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Die Gleichheit

der hilflos hinter den Ereignissen herhumpelt, anstatt sie zu mei­stern, wie das vorgeblich der Beruf der Staatslenker sein soll. Der Kleinste der Zwergkönige des Balkans, Nikita von Monte= negro, hat den Mächten eine derve Nase gedreht. Durch seine mitten in die Verhandlungen und Vorstellungen hineinplatende Kriegserklärung an die Türkei   hat er aller Welt den Wert oder richtiger Unwert der angeblich so festen Einmütigkeit der Mächte aufgedeckt, den Frieden zu erhalten. Freilich wird Nikitas Mut zu diesem Schritt sicherlich durch russische   Versprechungen und Zu­ficherungen gestachelt worden sein. Die anderen Balkanstaaten sind gefolgt, von beiden kriegführenden Seiten wurden die Vermitt lungsaktionen der Mächte einfach beiseite geschoben. Weder Türken noch Balkanslawen und Griechen haben sich durch die Noten der Diplomaten abhalten lassen, den Kampfplatz zu betreten. Der Massenmord rast über die Halbinsel. Alle Furien des Rassen- und Religionskriegs find entfesselt. Denn natürlich haben die Ballan­fönige nicht verfehlt, in ihren bombastischen Kriegsproflamationen den Rassen- und Religionshaß fräftig zu schüren. Es hätte dessen freilich kaum noch bedurft, denn dieser Haß glimmt auf dem Bal­fan beständig unter der Asche, und der leiseste Anstoß genügt, um ihn auflodern zu lassen. Er ist das Ergebnis jahrhundertelanger Knechtung der Balkanvölker durch die Türken, er ist genährt in jahrhundertelangen blutigen Kämpfen, und die beutelustige Bour­geoisie hat ihn nicht einschlafen lassen. Diesen Haß pflegen alle bürgerlichen Parteien. Denn sie stehen alle im Dienste des kapita­ listischen   Ausdehnungsdranges der Bourgeoisie ihrer Nation, ge raten didurch unumgänglicherweise in Gegensatz zu den Bour­geoisien der anderen Nationen, die die gleichen Bestrebungen haben, verstricken sich alle in der chauvinistischen Heze und vermögen die Schranken des Nationalismus nicht zu überschreiten. Das kann nur die Sozialdemokratie, der das Bekenntnis zur Internatio­nalität, zur Völkerverbrüderung mehr ist als ein bunter Flitter­schmuck, den man bei passender Gelegenheit, bei Begrüßung frem­der Gäste, bei national gemischten Festessen und Schauspielen an­legt, um ihn hinterher wieder im Kasten verstauben zu lassen. Für die klassenbewußte Arbeiterschaft, die sich in der sozialdemo­fratischen Partei sammelt, ist die internationale Gesinnung viel­mehr ein unverlierbares Stück ihres Wesens, ein lebendiger Wille, den sie nach Maßgabe ihrer Kraft durchzusehen sich ver­pflichtet fühlt. Ebenso wie ihr auch die Gegnerschaft wider den Krieg, die Forderung nach der Erhaltung des Friedens mehr ist als eine bequeme, schönklingende, aber zu nichts verpflichtende Redensart, gut genug, Festreden und amtliche Aftenstücke damit aufzupußen. Das hat sich jetzt wieder mit aller Deutlichkeit ge= zeigt. Während die bürgerlichen Parteien der beteiligten Staaten dem Kriegsfieber gänzlich verfallen sind, haben die fleinen, noch schwachen sozialdemokratischen Partcien der Bal­tanstaaten tapfer bei ihrem Bekenntnis zur Internationalität, bei ihrem Einspruch gegen den Krieg behaert. Inmitten des Tau­mels des Chauvinismus, der die Halbinsel durchtobt, haben die wenigen Vertreter des klassenbewußten Proletariats in den Par­lamenten Serbiens   und Bulgariens   ihre Stimme mutig gegen den Krieg erhoben. Mit Stockhieben und Revolverschüssen haben in Sofia   verhette Studenten dem Sprecher des bulgarischen Prole­tariats zu beweisen versucht, daß er Unrecht hat. In einem ge= meinsamen Manifest der Sozialisten der Türkei   und der Balkan­staaten ist gegen den Krieg protestiert und das Ziel der Vereini­gung aller Balkanvölker in einem Bunde der Balkanrepubliken dem verheerenden, verrohenden Kriegstreiben entgegengestellt wor­den, das die Balkanvölker schließlich den Gelüsten Rußlands   und Österreichs  , neuer Knechtschaft an Stelle der alten ausliefern wird. Gleichzeitig haben sich auch die sozialdemokratischen Parteien der verschiedenen Völker Österreichs   gegen eine Einmischung Oster­ reich- Ungarns   in den Balkankrieg gewandt. Die Gefahr einer solchen Einmischung liegt nahe. Hat doch die österreichisch- unga­rische Regierung erklärt, daß sie den Gerben und Montenegrinern die Einverleibung des Sandschaks Novibazar nicht gestat­ten werde. Dieses Gebiet, ein verhältnismäßig schmaler türkischer Landstreifen, trennt heute Serbien   und Montenegro, versperrt dem crsteren Staat den Weg zum Meere, zu dem er seines Handels wegen dringend Zugang wünscht, bildet aber zugleich den einzigen Weg, der Osterreich   nach der Türkei   noch offen steht. Und diesen Weg sich von den Balkanstaaten berrammeln zu lassen, ist die Bourgeoisie Österreich  - Ungarns nicht gesonnen, die bei einem Zer­fall der Türkei   Anteil an der Beute haben und die die Entstehung cines ſtarten Staates auf bem Balkan   nicht dulden will. Versucht Österreich   aber die Gerben gewaltsam an der Besehung des Sand­schats Novibazar zu verhindern, so bedeutef das eine gefährliche Verschlimmerung der Lage. Denn dann würde wohl Rußland   gegen

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die Donaumonarchie ins Feld zichen, um diese nicht die Vorhand auf dem Balkan   gewinnen zu lassen. Und ein österreichisch  - russi­scher Krieg bedeutete bei dem jetzigen System der Bündnisse und bei dem scharfen deutsch  - englischen Gegensatz den allgemein euro­päischen Krieg. Deshalb haben unsere österreichischen Genossen in der Tat vor allem Anlaß, ihre Regierung vor der Politik blu­tiger Abenteuer zu warnen und ihr den Friedenswillen des Prole­tariats recht eindringlich vor Augen zu führen. Zumal sich schon allerlei bedenkliche Anzeichen bemerkbar machen, daß in den herr­schenden Kreisen Österreich  - Ungarns die Kriegspolitik starke An­hängerschaft hat. Die Regierung hat auch die gespannte Lage so­gleich benutzt, um sich von den bürgerlichen Parteien in den Dele­gationen den Ausschüssen des österreichischen Reichsrats und des ungarischen Reichstags, die als Parlamente des Gesamtstaates die gemeinschaftlichen Angelegenheiten beider Staaten, vornehm lich die Militärrüstungen zu beraten haben große Summen für Kriegsmaterial, Festungs- und Kriegsschiffsbauten bewilligen zu lassen. Aber das Proletariat der übrigen europäischen   Länder ist ebensowenig vor der Kriegsgefahr sicher, und die Protestfund­gebungen gegen die Kriegspolitik dürfen sich deshalb nicht auf den Osten beschränken. Schon hat der Vorstand der deutschen   Sozial­demokratie die Arbeiterklasse des Reiches zu Massendemonstratio­nen für den Frieden aufgefordert. Am 20. Oktober veranstalteten die Proletarier in ganz Deutschland   wuchtige Kundgebungen gegen den Völkermord. In Preußen, wo der nahe Zusammentritt des Dreiflassenparlamentes das entrechtete Profetariat ohnehin zum Kampfe aufrief, crscholl in diesen Versammlungen zugleich der Ruf nach dem gleichen Wahlrecht.

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Weiterhin aber waren diese gewaltigen Massenaufgebote zornige Kundgebungen gegen die Reichsregierung, die unter dem Drucke der Junker nicht wagt, durchgreifende Maßregeln gegen die Teuerung, vor allem gegen die Fleischnot zu ergreifen; erbit= terte Kundgebungen gegen die Herrschaft der Agrarier, die selbst in der Zeit der furchtbarsten Teuerung auf den Tribut der aus­gebeuteten, darbenden Massen nicht verzichten wollen. Im preußi­schen Landesökonomiefollegium und in ihren Blättern erklären sie ganz offen, das ausländische Gefrierfleisch darf nicht nach Deutsch­ land   herein, weil es den deutschen   Viehzüchtern cine zu starke Kou­kurrenz machen würde. Es fehlt natürlich auch nicht an den heuch­Terischen Beteuerungen, daß der§ 12 des Fleischbeschaugesetzes in Interesse der Volksgesundheit aufrechterhalten werden muß. Aber dazu paßt wenig die Forderung, die von führenden Agrariern im preußischen Landesökonomiekollegium erhoben wurde, daß die Ein.. fuhr von Gefrierfleisch auf alle Fälle zu verhindern sei. Wenn e3 der Gefrierindustrie gelingen sollte, die Vorschriften des§ 12 au erfüllen so daß also alle Bedingungen, die angeblich zur Fern haltung gesundheitsschädlichen Fleisches nötig sind, erfüllt wären so müßten schleunigst andere Bestimmungen getroffen werden, die den deutschen   Viehzüchtern diese Konkurrenz vom Leibe hielten. Das ist die offene Proklamierung der Forderung: den Massen darf nicht geholfen, die Teuerung darf nicht gelindert werden, damit wir Junker und anderen Agrarier weiter hohe Bieh­preise, hohe Gewinne behalten!

Die Fortschrittler haben zu Mannheim   ihren Partei­tag abgehalten. Dieser Parteitag ist in mancher Hinsicht bemer­fenswert. Zeigt er doch deutlich, daß jene angebliche Entschieden. Liberalen trotz ihrer Bereitschaft, zum Zwecke von Mandatsgewinn gelegentlich bei Wahlen mit der Sozialdemokratie ein Geschäft zu machen, unrettbar der Rechtsentwicklung verfallen sind und sich immer mehr den Nationalliberalen nähern. Der Fortschritt hat auf der Mannheimer   Tagung die Forderung nach Ermäßigung der Getreidezölle fallen lassen. Nicht formell, aber tatsächlich. Die letzte bürgerliche Partei, die sich noch gegen den Zollwucher wendete, streckt die Waffen. Die Angst vor der Sozialdemokratie treibt s: dazu, das lehte Hindernis, das der innigen Anlehnung an die Na tionalliberalen noch entgegensteht, aus dem Wege zu räumen; der Umstand, daß die Sozialdemokratie sie immer mehr aus den Städten verdrängt, daß sie ihre Mandate immer mehr auf dem Lande suchen muß, macht die Fortschrittler zu Zugeständnissen an die schutzzöllnerische Gesinnung der Groß- und Mittelbauernschich­ten geneigt. Vor allem aber sind sie, nachdem sie im Bülowblock den Imperialismus geschluckt haben, nicht mehr imstande, die Po­litik der Zölle ernstlich zu bekämpfen, denn die Wucherzölle ge­hören zur imperialistischen Politik. Wer der Überzeugung ist, daß sich das deutsche Volt mit allen Mitteln ein großes Ausbeutungs­gebiet in der Welt durch politische Unterwerfung fremder Länder sichern muß, der kann logischerweise auch gegen die zollpolitische Absperrung dieses Gebiets gegen die ausländische Konkurrenz nichts. Stichhaltiges mehr einwenden. Nicht minder bemerkenswert