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Die Gleichheit
niger als vor 20 Jahren. Die monatlichen Hefte des Statistischen Amtes der Stadt Dresden weisen aus, daß dort im Juli 1911 auf den Kopf der Bevölkerung ein durchschnittlicher Fleischverbrauch von 4,36 Rilo entfiel, im Juli 1912 jedoch bloß von 3,98 Kilo, was einem Jahresdurchschnitt von 47,76 Kilo entsprechen würde. Nach den Ergebnissen der Schlachtvieh- und Fleischbeschaut stellte sich unter Berücksichtigung der Mehreinfuhr der Verbrauch an Fleisch im ersten Vierteljahr 1912 durchschnittlich auf 10,50 Kilo pro Kopf der deutschen Bevölkerung, im zweiten Vierteljahr auf 9,80 Kilo; im dritten Vierteljahr dürfte er noch geringer sein.
All diese Zahlen lassen die Fleischnot des arbeitenden Volfes nur ahnen, sie enthüllen sie nicht einmal vollständig. Denn bei ihnen ist ja der sehr starke, ja zum Teil übermäßige Fleischverbrauch der besitzenden Bevölkerungsschichten mit eingerechnet. Was diese weit über den Durchschnitt verzehren, als Abfall von ihren Tellern in den Kehricht wandern lassen oder auch in Ermangelung von Hunden Armen zuweisen, das verbrauchen die Habenichtse weit unter dem Durchschnitt. Diese Tatsache wird bestätigt durch die Erhebungen, die das Kaiserliche Statistische Amt 1907 über die Ausgaben für Nahrungsmittel in 150 Arbeiter- und 60 Beamtenfamilien angestellt hat. Danach entfiel auf die Familie von durchschnittlich 4,76 Köpfen ein Fleischverbrauch von 130,6 Kilo im Durchschnitt. Ist es da übertrieben, wenn wir behaupten, daß in sehr vielen Haushaltungen von Arbeitern, Handwerkern, Beamten nur noch Sonntags ein gutes Fleischgericht auf den Tisch kommt, daß in nicht wenigen proletarischen Familien der Fleischverbrauch ganz aufgehört hat? Und eine andere Erscheinung noch ist keine Ausgeburt der Phantasie, keine Erfindung der aufheßenden Sozialdemokraten. Die Arbeiterfrau wird immer mehr gezwungen, das minderwertige Fleisch der Freibänke, Abfallfleisch auf den Tisch zu bringen, wenn sie ihren Lieben ein reichlicheres und besseres Mahl bereiten will. Oder sie muß ihren Weg in die Pferdemezgerei nehmen, vielleicht auch einen heimlich abgefangenen Hund schlachten lassen. Hunger tut weh und zwingt Abscheu und Ekel darnieder. Während hinter den glänzenden Scheiben der Wildpret- und Geflügelhandlungen die auserlesensten Gerichte locken, die den Reichen vorbehalten sind, drängen sich Hunderte, Tausende von abgesorgten, ausgemergelten Frauen vor den Freibänken, Frauen, die zu der großen, großen Masse gehören, die den Reichtum, den Glanz unserer Tage schafft. Sie stehen und warten und drängen sich 8 Stunden, 10 Stunden, ja wie es in Berlin vorgekommen ist- 14 Stunden, vielleicht ein hüstelndes, frierendes, müdes Kind zur Seite, damit die Gunst der Umstände ihnen ein paar Pfund Fleisch beschert, das manche ,, Gnädige" naserümpfend für ihr Salonfäßchen zurückweisen würde. Nach dem Statistischen Jahrbuch der deutschen Städte wurden in Dresden 1898,, nur" 1339 Pferde und 32 Hunde verzehrt, 1909 jedoch 1664 Pferde und 128 Hunde. Der Tierschutzverein dieser Stadt schrieb vor kurzem Belohnungen aus für die Ermittlung der Diebe, die große Hunde jedenfalls zu Schlachtzwecken wegfangen"! In einem Dorfe des schlesischen Kreises Jauer stürzten sich vorübergehende Arbeiter auf ein Pferd, das auf der Straße verendet war, und hatten im Nu alles Fleisch des Kadavers von den Knochen gelöst. Aus Merseburg und Köln wurden Massenvergiftungen gemeldet, die der Genuß von verdorbenem Fleische bewirkt hatte. Wohin der Blick schweift, zeigen sich Bilder entseglichen Elends.
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Wenn die Massen Fleisch nur noch in homöopathischen Dosen genießen, so muß ihre Ernährung notleiden. Die Unterernährung mit ihren Folgen ist da. Hören wir, was die Wissenschaft über die Bedeutung einer ausreichenden Fleischnahrung sagt. Ernährungsphysiologen haben nachgewiesen, daß der Mensch, um gesund und leistungstüchtig zu bleiben, 35 Prozent der Eiweißstoffe, deren sein Körper bedarf, in Gestalt von Fleisch zu sich nehmen muß. Das Eiweiß des Fleisches ist leichter löslich, besser verdaulich als Pflanzen
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eiweiß. v. Voit und Rubner haben auf der Grundlage dieser Annahme berechnet, daß der Erwachsene im Jahre 62 Kilo reines Rindfleisch genießen müßte; das Kaiserliche Gesundheitsamt nimmt als Norm des nötigen Fleischverzehrs 55 Kilo an. Wenn die angeführten beiden Gelehrten die Gewichtsmenge nur nach reinem Rindfleisch berechnet haben, so hat das seinen guten Grund. Der Eiweißgehalt der verschiedenen Fleischsorten ist verschieden, damit ist auch ihr Nährwert größer oder kleiner. Erst 1 Kilo Schweinefleisch zum Beispiel enthält so viel Eiweiß wie 820 Gramm Kindfleisch; der Nährwert des Schweinefleisches ist mithin um 18 Prozent geringer als der des Rindfleisches. Wenn in der Arbeiterfamilie der verhältnismäßigen Billigkeit halber das Schweinefleisch eine größere Rolle spielt, so müßte also von Rechts, das heißt Gesundheits wegen fast ein Fünftel mehr davon gegessen werden als Rindfleisch. Aber dann wäre ja die notwendige Ersparnis zum Teufel!
Die Ernährungstabellen für die Mannschaften der Armee und Marine seßen fest, daß auf den Soldaten pro Woche ein Fleischverzehr von 2350 Gramm entfallen solle, und zwar je 800 Gramm Rind- und Hammelfleisch und 750 Gramm Schweinefleisch. Für den Jahresverbrauch sind also 122,2 Kilo gerechnet. Das ist um stark die Hälfte. mehr, als nach den oben angeführten Ergebnissen auch im günstigsten Falle der durchschnittliche Verbrauch der deutschen Bevölkerung pro Kopf beträgt. Es ist beinahe so viel, als laut der angezogenen Erhebungen des Statistischen Reichsamtes im Durchschnitt eine der 120 Arbeiterfamilien an Fleisch verzehrt, die doch im Mittel aus 2 Erwachsenen und 2 bis 3 Kindern bestanden. Um wieviel mag aber erst die Kost der Arbeiterfamilien in Wirklichkeit fleischärmer sein als die unserer Soldaten! Man halte sich nicht bloß die wiedergegebenen offiziellen Zahlen vor Augen, sondern auch die Tatsachen, auf die wir hingewiesen haben. Unsere kapitalistische Gesellschaft sorgt für die Ernährung und Gesundhaltung der Proletarier in bunten Rock, die das blutige Handwerk des Massenmordes treiben und auf Vater und Mutter schießen sollen. Sie fümmert sich nicht darum, ob die Lohnsklaven im Arbeitskittel mitsamt den Ihrigen vor Hunger verderben und sterben, fie, die in mühevoller, fruchtbarer Arbeit schaffen, was das Leben erhält und lebenswert macht. Es scheint der helle Wahnsinn und ist doch der Sinn der heutigen Ordnung der Dinge. ( Schluß folgt.)
Der freie Sonnabendnachmittag.
( Schluß.)
Von Marta Hoppe. ( Referat auf dem elften Verbandstag des Deutschen Tertilarbeiterverbandes in Stuttgart .)
Die englischen Textilarbeiter, die den freien Sonnabendnachmittag längst haben, ohne daß die Industrie ihres Landes Schaden davon genommen hätte, stehen jetzt wieder im Begriff, eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit von 55/2 auf 48 Stunden die Woche vom Parlament zu verlangen. Sie stüßen sich bei der Begründung ihrer Forderung ganz besonders darauf, daß die Produktivität der Arbeit ganz gewaltig gestiegen sei. Sie geben an, daß ein Textilarbeiter heute in 8 Stunden ebensoviel produziert als vor 50 Jahren in 16 Stunden. Die Umdrehung der Spindeln sei in dem gleichen Zeitraum von 5500 Umdrehungen in der Minute auf 9500 gestiegen. Damals tamen auf 1000 Spindeln 7 Arbeiter, heute aber kommen bei schneller als damals laufenden Spindeln nur 3 Arbeiter. Zu jener Zeit produzierte ein Arbeiter im Jahre 3637 Pfund Garn, heute 7736 Pfund und mehr. Ein Weber stellte damals im Jahre 20 580 Ellen Stoff her, heute 38 000. Mit den größten Anforderungen, die an die Leistungsfähigkeit des einzelnen gestellt werden, steigt seine Produktivität in demselben Maße, wie seine Gesundheit und Arbeitskraft verwüstet wird. Schlimmer noch als bei den Männern äußert sich die Wirfung der gesteigerten Arbeitsleistung bei den weiblichen Arbeitern. Das weist unsere Krankenstatistik über die prozentuale Beteiligung beider Geschlechter an Krankheitsfällen und Krankheitstagen aus. Noch stärker äußert sich die verheerende Wirkung auf den Nachwuchs der Arbeiterschaft. Bei der Beratung des Mutter und Säuglingsschußes im Reichstag hatte Dr. Botthoff