50

Die Gleichheit

Gramm Fleisch zu einer gesunden Ernährung; wer in un­serem Heer oder in unserer Marine dient, soll laut Vorschrift täglich 355 Gramm erhalten. Im niederschlesischen Berg­revier verzehrt ein Hauer mit Frau und vier Kindern wö­chentlich für 1,80 mt. Fleisch, ein anderer mit sieben Kindern für 2,40 Mf.; in zwei Hauerfamilien mit 6 und 7 Kindern fam an den Werktagen je für 20 f. Fleisch auf den Tisch, Sonntags aber ein unerhörter Lurus- für 50 Pf. Pferde­fleisch.

-

-

Der preußische Landwirtschaftsminister hat recht: im Ar­beiterhaushalt gibt es Fleisch, Fleisch und immer wieder Fleisch". Wenn es dort an manchen fehlt, so darf man den Grund dafür bewahre nicht in dem wöchentlichen Wirtschafts­geld von 9,50 Mt. bis 15,53 Mt. suchen und in den Teue­rungspreisen. Schuld daran ist die schlechte Hausmutter. Welche nahrhaften und wohlschmeckenden Gerichte könnte sie ihrer acht- und neunköpfigen Tischgesellschaft für 20 Pf. auf­tragen, wenn sie sich nur auf die Gemüse- und Kartoffelzu­bereitung verstände. Herr v. Schorlemer hat in einer späteren Rede dem deutschen Volke seine ganz persönliche Schwärmerei für fleischlose Rost verraten. Er wird sich deshalb kann bei den niederschlesischen Bergarbeitern zu Gaste bitten, die über­flüssigerweise täglich Fleisch schlampampen. Vielleicht aber setzt er sich werktags einmal an den Tisch einer Arbeiter­witwe dicht vor den Toren Berlins , die für das Mittagsmall von vier erwachsenen Personen sie hat drei Tertilarbeite­rinnen in Rost im Durchschnitt 90 Pf. aufwenden darf. Der Sonntagsbraten, meist für 75 Pf. Schweinefleisch, muß mindestens durch einen folgenden Fasttag abgebüßt werden, aber ohne Fisch und Geflügel wie in manchen katholischen Pfarr­häusern. Die Adresse der Witwe steht gern zur Verfügung. Herrn v. Schorlemers beschränkt- dreiste Äußerung wäre politisch bedeutungslos, wenn die vom Hunger gegeißelten Massen sie bloß auf die Schuldseite seiner Person zu buchen hätten. Sie könnten sich dann damit begnügen, diefem Mil­lionär das Wort seines Lippenbekenntnisses zuzurufen: ,, Wenn jemand dieser Welt Güter hat und siehet seinen Bru­der darben und schließet sein Herz vor ihm zu, wie bleibet die Liebe Gottes bei ihm?" Jedoch nicht der Privatmann Schorlemer hat im preußischen Abgeordnetenhaus das blutige Leiden der Massen verhöhnt. Das hat der preußische Minister getan. Minister heißt deutsch Diener, nomen est omen: der Name ist Schicksal! Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: daß in Preußen die Minister nichts als Diener find, Diener des Fürsten , der sie ernennt, Diener der herrschenden Klassen, die sie dulden, sofern die Herren ihre guten politischen Ge­schäftsführer sind, nicht aber Diener des Volkes, das sie be­zahlt. Als Mundstück und Diener der Agrarier und Groß­kapitalisten, die sich zum Aushungerungspakt gegen die Aus­gebeuteten und Kleinen vereinigt haben, hat der Landwirt­schaftsminister zur Not des Volkes den blutigen Hohn hinzu gefügt: Die Arbeiter können kein Fleisch bezahlen, sie sollen Gemüse und Kartoffeln essen!" Das empörende Wort kündet die Gefühlsroheit ganzer Klassen, die unbeschadet des Wohltätigkeitsfinns und Wohltätigkeitssportes einzelner ihrer Glieder statt des Herzens ein Portemonnaie haben. Mit welchen Augen müssen die Ausbeutenden die durch die Straßen huschende Not sehen, mit welchen Ohren den Schrei der Plage von Millionen hören, daß ihr Minister also reden mußte!

-

Die Geschichte hat einen Ausspruch aufbewahrt, der in ähnlicher Situation geprägt wurde, eleganter und schärfer in der Form, nicht weniger brutal in der Sache.. Im feudalen Frankreich war es, zur Zeit, als das vorwärtsdrängende Bürgertum bereits an den Festungstoren der absoluten Mon­archie zu rütteln begann und die Verschwendungstollheit des Hofes und Adels im Bunde mit Stenerpächtern, Groß­handelsforporationen und Auffäufern Hungersnot über Hungersnot für das Volk heraufbeschwor. Der Notschrei der Pariser, die sich durch Hungerkrawalle gegen Verderben und Sterben wehrten, beantwortete Marie Antoinette , Lud. wigs XVI. Gemahlin, einer Kaiserin Tochter, frivol- herzlos

#

Nr. 4

mit dem Worte: Die Pariser haben kein Brot? Mögen sie doch Kuchen essen!" Nicht lange darauf brachte das furchtbar­prächtige Gewitter der großen Revolution den zynischen Spott der Königin und des adligen Geschmeißes zum Schweigen.

-

Es fállt uns gewiß nicht ein, aus der Wesensverwandt­schaft der beiden Aussprüche heraus dem preußischen Land­wirtschaftsminister das Geschick Marie- Antoinettes zu prophe­zeihen. Mag sich Herr Schorlemer zurzeit in seiner Würde noch so blähen, von der Gunst seines Herrn, der Zufrieden­heit der besitzenden Klassen und höfischen Cliquen getragen. Wir wissen, was Ministerherrlichkeit in Preußen wert ist, wissen, wie sie in jener Atmosphäre der Rosenkranz und Güldenstern gedeiht, in der die nämliche Wolfe nach fürstlicher Laune bald als Kamel, bald als Wiesel angesprochen wird. über Nacht kann Herr v. Schorlemer zu den Geweſenen" ge­hören. Außerdem pflegen in unseren Zeiten preußische Mi­nister von so zwerghaftem Wuchse zu sein, daß wir- auch ohne unsere deutsche und weibliche Gutmütigkeit ihrem Los nicht einmal die Grimasse der Tragik gönnen möchten. Allein die herausfordernde Verhöhnung des Volkshungers ist heute, was sie damals gewesen: ein weithin leuchtendes Signal, welches den ausgebeuteten Massen kündet, daß zwi­schen ihnen und ihren Ausbeutern und Herren jedes Band der Gemeinsamkeit zerrissen ist, und daß der Kampf für billiges Brot und Fleisch aufs Ganze" gehen muß. Das Ganze ist aber zunächst die Eroberung des demokratischen Wahlrechts in Preußen- dafern der Balkankrieg sich nicht zum Weltkrieg auswächst und damit gewaltigere ,. tiefer­furchende Ereignisse beschleunigt werden, die die reife kapita­listische Ordnung in ihrem Schoße trägt. Hinter den Wällen des Dreiklassenhauses durfte ein Vertreter der Regierung der Not des Volkes spotten, ohne daß ihn ein Sturm der Ent­rüstung von der Rednertribüne fegte. Hier. konnte Herr v. Bethmann Hollweg seine geistreiche Theorie von der nicht anzutastenden nationalen Heiligkeit der deutschen Schweine­wirtschaft verfechten, ohne daß er auch nur in den Reihen der Volksparteiler ernstlichen Widerspruch gefunden hätte. Und hier gilt es, die Macht der politischen Zöllner und Wucherer zu brechen, die das Reich und den Reichstag beherrschen. Die großen Viehzüchter und Viehhändler mögen dem preußischen Landwirtschaftsminister für die gewissenhafte Verteidigung ihres Ertraprofits den Wegweiser zum häuslichen Glück" in Prachteinband mit Goldschnitt widmen, auf daß die perfekte Köchin oder der echte französische Koch des Hauses nach diesen berühmten Rezepten für 20 Pf. an den drei Tagen focht, wo Herr v. Schorlemer kein Fleisch genießt. In jeder Werkstatt, drin es pocht, in jeder Hütte, drin es ächst," wird aber dent Bewußtsein Ausgebeuteter und Darbender das Wort einge­brannt bleiben: Die Arbeiter verlangen billiges Fleisch, sie sollen Gemüse und Kartoffeln essen! Es muß ihner eine nie verstummende Mahnung zum Kampfe sein, der die feſteſte Bastille des Kapitalismus in Deutschland schleift und auf ihren Trümmern die freudig- stolze Inschrift prangen läßt: ,, Hier tanzt das Volk!"

"

Lebensmittelteuerung und Unterernährung.

Bon L. Haase- Frisch.

( Schluß.)

Denn fragen wir nach dem Warum, daß die Arbeiterfami­lien so viel weniger Fleisch verzehren als die Mannschaften der Armee und Marine, so treten uns als Antwort die nie­drigen Löhne der arbeitenden Massen entgegen. Sie fahren mit harter Fauft dazwischen und reißen den Wertschaffenden den teuren Bissen Fleisch vom Munde weg. Wollte die Ar­beiterfrau auch nur annähernd so viel Fleisch auf den Tisch bringen, wie ihr Sohn in der Kaserne erhalten soll, so müßte fie- wenn man den Preis des Fleisches im August 1912 zu­grunde legt mindestens 450 Mt. im Jahre dafür aufwen­den. Dabei sind nur 2 volle Soldatenportionen gerechnet wor­den, die sich in der Regel gar nicht auf Mann und Frau allein verteilen würden, sondern auch noch auf mehrere Kin­