schlußfolgerungen aus diesen Dingen sind mit Händen zu greifen. Sie gipfeln darin, daß auch die Dienst­mädchen sich immer mehr in ihrer Organisation, dem Haus­angestelltenverband, zusammenschließen, daß sie mit der übrigen Arbeiterklasse zusammen kämpfen müssen. Abschaf­fung der Gesindeordnungen und des Dienstbuchs ist dabei eines der nächsten Ziele ihres Kampfes.

Freilich: nicht die Dienenden allein sind von den erwerbs­tätigen und ausgebeuteten Töchtern des Volkes in Gefahr, durch bessere" Herren geschlechtskrank zu werden. Es ist be­fannt, wie oft Chefs und Vorgesezte ihre wirtschaftliche Macht mißbrauchen, um sich die Lohnsklavin als Lustsklavin zu unterwerfen. Davon zu schweigen, wie manche Prole­tarierin durch die Schläge der Hungerpeitsche oder durch

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lockende Versprechungen dem Dirnentum zugetrieben wird und venerische Seuchen als Zugabe zu ihrem traurigen Be­ruf erhält. Wir wollen mit all diesen Ausführungen gewiß nicht verschleiern, daß auch der geschlechtskranke Proletarier Frauen ansteckt und unglücklich macht. Ebensowenig über­sehen wir die Gefahren und Leiden, denen die bürgerlichen Frauen durch die Männer ihrer Kreise preisgegeben werden. Aber uns fam darauf an, die Aufmerksamkeit der Arbeite­rinnen und Arbeiterfrauen in diesem Zusammenhang darauf zu lenken, wie not es ihnen tut, wehrhaft, gerüstet zu sein. Je leichter ihre Lage als Ausgebeutete und Abhängige sie zu Opfern der geilen Gelüste ihrer Herren werden läßt und damit die Möglichkeit geschlechtlicher Verseuchung herauf­beschwört, um so dringender ist es, daß sie in Neih und Glied der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Partei fämpfen. Die materielle und geistige Hebung der ausge­beuteten Proletarierinnen ist das wirksamste Schußmittel gegen Verführung und Verseuchung, gegen Unsittlichkeit und Geschlechtskrankheit. Das mögen die Proletarierinnen im Herzogtum Braunschweig   wie überall bedenken.

Der freie Sonnabendnachmittag.

Von Marta Hoppe.

a. w.

( Referat auf dem elften Verbandstag des Deutschen Textilarbeiter­verbandes in Stuttgart  .)

Die Frage der Arbeitszeitverkürzung ist schon auf mehreren Verbandstagen der organisierten Textilarbeiterschaft Gegenstand eingehender Debatten gewesen. Wir können wohl ohne überhebung sagen, daß der Textilarbeiterverband durch die Forderung einer fürzeren Arbeitszeit und den Kampf für ihre Einführung die Ge­sebgebung vorwärts getrieben hat. Durch den Druck der Organi­sation sind wir von einer willkürlichen, regellosen Arbeitszeit zur Festsetzung bestimmt abgegrenzter Arbeitszeiten und Pausen ge­kommen, die von der Gesetzgebung sanktioniert werden mußten. Die gesetzliche Regelung der Arbeitszeiten und Bausen beschränkt sich aber immer noch nur auf die Frauen, Jugendlichen und Kinder und scheint mit dem am 1. Januar 1910 eingeführten zehnstündigen Marimalarbeitstag für die Arbeiterinnen einst­weilen zum Stillstand gekommen zu sein. Bei der Ausbeutung der Arbeitskraft erwachsener männlicher Arbeiter hat man dem in­Dieser Stillstand liegt nicht im Interesse der Arbeiterschaft. Daß dustriellen Kapital noch keine gefeßliche Schranke zu seßen gewagt. ihr an einer weiteren Verkürzung der Arbeitszeit außerordentlich viel gelegen ist, kommt bei allen Lohnbewegungen zum Ausdruck. Wie wir aus unseren Geschäftsberichten wissen, sind die Versuche der Arbeiterschaft, kürzere Arbeitszeiten zu erringen, von be achtenswertem Erfolg gewesen. Bei den Lohnbewegungen der legten Zeit wird die Forderung des freien Sonnabendnachmittags immer häufiger erhoben. Aber selbst wenn das nicht von den Ar­beitern und Arbeiterinnen selbst geschähe, wäre es jetzt Aufgabe der Organisation, die Freigabe des Sonnabendnachmittags für die Arbeiterschaft unserer Industrie zu fordern. Die steigende Konjunktur muß zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen aus­genutzt werden, und die Länge der Arbeitszeit ist für die Leistungs­fähigkeit der Arbeiter, für ihre Gesundheit, ja sogar für ihre Lebensdauer von so großer Wichtigkeit, daß die Forderung nach kürzerer Arbeitszeit niemals zur Ruhe kommen darf.

Frühere Verbandstage der Textilarbeiter haben die Forderung des freien Sonnabendnachmittags bereits erhoben. Der im An­schluß an den Gößnizer Verbandstag 1900 abgehaltene Kongreß forderte die Freigabe des Sonnabendnachmittags für die Arbeiterinnen, weil der Organismus der Frau, ihr natürlicher Beruf als Gattin und Mutter einen größeren Schutz vor physischer und geistiger Ausbeutung verlange. Der internationale Kongreß der Textilarbeiter in Zürich   1902 erhob dieselbe Forderung. Sie wurde damals zurückgedrängt durch die Kämpfe um die dringende Forderung des Sehnstundentag3 für Arbeiterinnen. Mit seiner Einführung am 1. Januar 1910 war aber endlich die cine Forderung Gesetz geworden, die der Kon= greß der Manufatturarbeiter schon 1886 in Gera  erhoben hatte: Gefeßliche Normierung der Arbeitszeit der Ar­beiterinnen auf höchstens 58 Stunden pro Woche." 24 Jahre hat es also gedauert, bis eine so bescheidene Forderung der Arbeiterschaft erfullt wurde. So langsam mahlen die Mühlen der Gesetz­gebung! Heute erst haben die Arbeiterinnen und mit ihnen eine