Nr. 1

Die Gleichheit

Mehr Achtung vor dem Gesek! Die geseglichen Bestimmungen zum Schuße der Arbeiterinnen werden auch in der Holz= industrie vielfach nicht eingehalten. So gaben im Bereich der preußischen Gewerbeinspektionen im Jahre 1911 von 1373 revisionspflichtigen Betrieben, die Arbeiterinnen über 16 Jahre beschäftigten, 149 Anlaß zu Beanstandungen. Also im neunten Teil aller Betriebe wurden Verstöße gegen die Schutz­bestimmungen festgestellt, trotzdem natürlich nicht annähernd alle Betriebe kontrolliert werden konnten. In 48 Fällen waren die Ar­beiterinnen über die gesetzlich zulässige Zeit hinaus beschäftigt wor­den, und zwar meistens an Sonnabenden. Dabei geizen die Be­hörden durchaus nicht mit der Bewilligung von überzeitarbeit. Ist doch in 38 Betrieben von 2576 Arbeiterinnen allein in dem einen Jahre die zulässige Arbeitszeit um zusammen 28 510 Arbeits­stunden mit Bustimmung der Behörde überschritten worden. Es handelte sich dabei um je 1 bis 2 Überstunden am Tage. Nach den Berichten der Gewerbeinspektoren sind nur 2 Gesuche um über­zeitarbeit abgewiesen worden. Und trotz dieser Weitherzigkeit der Behörden die hohe Zahl der festgestellten übertretungen! Wie viele mögen nun aber auch in den kontrollierten Betrieben gar nicht zur Kenntnis der Aufsichtsbeamten gekommen sein. Zum Beispiel wurden die Arbeiterinnen einer Bürstenfabrik im Regie­ rungsbezirk Frankfurt   a. O. monatelang über die zulässige Arbeitszeit hinaus beschäftigt, während man die revidierenden Be­amten durch falsche Angaben täuschte. In diesem Falle schwebte das Strafverfahren bei Abschluß des Berichtes noch. Im allge­meinen ist man mit den Unternehmern, die sich bewußt gegen das Gesetz vergingen, recht glimpflich umgegangen. Von jenen 149 Fäl­len festgestellter übertretungen führten nur 20 zu einer Bestra­fung, während 10 noch der Erledigung harren. In den übrigen Fällen begnügte man sich mit einer Verwarnung. Solch milde Richter möchte man nur auch den ob irgendwelcher Streitsünden angeklagten Arbeitern wünschen, doch da pfeift der Wind aus einem anderen Loche. Die gefeßlich zulässige Arbeitszeit der Arbeite­rinnen ist noch viel zu lang. Diese sollten darum zum mindesten streng auf deren Einhaltung achten und Verstöße gegen das Gesetz erforderlichenfalls durch ihre Gewerkschaften der Gewerbeaufsicht mitteilen lassen. Der augenblickliche Vorteil eines Überstundenver­dienstes darf sie nicht zum Schweigen verleiten, denn letzten Endes bringt gerade die kürzere Arbeitszeit den höchsten Verdienst. Die 8ahl der Arbeiterinnen, die in solchen der Gewerbe­aufsicht unterliegenden Betrieben mit über 10 Beschäftigten ar­beiteten, hat im Jahre 1911 in der Industrie der Holz- und Schnitz­stoffe in Preußen stärker zugenommen als die der männlichen Ber­sonen. In der Bürstenmacherei weisen sogar die männlichen Besayastigten eine Abnahme auf, die durch die Zunahme der Ar­beiterinnen mehr als ausgeglichen wurde. Insgesamt wurden in den Bürstenfabriken 1496 Arbeiterinnen über 16 Jahre, in der übrigen Holzindustrie deren 12 018 gezählt. Die Jllusion, daß die Berufsarbeit der Frau nur der übergang von der Schule zur Ehe sei, wird am besten durch die Tatsache zerstört, daß von diesen Ar­beiterinnen weit über die Hälfte, nämlich insgesamt 8649, das 21. Lebensjahr überschritten hatten. Unter den Jugendlichen bon 14 bis 16 Jahren befanden sich in den Fabriken auch 1810 Mädchen. fk.

Fürsorge für Mutter und Kind. Kindersterblichkeit in Aegypten  . René Quinton  , ein ange= sehener französischer Arzt in Ägypten  , hat auf die geradezu be­ängstigende Kindersterblichkeit dort hingewiesen. In Kairo   fann man nach ihm jährlich auf 16 000 Geburten 10 000 Todesfälle bon Säuglingen rechnen. In manchen Sommermonaten übertrifft die Sterblichkeit der Kleinen noch ganz beträchtlich den sich aus dieser Summe ergebenden Durchschnitt. Von 1899 bis 1908 star­ben von rund 1 600 000 Neugeborenen über 20 Prozent der Neu­geborenen vor Ablauf des zehnten Lebensjahres. Abgesehen von klimatischen und sozialen Ursachen tragen orientalische Trägheit und schlimmer Aberglaube viel Schuld an der hohen Kindersterb­lichkeit. So werden die Kinder lange Zeit nach ihrer Geburt nicht gewaschen, auch die Fliegen die Verbreiter ansteckender Krank­heiten nicht von ihnen abgewehrt, weil man glaubt, daß die Kleinen sonst dem Einfluß böser Geister anheimfallen. Dieser Aberglaube trägt auch in den ägyptischen Städten sehr viel zur Berbreitung der ägyptischen Augenkrankheit und der Blindheit bei. Der Kampf gegen die Kindersterblichkeit kann sich daher nicht auf die Errichtung von Kranken- und Pflegeanstalten für Kinder be­schränken, er muß auch den abergläubischen Vorstellungen, der Un­wiffenheit gelten.

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r. r.

Frauenstimmrecht.

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Die Frage des Frauenwahlrechts in Ungarn  . Das Prole tariat Ungarns   führt seit einem Jahrzehnt einen zähen Kampf für die politische Gleichberechtigung, für das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht. Für diese seine Forderung kämpft es mit der größten Energie, weil die werktätigen Massen Ungarns  von dem Besitz politischer Rechte vollständig ausgeschlossen sind. Es gibt kein europäisches Land, dessen Wahlrecht so eng wäre wie das Reichstagswahlrecht und Kommunalwahlrecht Ungarns  . Haben doch hier kaum 6 Prozent der Einwohner das Reichstagswahlrecht. Die ungarländische sozialdemokratische Partei fordert in ihrem Programm Punkt 1: Das allgemeine, gleiche, dirette und geheime Wahlrecht für jeden über zwanzig Jahre alten Staatsbürger ohne Unterschied des Ge­schlechts. Jeder, der mit der Geschichte der Wahlrechtskämpfe in Europa   vertraut ist, kennt nur allzu gut die Tatsache, daß diese internationale grundsätzliche Forderung des Proletariats nirgends mit einem einzigen Schlage durchgesetzt wird. überall muß man sich vorerst mit dem allgemeinen, gleichen, geheimen Wahlrecht für die männlichen Proletarier begnügen, ehe das volle politische Bürgerrecht des weiblichen Geschlechtes zu einem unmittelbaren Kampfesziel werden kann. Nach dieser Erfahrung handelte auch die ungarländische sozialdemokratische Partei, als sie vor einigen Jahren als vorläufige Abschlagszahlung auf ihre Forderung den Wahlrechtsentwurf des Ministers Kristoffy gelten ließ, der das Wahlrecht allen vierundzwanzig Jahre alten Männern erteilen wollte, die lesen und schreiben können. Und die nämliche Erkennt. nis bewog sie auch heuer, dem Wahlrechtsentwurf der vereinigten Opposition zuzustimmen.*

Was die Frauenbewegung anbelangt, so strebt die Partei da nach, die ungarischen Proletarierinnen sowohl gewerkschaftlich als auch politisch zu organisieren. Es ist ihr auch gelungen, ungefähr acht- bis zehntausend Arbeiterinnen der Organisation zuzuführen. Im Vergleich zu dem Stande der gewerkschaftlichen Arbeiterinnen­darf aber nicht vergessen werden, daß die Gesamtzahl der gewerk­bewegung Deutschlands   ist dies natürlich eine kleine Zahl. Es schaftlich organisierten Arbeiter Ungarns   leider nicht mehr als hunderttausend beträgt. Auch in den neugegründeten Parteiber­einen bemüht sich die Sozialdemokratie, möglichst viel Frauen auf­zuklären und zur Mitwirkung an der Parteiarbeit zu gewinnen. Troß alledem verbreiten Vertreterinnen bürgerlicher Frauen­organisationen im Ausland die Nachricht, die ungarländische so­zialdemokratische Partei habe keine Sympathie für die volle Gleich­berechtigung des weiblichen Geschlechts und das Frauenwahlrecht im besonderen. Das ist nichts als eine dreiste Verleumdung! Sicherlich bekämpft unsere Partei mit aller Kraft das Damen­wahlrecht, das die Führerinnen der frauenrechtlerischen Be­wegung befürworten. Denn dieses Damenwahlrecht würde feine Stufe zu weiteren Fortschritten sein, sondern im Gegenteil, es wäre mur   geeignet, allen Proletariern ohne Unterschied des Ge­schlechts zu schaden. Um dies jedem verständlich zu machen, ge= nügt es, die Forderung des Frauenwahlrechts zu verzeichnen, wie fie eine Deputation der ungarischen Frauenrechtlerinnen dieser Tage dem Ministerpräsidenten unterbreitet hat. Das betreffende Memorandum fordert das aktive und passive Wahlrecht für jene 30 Jahre alten Frauen, die 1. ein Diplom besitzen als Smder= gärtnerinnen, Lehrerinnen, Apothekerinnen, Baumeisterinnen, Ärztinnen usw., 2. Leiterinnen von sozialen Frauen­vereinen sind, 3. die wirtschaftlich selbständig sind oder als Beamtinnen in öffentlichem oder privatem Dienst stehen, wenn sie sechs Klassen der Volksschule und drei Klassen der Fortbildungsschule oder vier Klassen der Volksschule und fünf Klassen der Mittelschule absolviert haben, 4. jede Mutter, die sieben Voltsschultlassen absolviert hat". Nach diesen Bedingungen würden von den 11 Millionen Frauen Ungarns   nur 200 000 das Wahlrecht erhalten! Es braucht nicht näher ausgeführt zu werden, daß der geforderte Schulzenfus für die Zuerkennung des Wahlrechts bei Lichte betrachtet ein Ver= mögenszenfus ist. Keine proletarische Frau in Ungarn   farn sich rühmen, acht bis neun Jahre die Schule besucht zu haben. Ein Wahlrecht, das wie das geforderte aussieht, würde nur die Damen der Herrenklasse ausrüsten, ihren Männern zu helfen, die männ lichen Proletarier bei den Wahlen niederzuhalten. So ist es selbst­verständlich, daß die sozialdemokratische Partei Ungarns   ein ber­artiges Damenwahlrecht nicht als einen Fortschritt betrachten kann, ja, daß sie es mit allem Eifer als eine reaktionäre Spott­

* Näheres hierüber in den Artikeln der Neuen Zeit", 28. Jahr­gang Nr. 20; 29. Jahrgang Nr. 31; 80. Jahrgang Nr. 88.