Nr. 3

Die Gleichheit

eine Berechnung über den Verlust aufgemacht, den die deutsche  Volkswirtschaft durch das Wegsterben der Säuglinge erleidet. Er hatte für jeden Fall einschließlich der Kosten des voraufgegangenen Wochenbettes eine Aufwendung von 300 Mt. angenommen und fam zu dem Schluß, daß jährlich 108 Millionen Mark in Säug­lingsgräbern begraben werden. Genosse Dr. David rechnete noch die Einbuße an Arbeitsverlust der Mutter vor der Entbindung und während der Krankheit des Kindes hinzu und nahm an, daß die Summe von 175 Millionen Mark in einem Jahre durch das Wegsterben der Säuglinge unproduktiv in die Erde versenkt wird. Die mit der Säuglingssterblichkeit im Zusammenhang stehende Zerrüttung des Familienglückes, die Summe der förperlichen Qual und des seelischen Leidens läßt sich ziffernmäßig nicht angeben. Ein hoher Prozentsaz der Sterblichkeit muß für die Kinder der Textilarbeiterinnen festgestellt wer­den, in Bezirken der Textilindustrie beträgt die Säuglingssterb­lichkeit 38 bis 43 vont Hundert der Geborenen.

Die überlangen Arbeitszeiten der Arbeiterinnen tragen neben anderen Ursachen einen Teil der Schuld daran. Von einer Herab­setzung der Arbeitszeit der Arbeiterinnen wollen jedoch die herr­schenden Klassen natürlich nichts wissen. Was schert sie das Ster­ben der Arbeiterkinder, solange von dem Nachwuchs der Arbeiter­klasse noch so viel übrig bleibt, als sie für ihre Ausbeutergelüfte nötig haben. Ist es deshalb vermessen, wenn wir als weitere Ver­fürzung der Arbeitszeit den freien Sonnabendnachmittag ver­langen? Wir wissen ja, daß seine Einführung der Industrie keine Schwierigkeiten bereiten würde. Bedeutet doch seine Einführung nur eine unwesentliche Verkürzung der Arbeitszeit an Sonnaben­den von wenigen Stunden, da, wie wir gesehen haben, schon recht viel Betriebe erheblich früher schließen, als der Arbeitsschluß für den Sonnabend festgesetzt ist. Aus Sorau   wird mir mitgeteilt, daß ein Fabrikant bereit sei, den Arbeitern den freien Sonnabend­nachmittag zu gewähren, wenn diese im Anschluß an die Arbeits­zeit gleich puzen wollen. Putzzeit und Arbeitszeit lassen sich zweifel­los in manchen Betrieben zusammenlegen. Da das Arbeitsquan­tum durch den Arbeitsschluß am Sonnabendnachmittag nicht ge= ringer wird, sondern sich eher steigert, so bedeutet die Freigabe des Sonnabendnachmittags neben den Vorteilen für die Arbeiterschaft sogar noch eine Ersparnis der Betriebsunfosten für die Unternehmer, so daß schon die eigene Profitsucht diese veranlassen müßte, der Neuerung keine Schwierig feiten zu bereiten. Wir fordern deshalb für die Textilarbei­terschaft in ihrer Gesamtheit den freien Sonn= abend nachmittag. Der Arbeitsschluß soll einheitlich für alle Betriebe auf 12 Uhr mittags festgesetzt werden.

Diese Forderungen müssen in nächster Zeit die Agitation beleben, die Propaganda dafür muß eifrig betrieben werden. Daß die Ein­führung des freien Sonnabendnachmittags nicht ohne Kampf kom= men wird, wer möchte daran zweifeln? Aber darf uns das hindern, sie zu erheben? Sind wir doch durch Kämpfe groß, stark und lei­stungsfähig geworden. Aber Kämpfe können vermieden werden, wenn die Unternehmer Verständnis für die Forderungen der Ar­beiterschaft zeigen. Und nicht wir werden es sein, die bei dieser Forderung den Kampf wollen, doch werden wir, wie bisher immer, aufgezwungenen Kämpfen nicht aus= weichen. Der Gedanke des freien Sonnabendnachmittags mar­schiert. In Werdau   haben die Weber die Forderung an ihre Unternehmer gestellt. In Mülhausen   im Elsaß   haben die Arbeiter die gleiche Forderung erhoben, dort lehnen aber die Fa­brikanten jedes Entgegenkommen ab. Erst wenn sie gezwungen werden, wollen sie die Forderung berücksichtigen. Nun wohl, zeigen wir den Unternehmern, daß wir mächtig genug sind, sie zu zwingen, wenn ihr furzsichtiger Unternehmerstandpunkt ihnen verbietet, den berechtigten Forderungen der Arbeiterschaft Gehör zu geben. überall soll in ihren Betrieben der freie Sonnabendnachmittag eingeführt werden, damit nicht einige mit dem Hinweis auf die vielen die Forderungen ablehnen können. Die Entwicklung darf nicht stillstehen. Waren wir die Schrittmacher für den gesetzlichen Zehnstundentag, so müssen wir auch die Schrittmacher für den freien Sonnabendnachmittag wie für jede weitere Verbesserung der Arbeitszeit überhaupt sein. Damit werden sich auch die Textil­barone abzufinden haben.

Wenn auch die Regelung des freien Sonnabendnachmittags kom­men muß, so ist es doch bemerkenswert, daß gerade das Land, in den wir zurzeit uns befinden, in dieser Sache am weitesten vor­geschritten ist, und daß analog dieser Tatsache und nicht ganz ohne Grund die Landesgesetzgebung zur Regelung dieser Frage die crsten Schritte unternommen hat. Die württembergische Landesregierung beschäftigte sich bereits mit dem Gesez zur Frei­

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gabe des Sonnabendnachmittags; und es ist wohl anzunehmen, daß sie der Reichsregierung vorangehen wird. Vielleicht ist die Re­gierung durch Gewerbeaufsichtsbeamte zu ihrer Stellungnahme gekommen. Eine diese Frage betreffende Preßäußerung dürfte all­gemeines Interesse erregen. Es heißt darin:" Da der Arbeiter an den Wochentagen fast gar keine freie Zeit hat, so ist für ihn ein voller freier Werktagnachmittag von um so größerem Wert. Schon das Recht, über einen Nachmittag frei verfügen zu können, wird von ihm als eine Besserung seiner ganzen Lage empfunden. Dazu treten die großen sonstigen Vorteile der Durchgangsarbeitszeit. Sie bietet die Möglichkeit längerer geistiger und körperlicher Aus­spannung, ferner der Bewegung im Freien, sei es durch Spazier­gänge oder durch Sport und Spiel. Dem verheirateten Arbeiter gibt sie mehr Zeit für seine Familie und für die Mitwirkung bei der Erziehung der Kinder.... Der Industriellenverband für Heil­ bronn   und Umgebung verschloß sich diesen Interessen der Ar­beiter nicht, er stand vielmehr der Einführung der Durcharbeits­zeit von Anfang an sympathisch gegenüber. Bei der Besprechung der Angelegenheit mit diesem Verband sowie mit einzelnen Fir­men, welche die Durcharbeitszeit einführen wollten, vertrat der Gewerbeinspektor stets die Ansicht, daß für die Samstage die Fest­setzung des Arbeitsschlusses auf spätestens 1 Uhr nachmittags an­zustreben sei, um einerseits einen freien Nachmittag, der voll aus­genützt werden kann, andererseits eine möglichst geringe Abwei­chung von der Essenszeit, an welche die Arbeiter gewöhnt sind, zu erreichen.... In nahezu allen Fällen bedeutet die Einführung der Durcharbeitszeit eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit. In Heilbronn  , Sontheim   und Bödingen haben nunmehr 20 Betriebe mit 4330 Arbeitern die Durcharbeitszeit am Samstag durchgeführt, 4210 dieser Arbeiter schließen am Samstag um 1 Uhr, der kleine Rest spätestens um 2 Uhr. Die Darlegungen des Gewerbeinspektors Fischer werden den Gewerkschaften in ihren Bestrebungen auf einen frühen Samstagsschluß äußerst willkom­men sein." Das sind äußerungen, die wir nach jeder Seite hin unterschreiben und für unsere Bestrebungen ganz vortrefflich ge= brauchen können.

Aber nicht bei uns allein sehen wir eine solche Entwicklung, auch in Holland   hat man bei dem Gesetz der Einführung des Zehn­stundenmagimalarbeitstags für Arbeiterinnen und jugendliche Ar­beiter, das 1913 in Kraft tritt, Bestimmungen für den freien Sonn­abendnachmittag getroffen. In der Übergangsperiode müssen die Unternehmer, wenn sie täglich 102 Stunden arbeiten laffen, den Sonnabendnachmittag freigeben, weil nicht mehr als 58 Arbeits­stunden die Woche herauskommen dürfen. Die verheirateten Frauen haben den freien Sonnabendnachmittag nur, wenn sie es besonders beim Unternehmer beantragen, der dann gesetzlich ver­pflichtet ist, ihn zu gewähren, und die Freigabe nicht ablehnen darf. Die holländische Regierung gibt dadurch zwar den verhei= rateten Frauen das Recht auf den freien Sonnabendnachmittag, macht aber zugleich, wie überall, den Unternehmern Konzessionen, weil die Arbeiterinnen erst besonders den freien Sonnabendnach­mittag beantragen müssen. Wieviel Arbeiterinnen von diesem Recht Gebrauch machen werden, muß abgewartet werden und hängt davon ab, wie die Agitation dafür betrieben wird.

Die Regierung des Deutschen Reiches, das in Sozial­politik und Arbeiterschutz an der Spike aller Staaten stehen will, hat sich selbst zu diesem dürftigen Zugeständnis noch nicht auf­schwingen können, daß die Unternehmer den freien Sonnabend­nachmittag auf Antrag gewähren müssen. Sie verharrt in ihrer abweisenden Haltung troß der ständig steigenden Zahlen weib­licher Erwerbstätiger. Um so mehr haben die Organisatio­nen der Arbeiter Grund, die Forderung der Freigabe des Sonnabendnachmittags recht eindringlich zu erheben. Wir fordern den freien Sonnabendnachmittag für die gesamte Arbeiterschaft unserer Industrie, weil die steigende Intensität der Arbeitsleistung die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Arbeitenden frühzeitig herabsetzt. Wir fordern ihn, weil die Fürsorge für die menschliche Arbeitskraft die Aufgabe aller fo= zialen Einrichtungen überhaupt ist. Wir fordern den freien Sonnabendnachmittag für die Arbeiterinnen, weil diese neben der Erwerbsarbeit die Lasten der Hausarbeit zu bewältigen haben, wodurch die Kräfte der Arbeiterinnen über alle Maßen in Anspruch genommen werden. Im Interesse des Familienlebens der Arbeiterschaft wie im Interesse der allgemeinen Volkswohl= fahrt liegt es, daß durch eine Verkürzung der Arbeitszeit dem früh­zeitigen Kräfteverfall der Arbeiterinnen vorgebeugt werde. Ich unterstreiche den Ausspruch des Genossen Az i monti: Die Ge­sellschaft nimmt nicht wahr oder tut, als ob sie es nicht wahr­nimmt, daß sie im Begriffe ist, die Arbeiterfrau zu vernichten,