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Die Gleichheit

der. Wir möchten die Hausmütter sehen, die eine solche Aus­gabe nur für Fleisch in ihren Wirtschaftsplan einstellen kön­nen! Vergessen wir nicht, daß in Preußen 89 Prozent der Steuerpflichtigen ein Jahreseinkommen unter 3000 Mr. haben, und daß sehr viele Arbeiter, Familienväter, nicht mehr als 25 Mk. Wochenverdienst nach Hause tragen, was einer Jahreseinnahme von 1300 Mt. gleichkommt. So ist die fleischarme, ja fleischlose Kost großer Schichten des deutschen Volkes erklärlich. Dieses Defizit in der Ernährung bedeutet aber ein Defizit an Gesundheit, an Lebenskraft. Die gegen­wärtige Fleischteuerung muß die Unterernährung der Werk­tätigen aufs gesundheitswidrigste verschärfen.

Waschecht bürgerliche Weisheit meint vielleicht: Ja, müs­sen denn die Leute mit dem kleinen Portemonnaie gerade. Fleisch essen, um fräftig zu bleiben? Auch Pflanzennahrung enthält die Eiweißstoffe, deren der Körper bedarf. Wer nicht vorsichtig in der Wahl seiner Eltern war, so daß ihm jetzt das Fleisch zu teuer ist, der mag sich an pflanzlicher Kost satt essen. Leben nicht ganze große Völker vegetarisch? Auf diese billige Neunmalflugheit ist verschiedenes zu erwidern. Zu nächst und im allgemeinen, daß hochangesehene Männer der Wissenschaft der überzeugung sind, daß die städtische und in­dustrielle Bevölkerung der sogenannten Kulturstaaten unter den heutigen Lebensverhältnissen entschieden Fleischfost haben müsse, um sich voll leistungsfähig zu erhalten. Der Stampf ums Dasein mit seinen Sorgen und Mühen zehrt in hohem Maße Nerven- und Muskelkraft auf. Eine gemischte Kost mit genfigend Fleisch dabei muß Ersatz für die Aus­gaben des Organismus schaffen. Die Arbeits- und Lebens­bedingungen sind der guten Verdauung, der vollständigen Ausnutung einer pflanzlichen Kost nicht günstig. Auch Man­nigfaltigkeit und Abwechslung der Gerichte fördern Appetit und Verdanung.

Doch lassen wir das alles beiseite, so bleibt eine andere Tat­sache, die sich groß und breit dem Kampf gegen die Unter­ernährung in den Weg stellt. Nicht bloß für Fleisch, auch für alle anderen Lebensmittel müssen heute Teuerungspreise be­zahlt werden. Die Butter steht so hoch im Preise, daß auch sie nur noch als Leckerei auf den Tisch vieler Familien kommt. Wir haben in den letzten Monaten in vielen Städten Nieder­ schlesiens Butterrevolten der Hausfrauen erlebt, so daß die skrupellosen Preistreibereien sich hinter den Schutzmanns­säbel flüchten mußten. Auch die Margarine und die übrigen Ersatzmittel für Butter sind im Preise gestiegen. Der Hering ist teurer geworden, weil die Ausbeute des Fanges an manchen Küsten geringer als sonst war. Kartoffeln und trockene Gemüse stehen hoch im Preise, grüne Gemüse und Obst werden mit dem Winter nicht billiger. Roggen und Weizen haben in Deutschland höhere Preise als in allen an­deren Ländern, das Brot wie alle Nahrungsmittel aus Mehl sind hier entsprechend teurer. Der Preis für das Liter Milch ist in wenigen Jahren von 16 auf 22 Pf. gestiegen, in manchen Städten steht er noch höher. Auch der übrige Lebensbedarf ist mit Wucherpreisen belastet. Wir sehen von den schier un­erschwinglichen Wohnungsmieten ab und erinnern nur an das Anziehen der Preise für Kohlen, Koks, Briketts. Die fis­kalischen Gruben in Schlesien haben die Kohlenpreise pro Tonne um 50 Pf. erhöht, das Kohlensyndikat der rheinisch­westfälischen Zechenherren beschloß eine Preissteigerung, die pro Tonne für Kohle und Ktofs 25 Pf. bis 1 Mt. betragen soll, für Briketts 50 bis 75 Pf. Seit 1896 bis 1912 sind die wöchentlichen Haushaltungskosten für eine vierköpfige Fa­milie im Reichsdurchschnitt von 18,99 auf 25,98 Mt. gestiegen, das ist um 36,8 Prozent, also um mehr als ein Drittel. In vielen Gegenden Deutschlands erhebt sich die Verteuerung des Lebensbedarfes über diesen Durchschnitt. So in Berlin und Umgegend mit 37 Prozent, in Hannover mit 38 Prozent, in Bosen mit 40,3 Prozent, in Hamburg mit 41,7 Prozent, in Oldenburg gar mit 48,6 Prozent.

Es dürfte kaum eine Kategorie von Arbeitern, Angestell­ten, Beamten in öffentlichem oder privatem Dienst geben

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die höheren Würdenträger ausgenommen, deren Lohn oder Gehalt in dem gleichen Verhältnis zu den Kosten der Lebenshaltung gestiegen wäre. Dafür sprechen die weiter oben angeführten Einkommensverhältnisse wie die Berichte der Berufsgenossenschaften. Greifen wir davon den für die Textilindustrie heraus. Danach hat sich 1911 der durchschnitt­liche Jahreslohn der Arbeiterschaft um ganze 7,51 Mk. erhöht und betrug 927,08 Mt. Seit 1886 ist er um 159,69 k. ge­stiegen, das ist um 20 Prozent, während sich seit jenem Jahre die Kosten des Lebensbedarfes mindestens um 35 Prozent verteuert haben. Kann jemand Aug' in Auge mit diesem Sachverhalt leugnen, daß Unterernährung und dauernde Ge­sundheitsschädigung das Los von Millionen ist?

Der beschränkte Raum verbietet uns, mit Ziffern die un­bestreitbare Tatsache im allgemeinen zu belegen, daß Teue­rungspreise der Lebensmittel Hand in Hand gehen mit dem überhandnehmen von Kränklichkeit, Siechtum, der Ausbrei­tung von Seuchen, dem Anschwellen der Sterblichkeit. Ein Wort sagt genug dazu: Hungertyphus! Dagegen wollen wir diese Wirkung der Unterernährung etwas näher beleuchten, soweit sie im besonderen das Teuerste der Mütter berührt, die hilflosesten und fürsorgebedürftigsten aller Gesellschafts­glieder trifft: die Kinder. In dem 1911 veröffentlichten Generalbericht der bayerischen Sanitätsverwaltung" sind Zeugnisse über Zeugnisse dafür gehäuft, daß Säuglinge und ältere Kinder lebenslänglichem Siechtum, ja dem Tode ver­fallen, weil sie nicht genügend mit guter Milch ernährt wur­den. Nach dem Oberamtsarzt in Neumarkt ,, bewirkt die fast vollständige Ausschaltung der Vollmilch eine Unterernährung der ohnedies schwächlichen Kinder und bei deren Verwen­dung zu harten Arbeiten Zunahme von Wirbelsäulenver­frümmung, auch schwereren Formen von Kyphose( Verbucke­lung) und Skoliose( Verkrümmung der Wirbelsäule nach der Seite)". Der Bericht von Mindelheim besagt: Mit Zu­nahme der Dampfmolkereien und Käsereien verschwindet bei den Kleinsöldnern( Tagelöhnern, die etwas Grund und Bo­den besitzen) auch der letzte Tropfen Milch, ohne Rücksicht auf den Bedarf der heranwachsenden Jugend, die Säuglinge und die Armen, für welche die Mischmilch aus den Molkereien um 15 Pf. pro Liter zurückgekauft werden muß, außerdem er­halten die Säuglinge Mehlbrei, die übrigen Kinder statt Milch Wassersuppen, sogenannten Kaffee oder Brei. Der Milchmangel verschlechtert die Säuglingsernährung, begin­stigt im zweiten bis fünften Jahre Rhachitis, bei den Heran­wachsenden Zurückbleiben des Knochenwachstums, bei den Älteren Nachlassen der Widerstandskraft gegen Schädlich­feiten." Für die furchtbare Wirkung auf das heranwachsende Geschlecht ist es natürlich ganz gleichgültig, ob den Kindern die Milch entzogen wird, weil die ärmere bäuerliche Bevölfe­rung jeden Liter davon in die Molkerei tragen muß, oder weil die Mutter in der Stadt, im Industriebezirk die hohen Milch­preise nicht mehr erschwingen kann. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, daß in einer oberschlesischen Industriegegend Mütter ihren Kindern heißes Wasser mit Alkohol vermischt als Morgengetränk reichten, weil das billiger ist". Hier, wo Unwissenheit und Armut die Kleinen vergiftet, gedeihen die reichsten und frömmsten Zentrumsmagnaten.

Die Folgen der Unterernährung grinsen uns überall aus den Berichten der Schulärzte entgegen. In Rummelsburg , um ein Beispiel von vielen wiederzugeben, wurden bei Be­ginn des Schuljahres 1909/10 ärztlich 605 Schulanfänger untersucht. Davon wiesen nur 26 eine gute Konstitution auf, 69 hingegen eine schlechte und 510 eine mittlere. Die Gleich­heit" hat erst kürzlich die erschütternden Zahlen veröffent­licht, die der letzte Bericht des Stuttgarter Schularztes über den Gesundheitsstand der dortigen Volksschüler enthält. Dazu vergegenwärtige man sich die hohen Prozentsäße der Säug­lingssterblichkeit in Stadt und Land, die vielen Tausende

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* Vergleiche zu dieser Frage den Artikel von B. Selinger: ,, Wachsende Schuld", Nr. 16 der Gleichheit" vom 8. Mai 1911.