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Die Gleichheit
leiner, die im zweiten und in den ersten fünf Lebensjahren sterben. Der Tod holt keineswegs nur Schwächliche und Zurückgebliebene, er rafft schließlich auch die von Natur Kräftigsten und Lebensfähigsten dahin, wenn sie lange die nötige Nahrung entbehren müssen. Die Unterernährung der proletarischen Jugend wird auch durch diese Tatsache bescheinigt: Wiederholt ist in verschiedenen Städten und Ländern einwandfrei festgestellt worden, daß die Volksschüler an Größe und Gewicht hinter den gleichaltrigen Zöglingen der BilSungsanstalten für die Besitzenden zurückstehen.
Das Sattessen ist eine der wichtigsten Vorbedingungen dasür, daß die schwächlichen und kränklichen Kinder tuberkulöser Familien gesunden und erstarken. In dem letzten Bericht der Lungenfürsorgestelle in Essen lesen wir darüber was folgt:„ Besonderes Augenmerk haben wir auf die Kinder gerichtet, die zu Ostern aus der Schule entlassen werden, um diese durch mehrwöchigen Aufenthalt in einem Bade widerstandsfähiger zu machen für ihren kommenden Beruf. Wir haben sodann die Erfahrung gemacht, daß mangelnde Ernährung in außerordentlich vielen Fällen einen Hauptgrund der Erkrankung bildet, indem auf die Ernährung des Mannes in der Familie der Hauptwert gelegt wird, während besonders den Kindern eine ganz unzureichende Nahrung geboten wird. Wir haben die Stadtverwaltung hierauf besonders aufmerksam gemacht und vorgeschlagen, daß hier dadurch viel Gutes getan werden könnte, wenn auf einen Aufruf in den Lokalzeitungen sich Familien meldeten, die bereit sind, solche unterernährte Kinder von dem überfluß ihres Mittagstisches zu beköstigen." Für die bürgerliche Gesellschaft recht bezeichnend ist es, wie hier der Unterernährung der Kinder gesteuert werden soll. Durch den Bettel, mittelst der Brosamen, die von der Reichen Tische fallen. Und das unter dem Zepter der wohltätigen", fürsorgenden Millionenfirma Krupp , vor den Toren der Villa Hügel , in der Frau Berta v. Krupps versteuertes Einkommen von 1908 bis 1911 von 187 auf 290 Millionen Mark angewachsen war. Müssen da nicht die Steine reden, wenn die Menschen schweigen?
Der aufgezeigte Zusammenhang zwischen Unterernährung. und Lebensmittelteuerung muß den Frauen des Volkes die Frage nach den Ursachen der Wucherpreise von Brot und Fleisch auf die Lippen legen. Eine dieser Ursachen tritt klar vor die Augen. Es ist die Zoll- und Steuerpolitik des Deutschen Reiches, die vom Ochsen bis zum Zündhölzchen alles künstlich verteuert, was dem Lebensbedarf dient, was auch der Dürftigste nicht entbehren kann, wenn er essen und sich kleiden will. Sie ist der umgekehrte heilige Crispin, der den Reichen Leder stahl, um den Armen umsonst Schuhe daraus zu machen. Sie raubt den Armen, um die Reichen mit Gold zu überschütten. Was insbesondere die Fleischteuerung anbelangt, so kommt zu der verteuernden Wirkung der Wucherzölle auf Vieh und Fleisch von 1902 noch die des Fleischbeschaugesezes von 1910 und des Viehsenchengesetzes von 1909. Beide Geseze sperren zu Nuk und Frommen der großen Biehzüchter die deutsche Grenze gegen die Einfuhr billigen Schlachtviehs, wohlfeilen Fleisches, speziell des gekühlten und gefrorenen Fleisches aus Argentinien und Australien . In Verbindung mit den Zöllen auf Futtergerste und Mais haben diese drei gesetzlichen Maßregeln unendlich mehr dazu beigetragen, daß das Fleisch mit Hungersnotpreisen bezahlt werden muß, als die Dürre des vorigen Sommers. Wer billiges Fleisch und Brot will, der muß daher mit der Sozialdemofratie zusammen für die Forderungen kämpfen, die der Parteitag zu Chemnitz neulich aufgestellt hat.
Aber freilich würde heutzutage nicht einmal der volle Triumph dieser Forderungen über diese volksfeindliche Wirtschaftspolitik des Deutschen Reiches dent Darben der Massen ein Ende bereiten. Die Verteuerung der Lebensmittel ist eine internationale Erscheinung, die aus dem Wesen der kapitalistischen Ordnung selbst hervorwächst.* In ihr liegt sowohl das schmale * Vergleiche dazu die Artikelserie von Käte Duncker :„ Die Teuerung", Nr. 4 vom 15. November 1911 und ff.
Nr. 4
Einkommen für fleißiges, schweres Mühen fest verankert, wie der hohe, steigende Preis aller Dinge, die des Leibes Nahrung und Notdurft dienen. Daher diese aufreizende Tatsache: die Massen entbehren, Unterernährung bedroht ihre Gesundheit und ihr Leben in einer Gesellschaft, die im überfluß erzeugt oder wenigstens erzeugen kann, was den Menschen nährt, Gesundheit und Kraft verleiht; in einer Zeit, wo märchenhafter Reichtum sich in den Straßen, hinter den Ladenfenstern, in den prächtigen Wohnungen der Ausbeutenden spreizt. Lebensmittelteuerung und Unterernährung zeigen so über den Kampf gegen die wucherische Politik des Klassenstaates hinaus ein höheres Ziel: den Kampf gegen die ausbeutende, kapitalistische Klassengesellschaft. Nur die überwindung dieser Gesellschaft, nur die Verwandlung der Produktionsmittel aus Privateigentum in Gemeinbesitz kann wirklich dem Hunger der Massen steuern. Für dieses Ziel müssen die Frauen des Volkes allen voran ihre ganze Straft einsetzen.
I.
Im Jahre
männliche Kinder unter 14 Jahren:
weibliche
1911
1910
3652 3398
1907
1682
77
Kinder von 14 bis 16 Jahren:
1911
53933
.
17415
1910.
50587
16469
Personen über 16 Jahre:
1911
517283
145332
•
1910
493052
139032
1911 1910
Arbeiter insgesamt:
574868 547037
164654
157183
Auch in Bayern wächst das Heer der industriellen Arbeiterinnen immer mehr an. Als aber der Reichstag endlich dazu fam, vom 1. Januar 1910 ab die Arbeitszeit der Arbeiterinnen in den Betrieben mit 10 und mehr beschäftigten Personen auf höchstens 10 Stunden täglich zu beschränken, da jammerten die Gegner des gesetzlichen Arbeiterschutzes: das kann unsere Industrie" nicht vertragen; durch solche Beschränfung wird es unmöglich, Arbeiterinnen in jenen Betrieben 311 beschäftigen. Dies Gerede hat sich als ganz grundlos herausgestellt, wie es die Sozialdemokraten vorausgesagt haben. Das bestätigen auch die Gewerbeaufsichtsbeamten in Bayern in ihren Berichten über das Jahr 1911. Allerdings lesen wir in dem Bericht aus Nürnberg - Fürth . daß sich ein Waschanstaltsbefizer angeblich wegen der Beschränfung der Arbeitszeit veranlaßt sah, den Betrieb zu veräußern. Das ist aber ganz und gar kein Unglück. Ein Unternehmer, der seinen Betrieb nur unter der rücksichtslosesten Ausbeutung der Arbeiterinnen weiterführen kann, tut am besten, wenn er sich von dem Schauplatz seiner bisherigen Tätigkeit zurückzieht.
Im allgemeinen trifft das zu, was der Berichterstatter über Pfalz - Süd hervorhebt: Die im Vorjahr in Kraft getretene Verkürzung der Arbeitszeit hat sich verhältnismäßig rasch eingelebt. Ja, es kann sogar darüber kein Zweifel mehr bestehen, daß auch die zehnstündige Arbeitszeit zu lang ist. Im Bericht aus München heißt es:
,, Nur in 120 der besichtigten 418 Betriebe wurde regelmäßig täglich 10 Stunden gearbeitet. Es waren die Betriebe des Befleidungs- und Reinigungsgewerbes sowie jene Industrien, die bisher die elfstündige Arbeitszeit in Anspruch nahmen. Die Mehrzahl der besichtigten Betriebe famt mit neunstündiger Arbeitszeit aus."